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BERICHT/001: Ein Leben für die Freiheit in Südafrika (SB)


"Der Auftrag - Ein Leben für die Freiheit in Südafrika"

Lesung mit Denis Goldberg am 25. Mai 2010 in Hamburg


Südafrika. Apartheid. Diese beiden Begriffe sind, miteinander in Verbindung gebracht, heute bereits Geschichte, wurde doch das südafrikanische Apartheidsregime nach einer vierjährigen Übergangszeit 1994 durch die ersten freien Wahlen, aus denen Nelson Mandela als erster schwarzer Präsident des Landes hervorging, endgültig beendet. An die Geschichte der Apartheid und mehr noch den namentlich durch den Afrikanischen Nationalkongreß (ANC) geführten Antiapartheidskampf zu erinnern, stellt eine Aufgabe dar, die zunehmend an Bedeutung gewinnt, weil nachfolgende Generationen im In- und Ausland diese Zeit nicht mehr selbst miterlebt haben können. Da jedoch ohne solche Kenntnisse und mehr noch ein tiefes Verständnis und Empfinden für das, was geschehen ist, die heutige Realität Südafrikas kaum verstanden und somit die aus diesen historischen Wurzeln erwachsenen Probleme und Konflikte schwerlich gelöst und in Angriff genommen werden können, ist es freiheitsliebenden Menschen eine selbstgestellte Pflicht, die Fahne der Antiapartheidsbewegung wider das Vergessen hochzuhalten.

Der 1933 in Kapstadt geborene Denis Goldberg, der zu den engsten Kampfgefährten Nelson Mandelas gehört und mit diesem und anderen im Rivoniaprozeß von 1963/64 zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, ist sicherlich einer der ANC-Veteranen, die ihre Energie diesem Anliegen noch heute widmen. Goldberg hat seit seiner Freilassung im Jahre 1985 durch seine politische Arbeit im Londoner Exil, zahllose Vortragsreisen und sonstige Aktivitäten in westeuropäischen Ländern, so auch häufig in der Bundesrepublik Deutschland, zunächst den Befreiungskampf und nach 1994 den Aufbau eines neuen Südafrikas voranzutreiben gesucht. Mit dem Verfassen einer Autobiographie, die im vergangenen Monat im Verlag Assoziation A in deutscher Übersetzung erschienen ist, hat Goldberg nicht sich selbst ein Denkmal gesetzt, sondern, durchaus auch zu eigenen Lasten wegen der damit verbundenen schmerzlichen Erinnerungen, Zeugnis abgelegt über den von ihm miterlebten und -getragenen südafrikanischen Befreiungskampf.

Autor Denis Goldberg und Übersetzerin Birgit Morgenrath - © 2010 by Schattenblick

Autor Denis Goldberg und Übersetzerin Birgit Morgenrath
© 2010 by Schattenblick

Da auch ein Buch, das wie Goldbergs unter dem Titel "Der Auftrag - Ein Leben für die Freiheit in Südafrika" vorgelegte Autobiographie zu maßgeblichen Teilen einem politischen Anliegen gewidmet ist, gleichwohl an die Gesetze und Erfordernisse des Buchmarktes gebunden ist, müssen die Interessen, Lesegewohnheiten und möglichen politischen Anknüpfungspunkte potentieller Leser berücksichtigt werden. Mit anderen Worten: Eine Autobiographie, die zwar hochinteressante historische und politische Ausführungen enthält, aber kaum der heutigen Lesergeneration zu vermitteln imstande ist, warum sich ein weißer Südafrikaner unter Inkaufnahme aller Konsequenzen Anfang der 1960er Jahre dem Aufbau einer bewaffneten Organisation innerhalb des ANC angeschlossen hat, wird kaum häufig genug über den Ladentisch gehen, um ungeachtet ihrer finanziellen Förderung durch die Ford Foundation und den Evangelischen Entwicklungsdienst EED für die notwendige Kostendeckung zu sorgen.

In der Zeit vom 19. Mai bis 13. Juni 2010 unternimmt der Autor eine Lesereise mit insgesamt 12 Stationen durch Deutschland, um gleichermaßen sein Buch bekanntzumachen wie auch seinem politischen Anliegen, von dem seine Autobiographie ohnehin nicht zu trennen ist, nachzukommen. Die dritte Station führte ihn am 25. Mai nach Hamburg in die Werkstatt 3, wo er in Begleitung seiner Übersetzerin und Redakteurin Birgit Morgenrath sowie seines Verlegers Theo Bruns von Assoziation A vor rund einhundert Interessierten in einem gutgefüllten Veranstaltungsraum eine Lesung abhielt, die einem Vortrag nahe verwandt war, weil Denis Goldberg über weite Strecken frei sprach und im Anschluß auf Publikumsfragen ausführlich einging.

Auf dem Podium - © 2010 by Schattenblick

Auf dem Podium
© 2010 by Schattenblick

Für den ersten Lacherfolg des Publikums sorgte Goldberg noch während der einleitenden Worte seiner Übersetzerin Morgenrath, die die Zeit ihrer gemeinsamen Arbeit an dem Buch als eine sehr bewegende bezeichnete und es als eine Ehre verstanden wissen wollte, Goldberg dabei unterstützt zu haben. Als sie auf die "Comradeship" - der Begriff "Comrade" wurde ins Buch unübersetzt übernommen, weil er weder dem deutschen "Kameraden" noch dem sozialdemokratischen "Genossen" entspricht -, zu sprechen kam und in diesem Zusammenhang ausführte, daß Goldberg am liebsten die Namen und Geschichten hunderter "Comrades" in sein Buch mit aufgenommen hätte, bemerkte dieser ganz trocken und zur Erheiterung des Publikums: "Du hast sie rausgeschnitten." Goldberg selbst begann seine Lesung nach ersten auflockernden und eher persönlichen Worten mit einer Textpassage, in der er aus seiner Kindheit berichtete, wie seine erste Lehrerin dem sechsjährigen Denis eine Lektion in Sachen Intoleranz erteilte, die ihn für 22 Jahre ins Gefängnis gebracht habe:

Mein erste Lehrerin hieß Fräulein Cook und ich fand sie wunderschön. Sie war jung und schlank, und sie roch nach einem lieblichen Parfüm. Alles, was sie sagte oder tat, erschien mir richtig. Ich dachte, niemand würde meine Liebe zu ihr bemerken, aber Jahre später gestand mir meine Mutter, daß sie damals ziemlich eifersüchtig auf sie gewesen sei. Jeden Tag, wenn ich von der Schule nach Hause kam, hätte ich nur von Fräulein Cook geschwärmt. Fräulein Cook hier und Fräulein Cook dort. Diese Vorliebe für das weibliche Geschlecht muß ich wohl von meinem Vater geerbt haben!

Eines Morgens nach der Pause war Fräulein Cook ganz außer sich. Sie vermißte ihre goldene Armbanduhr, ein Geschenk ihrer Eltern zum bestandenen Lehrerinnenexamen. Sie sagte, sie habe die Uhr in ihren Tischkasten gelegt. Jetzt sei sie verschwunden. Wie aus einem Munde riefen 30 sechsjährige Schüler: "Nolan hat sie gestohlen." Woher wir das wüßten, fragte sie. "Weil wir es gesehen haben", antworteten wir im Chor. Aber sie nahm uns ins Kreuzverhör und bestand darauf, daß wir uns einer solchen Beschuldigung ganz sicher sein müßten. Sie wußte, daß wir Nolan gar nicht gesehen haben konnten, denn während der Pause waren alle auf dem Schulhof gewesen.

Nolan hatte eine Hasenscharte, und 1939 gab es kaum Möglichkeiten, das zu operieren. Sein Gaumen blieb etwas gespalten und die Narbe war zu sehen. Er sprach komisch, zumindest empfanden wir das als Kinder so. Der Junge kam wohl auch aus einem sehr armen Elternhaus, seine Kleidung war schmutzig und er hatte keine Schuhe. Weil er so anders war als wir, war er einsam. Wir fanden ihn andersartig und wiesen ihn zurück. Nun hielten wir ihn sogar für den Schuldigen. Ach, Nolan! Entschuldige, was wir dir angetan haben!

Fräulein Cook verlangte, daß wir gründlich nachdenken sollten und sie befragte jeden einzelnen, sie saß dabei in ihrem Sessel, und als ich an der Reihe war, mußte ich neben ihr stehen und antworten. Ich erinnere mich immer noch an das peinliche Gefühl, ihr so nahe zu sein. Aber schön war es doch. Als ich sagte, wir hätten Nolan beobachtet, wie er ihre Uhr in die Mülltonne geworfen habe, meinte sie, es sei kein Beweis, wenn ich Nolan dort nur gesehen hätte. Wir alle wußten, daß er jeden Tag dorthin ging, um nach weggeworfenen Frühstücksbroten zu suchen, weil er Hunger hatte. Die Uhr war nicht in der Mülltonne zu finden.

Fräulein Cook gab mir so eine Lektion über Intoleranz, die ich niemals vergessen habe. Später, im Gefängnis, erinnerte ich mich noch oft an Fräulein Cook. Ich hätte mich gern bei ihr dafür bedankt, daß sie in mir gefestigt hat, was meine Eltern mir vorgelebt haben. Liebes Fräulein Cook, ich verrate Ihnen nun ein Geheimnis: Sie haben mich für 22 Jahre ins Gefängnis gebracht!

Fräulein Cook gab mir eine Lektion über Intoleranz - © 2010 by Schattenblick

"Fräulein Cook gab mir eine Lektion über Intoleranz"
© 2010 by Schattenblick

Diese Lektion wird jeder Mensch verstehen und nachvollziehen können, und so liegt auf der Hand, daß das "Geheimnis", das Goldberg der verehrten Lehrerin gegenüber enthüllt, nicht in einer Schuldzuweisung an sie besteht, sondern an die Leser- bzw. Zuhörerschaft gerichtet ist, um dieser aufs Menschlichste heruntergebrochen verständlich zu machen, warum dieser später tat, was er tat. Abweichend von der Chronologie des Buches widmete sich der Autor im nächsten Schritt seinem Comrade Looksmart Solwandle Ngudle, der eine besonders wichtige Rolle in Goldbergs Leben gespielt hatte und im Kampf um die Befreiung Südafrikas sein Leben ließ. Als Goldberg davon las, wie dieser zu Tode gefoltert wurde und daß sein Sohn beharrlich nach den verschwundenen sterblichen Überresten des Vaters gesucht hatte, bis diese schließlich in einem Township gefunden und anhand einer DNA-Probe identifiziert werden konnten, war es mucksmäuschenstill im Veranstaltungsraum geworden.

Es blieb die einzige Stelle, mit der Goldberg, dem seine eigene Betroffenheit anzumerken war, dem Publikum zumutete, annäherungsweise mit der Realität des damaligen Befreiungskampfes konfrontiert zu werden. Aufgrund seiner jahrelangen Erfahrung mit einer Vielzahl vorheriger Lesungen und Vorträge wird der Autor zu der Auffassung gelangt sein, daß niemand so ganz genau wissen möchte, was es tatsächlich bedeutet, nahestehende Menschen auf diese Weise zu verlieren. Dies gereicht dem Hamburger Publikum keineswegs zum Vorwurf, sondern ist Ausdruck und Konsequenz eines Wissens um menschliche Vermeidungstrategien und die damit verbundenen Absichten, das Goldberg sich in seiner insgesamt 22jährigen Haftzeit und insofern eher unfreiwillig erworben haben wird.

Ernste Worte - © 2010 by Schattenblick

Ernste Worte
© 2010 by Schattenblick

So beschrieb er beispielsweise in seinem Buch, wie er als Gefangener in einem Meineidsverfahren gegen einen Comrade als Zeuge der Verteidigung ausgesagt hatte. Der Comrade, Jock Strachan, hatte ohne Erlaubnis der Behörden eine Artikelserie über die Haftbedingungen in den südafrikanischen Gefängnissen an die Presse gegeben und stand deshalb abermals vor Gericht. Die Verteidigung hatte Goldberg und andere als Zeugen aufgerufen, damit diese bestätigten, daß die geschilderten Zustände tatsächlich der Realität entsprachen. Dazu hatte Goldberg in seinem Buch geschrieben, daß die "Aussage über die Gefängnisse, in denen ich mit Jock gesessen hatte", nicht nur der Wahrheit entsprochen, sondern daß er die "die Zumutungen und Widerwärtigkeiten, denen Häftlinge, insbesondere Schwarze, ausgesetzt waren", noch untertrieben hätte. Die meisten Menschen, so Goldbergs Begründung, "hätten diese Grausamkeiten kaum glauben können".

Die Entscheidung des Autors, sowohl in seiner Autobiographie als auch im Rahmen der Lesung von der Schilderung der Widerwärtigkeiten, die Menschen in Südafrika anderen Menschen angetan haben, abzusehen, scheint jedoch nicht nur mit der Weigerung des Publikums, mit einer solchen Realität konfrontiert zu werden, zu korrespondieren, sondern zugleich auch seiner tiefen politischen Überzeugung zu entsprechen, daß man, "wenn man waffenlos dasteht", nicht zeigt, wie niedergeschlagen man ist. Damit begründete Goldberg seine ihm schon von Nelson Mandela attestierte Neigung, Witze zu machen in Situationen, die ganz und gar nicht zum Lachen sind. Mit dieser Fähigkeit wußte der Autor auch sein Hamburger Publikum zu unterhalten, so etwa mit der Anekdote über Arthur Goldreich, der dem Oberkommando des bewaffneten Arms damals die Liliesleaf-Farm als heimliches Hauptquartier zu Verfügung gestellt hatte und der nach der Verhaftung, "glücklicherweise für ihn", wie Goldberg sagt, aus der Haft entkommen konnte. Als dieser nach dessen Freilassung 22 Jahre später wieder bei Goldreich zu Gast weilte und dieser ihn ins Rampenlicht zu stellen suchte, gab Goldberg zurück: "Ist dein Haus diesmal sicher?"

Entspanntes Lachen während der Lesung - © 2010 by Schattenblick

Entspanntes Lachen während der Lesung
© 2010 by Schattenblick

Abermals wurde mit Gelächter quittiert, was ohne ein Quentchen Distanz bzw. der Position des - und sei es wohlwollenden - Beobachters nicht unbedingt witzig ist. Es ist allerdings auch gut möglich, daß Goldberg aufgrund seiner langjährigen Erfahrungen mit Veranstaltungen zu politisch nicht unbrisanten und leichtgängigen Themen weiß, wie sinnvoll es ist, immer wieder "Lacher" zu provozieren, damit der Ernst des Geschehens nicht überhand nimmt und potentielle Interessierte in die Flucht schlägt. Die Passage, in der er schildert, daß man im Gefängnis, da Ablenkungen fehlten, viel Zeit zum Nachdenken hätte, stellte keinen Zynismus dar, sondern war der Haltung der Zuhörer voll und ganz angemessen. Wer Goldbergs Biographie aufmerksam gelesen hat, wird dessen Bemerkung, im Gefängnis habe man keine "Girlfriend-Probleme", einzuschätzen wissen; das Publikum lachte wie befreit auf.

Seinem Anliegen, den von ihm seinerzeit voll und ganz mitgetragenen Schritt, nach fast fünf Jahrzehnten nach den Prinzipien Ghandi'scher Gewaltlosigkeit geführten Antiapartheidskampf das Regime mit militärischen Mitteln zu bekämpfen, heute lebenden Menschen plausibel zu machen, suchte Goldberg auf verschiedenen Wegen nachzukommen. Goldberg, der schon in jungen Jahren der (verbotenen) kommunistischen Partei (SACP) beigetreten war, argumentierte nicht per se politisch, sondern suchte seine Entscheidung auf eine für jeden Menschen nachvollziehbare Weise verständlich zu machen. So schilderte er das Wiedersehen mit seinen Kindern, die ohne Vater aufwachsen mußten und im Alter von 28 und 30 Jahren am liebsten ihre Kindheit, so wie sie sie sich gewünscht haben, nachgeholt hätten. Auf die Frage seines Sohns David beim ersten Wiedersehen, warum er etwas getan hatte, daß ihn so lange von seiner Familie wegbrachte, gab Goldberg zur Antwort:

Irgendwann fragte er mich unter vier Augen: "Warum hast du etwas getan, das dich so lange von uns getrennt hat?" Ich antwortete, mir sei klar gewesen, daß mein Handeln seine Mutter, seine Schwester und ihn verletzen würde, aber Millionen schwarzer Kinder wären wegen der rassistischen Wanderarbeitergesetze ebenfalls gezwungen, ohne ihre Väter aufgewachsen. Wie hätte ich meine Kinder wichtiger nehmen können als alle anderen Kinder? Ich mußte etwas tun. Wir konnten selbst nur menschlich bleiben, wenn wir gegen die Unmenschlichkeit kämpften, wo immer sie sich uns zeigte. Wir hätten handeln müssen. Ich sei nicht von der Familie weggelaufen und hätte sie immer geliebt. Ich sah zu ihm hinüber. Mein 28 Jahre alter Sohn war der traurige Sechsjährige, der sich die Augen ausweinte. Wir umarmten uns und weinten zusammen, bis Esmé hereinkam und wir Dummen dachten, wir müßten uns gerade hinsetzen, die Tränen abwischen und so tun, als sei alles in Ordnung.

Denis Goldberg liest aus seinem Buch - © 2010 by Schattenblick

Denis Goldberg liest aus seinem Buch
© 2010 by Schattenblick

Goldberg führt den Erfolg der Antiapartheidsbewegung darauf zurück, daß sich in der Kongreßallianz unterschiedlichste Menschen, ja sogar politische Kontrahenten wie Kommunisten und Kapitalisten, zusammengefunden hätten. Allein diese Einheit hätte den Sturz des Regimes bewirkt, und so ist es nur folgerichtig, daß Goldberg in Hinsicht auf die Nachapartheids-Ära "seinem" ANC auch in seiner Regierungsverantwortung die Treue hält. Der zweite inhaltliche Schwerpunkt seiner Lesung war der Verteidigung des heutigen Südafrikas gewidmet, wobei der Autor deutlich machte, daß Kritik an "unserer Regierung" geübt werden müsse, so sich ihre Mitglieder "unehrenhaft bereichern". Goldberg verhehlte keineswegs die großen sozialen Probleme des heutigen Südafrikas, subsumierte sie allerdings unter den Begriff "Korruption".

Um zur Rechtfertigung der ANC-Regierung zu erklären, warum Armut und Obdachlosigkeit in Südafrika noch immer so groß sind, benutzte Goldberg Argumente, die die Kritiker der Regierungspolitik in den Ruch der Ungeduld und Maßlosigkeit bringen, so als würden sie Forderungen stellen und Ansprüche erheben, denen beim besten Willen nicht hätte nachgekommen werden können. Wenn er anführt, daß der ANC für den Bau von drei Millionen Häusern gesorgt hätte und weitere drei Millionen fehlten, klingt das so, als würden die Kritiker nur die Mißerfolge bemängeln und nicht die erreichten Fortschritte würdigen. In diesem Zusammenhang spricht Goldberg von den "Mauern im Kopf" der Menschen in Südafrika und damit einem Land, das dreihundert Jahre lang gespalten gewesen sei. Dies beträfe nicht nur Weiße, die noch immer dächten, daß sie privilegiert sein müßten, sondern auch Afrikaner, die nicht glauben, von Minderwertigkeitsgefühlen frei zu sein. Um dies zu veranschaulichen, zitierte Goldberg den 1977 vom Apartheidsregime ermordeten Führer der Black Consciousness Bewegung, Steve Biko, der gesagt hatte, daß Menschen, bevor sie wirklich frei sein können, erst einmal denken müssen, daß sie frei sein können. Mandela erklärte zum selben Thema: "Wir sind nur frei, um frei zu werden".

Hier vermischt Goldberg genaugenommen zwei Probleme, die nicht unbedingt etwas miteinander zu tun haben. Goldberg schloß seine Lesung mit den Worten, daß es nicht genüge, die Ketten abzuwerfen, und daß das heutige Südafrika aufgerufen ist, eine freie Gesellschaft aufzubauen. Dem ist gewiß nicht zu widersprechen, doch ebensowenig ist den heutigen Kritikern der Regierungspolitik, die nicht eben selten aus den eigenen Reihen kommen und die sich wie Goldberg der durch den ANC repräsentierten Tradition des Befreiungskampfes verbunden sehen, abzusprechen, daß genau dies ihr Anliegen ist. Goldberg hat darauf verzichtet, dieses Dilemma in seiner Lesung herauszuarbeiten. Auf den Einwand einer Zuhörerin, die sich selbst als Trotzkistin bezeichnete, die Differenzen mit seiner Politik habe, dazu, daß es auch 16 Jahre nach dem Ende der Apartheid diesbezüglich keine neuen Gesetze gäbe, weil noch immer die kapitalistische Klasse herrsche, ging Goldberg im Anschluß an die eigentliche Lesung ausführlich ein und stellte seinen Standpunkt wie folgt dar:

Der ANC ist in keiner Weise eine sozialistische Bewegung gewesen. Es war eine Freiheitsbewegung, wie ich gesagt habe, die viele Menschen von verschiedenen Klassen, Ständen und Auffassungen zusammengebracht hat gegen eine Verfassung in unserer Republik Südafrika, deren Kern die Trennung nach Hautfarben und Rassen war. Haben wir die politischen Bedingungen geschaffen, können wir viele andere Probleme lösen. Wenn die Bevölkerung Südafrikas eine sozialistische Regierung haben und eine sozialistische Revolution machen wollte, soll sie es machen. Es ist ein falscher Gedanke zu sagen, die Führerschaft hat die Leute verraten. Die Bevölkerung bekommt die Führung, die sie verdient und gewählt hat. Das ist auch eine Wahlfreiheit.

Von Nelson Mandela sagte Goldberg, dieser sei zwar nie Kommunist gewesen, habe sich jedoch, wie sich anhand der im Rivoniaprozeß vorgelegten Dokumente herausgestellt hatte, intensivst mit dem Marxismus auseinandergesetzt. Desweiteren erzählte Goldberg aus der Zeit des Wahlkampfes für die ersten freien Wahlen 1994, daß Mandela vor Gewerkschaftern erklärt habe, er wisse, daß viele Mitglieder des Gewerkschaftsdachverbandes, der Kommunistischen Partei und auch des ANC, ihn und die übrigen ANC-Führer für Verräter an der Arbeiterklasse hielten. Das sei für ihn unmöglich, habe Mandela geantwortet, weil zuviel Blut im Freiheitskampf vergossen wurde, doch er könne nur für sich und die heutige, also damalige Führung sprechen. Auch hier gehen die Argumentationen aneinander vorbei, stellen die Kritiker der ANC-Politik der Nachapartheidszeit doch nicht die Loyalität der ANC-Führung gegenüber den Bündnis- und Kampfgefährten in Frage, sondern die politischen Weichenstellungen nach 1994, so diese in einem Widerspruch zur Freiheitscharta von 1955 stehen.

Denis Goldberg spricht von Nelson Mandela - © 2010 by Schattenblick

Denis Goldberg spricht von Nelson Mandela
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Mandelas Argumentation machte sich Denis Goldberg in der Lesung wie auch in seiner Autobiographie zu eigen. Eine weitere Frage aus dem Publikum bezog sich auf die Mitgliedschaft Goldbergs in der Kommunistischen Partei Südafrikas (SACP), dem ANC sowie dessen bewaffnetem Arm. Ob es nicht eine "sehr schwierige Situation" gewesen sei, wollte ein Zuhörer wissen, "sozusagen auf drei Hochzeiten zu tanzen". Zur Beantwortung dieser Frage kam Goldberg auf Comrade Archie Sibeko zu sprechen, der Mitglied in einer Gewerkschaft, in der Kommnistischen Partei und im ANC gewesen war und ihm als Zwanzigjährigem auf dieselbe Frage nach dem Tanzen auf drei Hochzeiten geantwortet hatte:

Wenn ich gegen Rassentrennung und die rassistische Unterdrückung kämpfe, bin ich Mitglied des ANC (African National Congress). Wenn ich für bessere Bedingungen in meinem Arbeitsleben kämpfe, muß ich in einer Gewerkschaft Mitglied sein und zusammen mit anderen arbeiten. Wenn ich verstehen will, was die Beziehung zwischen rassistischer Unterdrückung und Klassenunterdrückung ist und welche Verwandtschaft zwischen diesen verschiedenen Formen von Unterdrückung besteht, wende ich mich der Kommunistischen Partei zu. Das hat er mir so erklärt. Für ihn war es einfach, für mich auch.

Insgesamt erweckte das Publikum einen eher skeptischen und reservierten Eindruck, wenngleich eine Vielzahl der Anwesenden, soviel darf spekuliert waren, aus Veteranen und Veteraninnen der hiesigen Antiapartheids-Unterstützungsbewegung bestand, die sich ganz einfach nicht die Gelegenheit entgehen lassen wollten, einen ANC-Veteranen wie Denis Goldberg in Hamburg zu sehen. Mit manchen Fragen sollte wohl der Grad der "politischen Korrektheit" Goldbergs abgeklopft werden, so etwa mit der Frage, wie es denn die heutige Regierung Südafrikas mit dem Nachbarland Simbabwe hielte. Gemessen daran, worin eigentlich der inhaltliche Schwerpunkt der Lesung bestanden hatte und wie gering die Überschneidungspunkte dessen zu dieser und weiteren Detailfragen waren, könnte man versucht sein, den politischen Nutzwert einer solchen Veranstaltung zur Gänze in Frage zu stellen.

Für einen spektakulären Zwischenfall, der keineswegs die alleinige Störung einer im übrigen von einer lebhaften politischen Diskussion und einem intensiven Interesse an der Lebensgeschichte Goldbergs sowie der Geschichte wie auch der aktuellen Lage Südafrikas getragenen Veranstaltung gewesen war, sorgte eine Teilnehmerin, die sich in ihrem vergeblichen Versuch, ihr Goldberg gegenüber mutmaßlich kritisches Anliegen vorzubringen, zu einer immer aggressiveren Haltung hinreißen ließ und damit die ihr gegenüber ablehnende Haltung des Publikums bis zu ihrem Quasi-Rauswurf verstärkte.

Verleger Theo Bruns hört aufmerksam zu - © 2010 by Schattenblick

Verleger Theo Bruns hört aufmerksam zu
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Dessen ungeachtet konnten Autor und Veranstalter mit dem Verlauf der Lesung durchaus zufrieden sein, war sie doch auf das erwartete Publikumsinteresse gestoßen und mit gebührender Aufmerksamkeit verfolgt worden. Wer allerdings gemutmaßt hat, angesichts einer solchen Thematik und der persönlichen Präsenz eines Menschen, der die Geschichte Südafrikas nicht aus Bücherwissen rezitieren, sondern auf der Basis eigener Lebenserfahrung vermitteln kann, würde sich eine die Grenzen eines solchen Veranstaltungsrahmens perforierende Gesprächsentwicklung ergeben, könnte sich einen Narren schelten.

Gleichwohl könnte die Saat dessen, was Denis Goldberg mit großen Enthusiasmus an diesem Abend zu vermitteln suchte, gleichwohl noch Früchte tragen. Ein Beispiel wäre seine eher beiläufig anmutende Erzählung, wie einmal bei einem Vortrag für den ANC an der Ostküste Neufundlands in Kanada ein Bergarbeiter zu ihm gekommen war, der sich als "Native Canadian" oder auch Eskimo bezeichnet hatte und Grüße an das Volk Südafrikas schicken wollte. Zu Goldberg sagte er, daß dieser mit seinem Bericht über Südafrika auch über die Lage seines Volkes in Kanada gesprochen hätte, und später stellte sich sogar noch heraus, daß nach dem Zweiten Weltkrieg südafrikanische Beamte nach Kanada geschickt worden waren, um die dortigen Behörden in "Eingeborenenfragen" zu beraten. So kam Goldberg zu dem Schluß, daß der Kampf des ANC "keine Einbahnstraße war, wo wir mit einem Bettelbeutel stehen". Bei so manchen Zuhörern wird Goldbergs auch hier an den Schluß gestellte Frage eine gewisse Nachdenklichkeit erzeugt haben:

Antiapartheidaktivisten in Kanada guckten Südafrika in zehn-, fünfzehntausend Kilometer Entfernung an und sehen ihre eigene Gesellschaft widergespiegelt. Welche intellektuellen Spannungen gibt es, daß wir gegen Rassismus in Südafrika kämpfen und nicht in Kanada?

Der Autor signiert sein Buch im Anschluß an die Lesung - © 2010 by Schattenblick

Der Autor signiert sein Buch im Anschluß an die Lesung
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Denis Goldberg mit SB-Redakteurin H. Barkow - © 2010 by Schattenblick

Denis Goldberg mit SB-Redakteurin
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Das Veranstaltungsgebäude in Hamburg-Ottensen - © 2010 by Schattenblick

Das Veranstaltungsgebäude in Hamburg-Ottensen
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29. Mai 2010