Hrsg. für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Franziska Schröter
Die distanzierte Mitte
Rechtsextreme und demokratiegefährdende Einstellungen in
Deutschland 2022/23
Von Klaus Ludwig Helf, November 2023
Seit 2006 werden die Mitte-Studien von der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) beauftragt und herausgegeben. Es sind empirische Erhebungen zu rechtsextremen Einstellungen in der deutschen Gesellschaft, die im Zwei-Jahres-Rhythmus erscheinen. Zwischen 2006 und 2012 wurden sie in Zusammenarbeit mit einer Arbeitsgruppe an der Universität Leipzig (Elmar Brähler, Oliver Decker und Johannes Kiess), seit 2014 mit dem Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) der Universität Bielefeld unter Leitung von Andreas Zick durchgeführt. Jetzt erschien die neueste Auflage mit dem Titel 'Die distanzierte Mitte'. Nach dem Vorwort der Herausgeberin Franziska Schröter von der FES folgen dreizehn Kapitel und ein Anhang mit Glossar, Literaturverzeichnis und Kurzbiografien der Autorinnen und Autoren.
Die aktuellen multiplen krisenhaften Erscheinungen in der Gesellschaft haben ihren prägenden Niederschlag auch in den hier abgedruckten Untersuchungsergebnissen gefunden. Mit der vorliegenden Mitte-Studie möchte die FES über die Analysen hinaus Impulse geben zu Debatten für Zukunftswege und für kapitalismuskritische, "aufsuchende politische Bildung", für Demokratisierung von Strukturen in Arbeit, Bildung und Ehrenamt. Seit ca. 20 Jahren untersuchen die Mitte-Studien auf empirischem Wege vor allem rechtsextreme Einstellungen in der deutschen Bevölkerung, um das Eindringen und Reaktivieren von rechtsextremen Einstellungen in der Mitte der Gesellschaft herauszufinden.
Andreas Zick, der Leiter der Studie, weist darauf hin, dass, wenn "Menschen in der Mitte", die sich selbst vielleicht gar nicht als rechtsextrem wahrnehmen oder organisieren, Einstellungen vom rechtsextremen Rand der Gesellschaft adaptieren, sei die Demokratie in Gefahr. Die Mitte-Studien seien Teil einer "Mahnungs- und Erinnerungskultur" und es gehe darum, die "Sollbruchstellen der Demokratie" zu ermitteln vor allem bei der "politischen Mitte der Gesellschaft", die sich aus der Zivilgesellschaft, aus bürgerlichen Milieus und aus alternativen, vielfältigen, sozialen und kulturellen Gruppen konstituiere, für die insgesamt demokratische Normen orientierungsgebend seien. Der deutsche Nationalsozialismus sei ein Faschismus gewesen, der in der Mitte entstanden sei und von der Mitte getragen wurde: "In der Mitte entwickelte sich eine 'braune Linie', die bis heute existiert ... Die Mitte gebiert Rechtsextreme, sie ist die Adressatin ihrer Propaganda und zentral für ihre Unterstützung. Wenn sie rechtsextreme Einstellung teilt, dann steigt deren vermeintliche Legitimität. Dann können es sich Rechtsextreme wie Rechtspopulist:innen auf ein Unterstützungsgeld beziehen ... Und gerade in Krisenzeiten versucht die organisierte Rechte, die Mitte zu besetzen und sich an die Spitze von Protesten gegen 'das System', gegen 'Zuwanderung' und 'für das deutsche Volk' zu stellen" (S. 27).
Der Fokus der Untersuchung richtet sich vor allem auf den ideologischen Kontext (antidemokratische wie rechtsextreme und menschenfeindliche Ideologie), den Krisenkontext (Inflation, Inflation, Energie- und Klimakrise, und den Lebenskontext (Anspruchsdenken, Einsamkeit, Feindseligkeit und Populismus).
Neu bei der vorliegenden Mitte-Studie ist die Erweiterung um zusätzliche Essays, die sich speziell mit den Themen Rassismus in der Verwaltung, Kinderarmut und Alltag im Sportverein beschäftigen. Ihre Analysen und Ergebnisse basieren auf der Grundlage einer repräsentativen Erhebung (2.027 Personen) vom 2. Januar bis 28. Februar 2023. Diese zeigen u.a. folgende Ergebnisse: Teile der Mitte der Gesellschaft distanzieren sich von der Demokratie oder haben das Vertrauen in funktionierende Institutionen verloren. Populismus und antidemokratische und völkische Positionen sind auf dem Vormarsch. Mehr als sechs Prozent befürworten eine Diktatur mit einer einzigen starken Partei und einem Führer für Deutschland, 16 Prozent sind negativ gegenüber "Ausländern" eingestellt, ein Drittel der Befragten meint, Geflüchtete kämen nur nach Deutschland, um das Sozialsystem auszunutzen. Das Vertrauen in die Institutionen und das Funktionieren der Demokratie sank auf unter 60 Prozent. Mit 38 Prozent vertritt ein erheblicher Teil der Befragten verschwörungsgläubige Positionen. Populistische und völkisch-autoritär-rebellische Positionen sind ebenfalls verbreitet (33 bzw. 29 Prozent). Jeder zwölfte Erwachsene hat ein rechtsextremes Weltbild: Acht Prozent gegenüber zwei bis drei Prozent in den Vorjahren. Hinzu kämen 20 Prozent der Bevölkerung, die "einem Graubereich" zuzuordnen seien, die also kein geschlossen rechtsextremes Weltbild haben, die aber auch nicht eindeutig demokratisch orientiert sind. Antisemitische Einstellungen haben im Vergleich zu den Vorjahren stark zugenommen: 5,7 Prozent der Befragten - mehr als doppelt so viel wie 2021, 15,3 Prozent befinden sich in einem Graubereich. Rassistischen Einstellungen stimmten 16,2 Prozent zu, 30,3 Prozent im Graubereich.
Es können hier nicht alle Daten referiert und reflektiert werden, aber bereits dieser kleine Ausschnitt aus der Mitte-Studie untermauert empirisch valide die eher alltagsimpressionistisch eingefangenen Beobachtungen seit der Corona-Pandemie und der nachfolgenden krisenhaften Zuspitzungen (u.a. Ukraine-Krieg, Migration und Asyl, Inflation, soziale Schieflagen, Klima- und Energieprobleme, Rassismus, Shit-Storms im Netz). Die Ergebnisse der Mitte-Studie ergeben auch im Zusammenhang mit anderen Studien wie z.B. der Leipziger Autoritarismusstudie (2022), dass die demokratische Mitte brüchig geworden ist und dass es höchste Zeit ist, gegenzusteuern. Das politische Klima in Deutschland hat sich stark nach rechts gedreht. Martin Schulz, Vorsitzender der FES, kommentiert treffend und folgerichtig: "Diese Ergebnisse sind nicht nur erschreckend, sondern gebieten konsequentes Handeln - von der Politik, aber auch aus der Gesellschaft selbst". Die Menschen verlangten zu Recht nach einem starken, handlungsfähigen und funktionierenden Staat. Aber auch die demokratische Mitte selbst sei gefordert, sich klar von menschenfeindlichen Einstellungen zu distanzieren. Der vorliegende Band und seine Ergebnisse sind eine unabdingbare Grundlage für die Reflektion politischer Planung und Praxis und soll alle Demokraten im Lande zu raschem Reagieren aufrütteln.
Hrsg. für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Franziska Schröter
Die distanzierte Mitte
Rechtsextreme und demokratiegefährdende Einstellungen in Deutschland
2022/23
Verlag J. H. W. Dietz Nachf. Bonn 2023
Broschur
424 Seiten
17,00 EUR
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Quelle:
© 2023 by Klaus Ludwig Helf
Mit freundlicher Genehmigung des Autors
veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 10. November 2023
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