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BUCHBESPRECHUNG/073: Velma Wallis - Zwei alte Frauen (Erzählung) (SB)


Velma Wallis


Zwei alte Frauen



Mit der Sonderausgabe der Erzählung von Velma Wallis "Zwei alte Frauen - Eine Legende von Verrat und Tapferkeit" im Jahre 2002, vormals bei Heyne erschienen, ist dem KABEL Verlag ein wahrhaft schönes Buch gelungen: Der Titel sehr ansprechend und zum Thema und der Art der Erzählung passend, das Format der gebundenen Ausgabe, mit 14,5 x 18,5 cm etwas größer als ein normales Taschenbuch, äußerst angenehm in der Hand und der Handhabung, Schrift und Seitenaufteilung absolut lesefreundlich, mit den der Geschichte entsprechenden bedächtigen schwarz-weiß Zeichnungen von Heinke Both ästhetisch/eindrücklich illustriert, ist das Buch ein handwerklicher Leckerbissen für den Bücherfreund und erscheint zum Verschenken wie gemacht.

Erzählt wird auf ca. 100 Seiten eine alte Überlieferung aus dem Volk der Gwich'in, einem am Polarkreis in Alaska beheimateten Stamm der Athabaska, die über Generationen hinweg mündlich weitergegeben wurde, bevor Velma Wallis sie aufschrieb und veröffentlichen konnte.


Im Mittelpunkt stehen zwei alte Frauen, die, in dieser unwirtlichen und lebensfeindlichen Region durchaus stammesüblich, in einem überaus kalten Winter von ihrem Volk, wenn auch unter Gewissensbissen und schweren Herzens, zum Sterben zurückgelassen werden, um das Überleben wenigstens der anderen zu retten.

Nachdem sie Wut und Trauer überwunden haben, entschließen sich die beiden Frauen, entgegen ihrer bisherigen Gewohnheit, zu wehklagen und das Leben zu bejammern, den Kampf ums Überleben aufzunehmen.

Wir können hier sitzen und auf den Tod warten. Wir werden nicht lange warten müssen... Der Zeitpunkt unseres Abschieds von der Welt sollte aber noch nicht so bald kommen. ... Und deshalb, meine Freundin, sage ich, wenn wir denn sterben müssen, so laß uns handelnd sterben und nicht im Sitzen. (S. 24f.)

Die beiden 75- bzw. 80igjährigen erinnern sich an alte, in der Jugend geübte Fähigkeiten (das Jagen und Fallenstellen zum Beispiel oder das Herstellen von Schneeschuhen) und gewinnen neue hinzu, entwickeln Mut und Durchhaltevermögen und einen vernünftigen Umgang mit den eigenen Gebrechlichkeiten und beschränkten Energien.

Mit recht sparsamen Worten werden die Schwierigkeiten bei ihrer mühseligen Reise geschildert, vom alten Lagerplatz zu einem Bach, den sie aus früheren Wanderungen als fischreich in Erinnerung haben und deshalb zum Überwintern für geeignet halten.

Der Leser erlebt den Kampf gegen Kälte und Hunger, körperliche Schmerzen und seelische Nöte in einer unwirtlichen, gleichwohl faszinierenden Landschaft am Polarkreis und erfährt einiges über den sorgsamen Umgang mit der Natur in dieser lebensfeindlichen Umgebung.

Die Frauen gingen allerdings sehr sparsam damit um und benutzten viele Teile der Fische auch für andere Zwecke. Zum Beispiel konnten sie die Lachsdärme auch gut als Wasserbehälter gebrauchen, und die Haut verarbeiteten sie zu runden Beuteln für getrockneten Fisch. (S. 73)

Auch das Verhältnis der Frauen zueinander wandelt und intensiviert sich.

Bevor man sie im Stich gelassen hatte, waren die beiden Frauen einander nicht besonders nahe gewesen: Zwei Nachbarinnen, die sich jeweils an der schlechten Angewohnheit der anderen, an ihrem ewigen Jammern, ergötzt und miteinander über unwichtige Dinge unterhalten hatten. Nun waren das Alter und ihr grausames Schicksal das einzige, was sie verband. So geschah es, daß sie in jener Nacht, am Ende ihrer qualvollen gemeinsamen Reise, nicht wußten, wie sie als Gefährtinnen freundschaftlich miteinander sprechen sollten. Eine jede hing daher ihren eigenen Gedanken nach. (S. 55)

Aus Nachbarinnen werden Freundinnen, auf eine unaufgeregte, scheinbar selbstverständliche Weise:

Das Volk vergeudete selten kostbare Zeit auf müßige Gespräche. Wenn man redete, so war es, um etwas mitzuteilen, nicht, um gesellig zu sein. Doch während jener langen Abende machten diese Frauen eine Ausnahme. Sie redeten. Und sie entwickelten Achtung voreinander in dem Maße, wie eine jede von der vergangenen Not der anderen erfuhr. (S. 63f.)

Was anfangs aussichtslos erscheint, gelingt, und so finden die beiden Frauen nach acht Tagen den Platz, den sie gesucht haben und an dem sie bleiben können. Langsam wird es Frühling und das Leben und Überleben leichter.

In der ständigen Angst nicht nur vor wilden Tieren und vor fremden Nomaden, sondern auch vor ihrem eigenen Volk, das sie schon einmal dem Tod preisgegeben hatte und in Sorge um ihre Vorräte beschließen die beiden, noch einmal ihren Lagerplatz zu verlassen und tiefer in die Wälder in eine unattraktivere, gerade deshalb aber sicherere Umgebung umzusiedeln. Dort richten sie sich ein.

Doch mit der Seßhaftigkeit kommen die Einsamkeit und die Sehnsucht nach dem eigenen Volk. "Dann erkannte ich, wie wichtig es war, mit einer großen Gruppe zusammenzusein. Der Körper braucht Nahrung, aber die Seele braucht Menschen." (S. 61)

Und auch das Volk hat die beiden Alten nicht vergessen und sucht, wenngleich ohne viel Hoffnung, nach Überlebenszeichen.

Mit großer Vorsicht und auf Umwegen gelingt eine Annäherung und ein Zusammenleben auf neuer Basis, gegründet auf eine vorher nicht dagewesene Achtung und Achtsamkeit.


Soweit die Überlieferung. Man ist geneigt, ihrem Verlauf und glücklichen Ende zu folgen - und bleibt zum Schluß doch unbefriedigt.

Wer gehofft hatte, eine Darstellung alter Menschen - zumal Frauen - aus der Sicht einer anderen, vielen als überlegen geltenden Kultur der Indianer zu finden, erlebt am Ende eine Heldengeschichte wie viele, in denen die Beteiligten, von Grund auf gute Menschen, durch die Ereignisse eine Läuterung erfahren, die sie auf den rechten Weg zurückführt.

Auch wenn man bei der Lektüre ahnen mag, daß Menschen, wenn sie gemeinsam und gemeinschaftlich zu handeln in der Lage sind, Potenzen freisetzen könnten, die scheinbar unüberwindbare Grenzen zu bezwingen vermögen, bleibt die Legende der alten Frauen auf die Realität zwischenmenschlicher Unerreichbarkeiten nicht übertragbar. Die Erzählung meidet die eigentliche Problematik, sie berührt nicht das, was wir fürchten und wovor wir Angst haben und sie bietet daher keinen Anhaltspunkt und keine Chance, sich dem entgegenzustellen. Statt der Konfrontation mit dem Ungelösten und Unlösbaren flüchtet sie in neue Perspektiven.

Am Ende wird eine offene Gesellschaft propagiert mit einem vom heutigen Verständnis geprägten Zusammenleben der Generationen, in der Verbindlichkeit Grenzen hat und an Bedingungen geknüpft bleibt.

Was aber wäre gewesen, wenn die beiden Frauen nicht ein attraktives Vorratslager an Lebensmitteln gehabt hätten, auf das ihr Volk zum Überleben dringend angewiesen war, oder wenn sie sich beim Wiedersehen nicht als die starken Frauen hätten präsentieren können, sondern gescheitert und krank aufgefunden worden wären?

Im Nachwort der Herausgeberin ist vielleicht auch deshalb und folgerichtig vom Widerstand der Indianer gegen eine Veröffentlichung dieser Überlieferung zu lesen. "'Das wirft kein gutes Licht auf das Athabaska-Volk', erklärte mir ein Indianerführer unumwunden, 'Wenn Sie das Buch veröffentlichen, steht das Athabaska-Volk nicht gut da.'" (S. 116)

Unterm Strich bleibt ein moralischer Appell, sich ein Beispiel zu nehmen und es diesen Frauen gleichzutun. "Diese Geschichte", so die Verfasserin, "hat mich gelehrt, daß den eigenen Fähigkeiten keine Grenzen gesetzt sind, wenn es darum geht, das im Leben zu vollbringen, was man muß." (S. 9) Dafür müsse man sich nur auf die eigenen Kräfte besinnen. Gewinnen kann, wer stark ist - aber war das nicht schon immer so?

In diesem Sinne ein (zu) harmonisches Buch, das über ein Konzept qualifizierter Anpassung nicht hinausreicht.


Velma Wallis
Zwei alte Frauen
Eine Legende von Verrat und Tapferkeit
KABEL Verlag 2002
119 Seiten, gebunden, 9,90 Euro
ISBN 3-8225-0606-0