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REZENSION/023: D. G. Compton - Die Zeit-Moleküle (Science Fiction) (SB)


D. G. Compton


Die Zeit-Moleküle



Die Idee ist nicht mehr ganz neu: Ein Mensch ist Gefangener eines Zeitkreises, auch -schleife genannt, die ihn zwingt, einen bestimmten Zeitablauf immer und immer zu wiederholen. Science- Fiction-Fans kennen es bereits aus unzähligen Filmen wie `12:01' oder `Und täglich grüßt das Murmeltier' und aus der `Twilight Zone'.

In dem Roman `Die Zeit-Moleküle' greift auch D. G. Compton dieses Thema auf und entwickelt dazu seine ganz eigene Version: Ein etwas einfältiger Einsiedler gerät mehr oder weniger zufällig in ein wissenschaftliches Forschungsprojekt und muß so - ohne sein Wissen - 38 Jahre seines Lebens wieder und wieder durchleben ...


Was ist geschehen?

Bis heute weiß Roses Varco nicht, daß er sich in einem Zeitkreis verfangen hat. Und wenn er es wüßte, würde er es wahrscheinlich nicht verstehen. Sein Leben wiederholt sich stets innerhalb einer Frist von 38 Jahren. Und das alles nur, weil Wissenschaftlern ein Zeitexperiment außer Kontrolle geraten ist ...

Da Kreise bekanntlich keinen Anfang und kein Ende haben, beginnt die Geschichte einfach irgendwo; und genau an der gleichen Stelle endet sie auch und beginnt wieder von Neuem. Der etwas einfältige Roses Varco, achtzehn Jahre alt, sitzt auf einer halbverfallenen hölzernen Mole am Penheniot Pill und schmökert in seinem Comic `Die Abenteuer von der Pantherfrau'.

Er lebt ganz in der Nähe des Flusses in einer moosüberwachsenen Hütte, die seinem inzwischen verstorbenen Vater gehört hat. Ganz plötzlich erschüttert eine sonderbare Explosion die Umgebung, der ein Getöse vorausgeht - und ein Schrei, der so kurz ist, daß man meint, ihn gar nicht wirklich vernommen zu haben. Die Stützbalken der alten Mole brechen und Roses fällt mitsamt seinem Comic in den Schlamm.

Fluchend begibt er sich in die schäbige, schmuddelige Küche seines kleinen Häuschens, das er sich nur noch mit zwei Katzen teilt. Aber seine Küche ist nicht wie sonst - etwas Seltsames hat sich hier ereignet: Der ganze Raum ist von einer ungewöhnlichen Helligkeit durchdrungen, die von einem Buch ausgeht. Es ist ein merkwürdiges Buch, das eine ungewöhnliche Wärme abgibt, sobald Roses es in die Hand nimmt. Angenehme Empfindungen sind mit der Berührung dieses Buches verbunden.

Trotzdem findet er es unheimlich und will es verbrennen. Aber es erweist sich als unzerstörbar. Zuletzt hämmert er sogar mit der Axt darauf ein - ohne Erfolg. Schließlich trägt er es hinunter zum Strand und schleudert es weit von sich in den Penheniot Pill, dessen zurückweichende Fluten es langsam davon treiben.


20 Jahre später

Immer weniger Bewohner besiedeln das kleine Dorf Penheniot Village, alle zieht es in die nahegelegenen Städte. Bis am Ende nur noch Roses Varco übrig bleibt. Er will nicht fort und sehnt sich auch nicht nach den anderen, die sich ohnehin nur über ihn lustig gemacht haben.

Für den Wissenschaftler Emmanuel Littlejohn, auch Manny genannt, und seine Leute ist Penheniot Village genau der richtige Ort zum Experimentieren. Und so kommt plötzlich wieder Leben in dieses verlassene kleine Dörfchen. Anfangs versuchen die Wissenschaftler, diesen letzten Bewohner auch noch von diesem Ort zu vertreiben, aber niemand hat mit der Willensstärke gerechnet, die diesem einfältigen Einsiedler zueigen ist. Keine zehn Pferde vermögen ihn und seine beiden Katzen auch nur einen Zentimeter fortzubewegen. Schließlich bleibt ihnen nichts anderes übrig, als den Mann notgedrungen als Bestandteil dieses Dorfes hinzunehmen. Roses Varco bleibt das einzige, was an diesem neu geschaffenen Dörfchen, was überhaupt noch echt ist.

Denn alles andere ist Tarnung für die Experimente, die die Forscher an diesem Ort anzustellen gedenken. Experimente mit der Zeit. Emmanuel Littlejohn ist derjenige, der die Idee und auch das nötige Geld hat, um dieses kostenintensive Projekt zu starten. Ganz Penheniot Village wird zu diesem Zweck als Fassade eines normalen Dorfes errichtet. Jedes Haus, jeder Bewohner, der sich jetzt an diesem Ort befindet, ist ein Statist, eine Tarnung eben, damit Vorbeireisende nicht neugierig werden, unbequeme Fragen stellen oder das Projekt in irgendeiner Weise stören.

Verirrt sich einmal jemand nach Penheniot Village, so bietet sich ihm hier ein Bild eines gewöhnlichen Dorfes. Bäcker, Frisör, Tabakladen - alles ist wie überall, nichts Interessantes. Und er fährt wieder fort ...


Was sind Zeit-Moleküle?

Was aber sind das für geheimnisvolle Experimente, die jene mysteriösen Wissenschaftler dort mit der Zeit veranstalten? Professor Daniel Krawschensky und seine Assistentin arbeiten mit einer Zeitmaschine. Mittels dieses Geräts gelingt es den beiden, Gegenstände - wie sie meinen, in eine andere Zeit - verschwinden zu lassen. Gegenstände oder auch Personen sind für eine bestimmte Frist einfach nicht mehr zu sehen und tauchen später wieder auf. Für sie ist noch keine Zeit vergangen, während für das Forscherteam die Zeit meßbar vorangeschritten ist.

Ihren wissenschaftlichen Experimenten liegt die Theorie von Zeit- Molekülen, sogenannten Chronokülen, zugrunde, denen das Buch auch seinen Titel verdankt. Nach dieser Theorie besteht die Zeit aus Chronokülen, winzig kleinen Bestandteilen, die in einem großen Fluß dahinfließen. So erklärt der Professor sein Experiment, indem er einen Stuhl verschwinden läßt, folgendermaßen:

`Ich meine damit nicht, ich wiederhole, ich meine damit nicht eine Zeitreise. Dieser Aus- druck ist ein hundertprozentiges Mißverständnis des Phänomens Zeit. Denn wir sind es, die in diesem Moment Zeitreisende sind. Nicht der Stuhl, sondern wir.' Er ballte die Hand und deutete. `Sehen Sie, guter Freund, dort draußen ein Boot, das den Fluß hinaufdampft. Der Fluß ist stark; doch die Maschine an Bord ist es nicht. Es stemmt sich zwar gegen die Strömung, wird aber unbarm- herzig abgetrieben. Doch betrachten wir den Fluß in seinem Zusammenhang, und das Boot reist trotzdem. Der Fluß treibt an dem Rumpf vorbei und trägt das Boot nicht ganz mit sich. Guter Freund, wir und das ganze Universum, soweit wir es kennen, befinden uns in der gleichen Lage wie dieses Boot.' (S. 36)

Als Zeit wird hier also eine allumfassende Bewegung verstanden, und das, was sich uns als Wirklichkeit darstellt, nehmen wir nur deshalb wahr, weil es sich, ebenso wie wir selber, dieser ständig dahinfließenden Bewegung entgegenstellt, dem Fluß also Widerstand leistet. Die Zeit als Fluß zu sehen, ist allgemein üblich. Manche bezeichnen es als das Werden und Vergehen, die Vergänglichkeit, praktischere Menschen sehen einfach nur das Altern, den Verfall und bezeichnen dies als Zeit. Nach Comptons Modell jedoch ist es gerade die Tatsache, daß wir mit unserem Körper diesem Fluß der Chronoküle Widerstand entgegensetzen, die uns altern läßt und vergänglich macht:

`Doch was geschieht, wenn das Boot seine Maschine abstellen kann und sich ganz der Strömung des Flußes überläßt? Im Zusammenhang mit diesem Fluß, in Relation dazu, reist es nicht mehr. Das Wasser in seinem Rumpf verharrt auf der Stelle. Das Boot bildet jetzt eine harmonische Einheit mit dem Fluß. Das gleiche gilt für den Stuhl. Er bildet eine Einheit mit Chronos, mit der Zeit. Er reist nicht mehr. Wir sind es, mein guter Freund, die gegen den Strom ankämpfen und reisen.' Er seufzte und legte die Hände in ergebener Geste zusammen. `Und in diesem Prozeß altern wir. Der Stuhl aber altert nicht.'" (Seite 36)

Diese Theorie reizt den Förder des Projekts, Emmanuel Littlejohn, dem Geheimnis der Zeit endgültig auf die Spur zu kommen. Er ist reich und hat viel Macht. Aber ihm reicht es nicht, über andere Menschen zu herrschen, auch die Zeit soll sich seinem Willen fügen. Hochqualifizierte technische Geräte für praktische Forschungen und ein ausgewähltes Wissenschaftlerteam sollen ihm dabei helfen. Die Experimente machen bereits einige Fortschritte:

`Haben Sie genau hingesehen? Haben Sie es gesehen?' Der Professor war offenbar lange nicht so zuversichtlich gewesen, wie er getan hatte. Jetzt jubilierte er. `Sehen Sie? Ein vollkommener Start, ein totales Verschwinden. Ich habe von Anfang an recht behalten. Die Existenz der Materie innerhalb unserer drei Dimensionen hängt nur von dem Widerstand dieser Materie gegen den Zeitfluß ab. Man entferne den Widerstand, und es passiert, was sie jetzt sehen. Der Zeitfluß übernimmt die Kontrolle und - hui - der Stuhl, wie wir ihn kennen, existiert nicht mehr.' `Verraten Sie mir doch bitte, Professor, wo der Stuhl sich in diesem Augenblick befindet!' `Bei dem letzten Experiment, dem David Silberstein beigewohnt hatte, hatte die Entpufferung eine Porzellankanne in ein Häufchen Asche verwandelt. Er hatte sich gefragt, ob der Gründer, ob nicht eigentlich alle in diesem Dorf, einem kostspieligen Schwindel aufsaßen. `Wo der Stuhl sich befindet? Nirgends. Oder, falls Ihnen das lieber ist, dort, wo er immer war, nur in einem anderen Zustand. In einem Zustand der chronomischen Harmonie. (S. 35)

Wenn es doch so einfach wäre: Um zu dem angestrebten Ziel zu gelangen, nämlich einer chronomischen Harmonie, leistet man dem Zeitstrom einfach keinen Widerstand mehr - und schon ist man unsterblich. Interessant ist daran ein Aspekt: Die Beschreibung der Harmonie macht deutlich, daß die Veränderung nicht räumlicher Natur sein kann, sondern ein körperlicher Vorgang. Demnach müßte - theoretisch - der Mensch einen Zugriff darauf bekommen können, indem er einfach seinen Standpunkt gegenüber der Zeit verändert, oder?

Will Manny Littlejohn also Herrscher über die Zeit werden, so sieht er nur eine Möglichkeit, die Sache in Angriff zu nehmen:

"`Zwei oder drei Jahre höchstens noch ... Er spreizte die Finger und stellte sich vor, wie die Zeit zwischen ihnen hindurchfloß. Professor Krawschenkys Zeit, seine Chronoküle, die ihn allmählich abnützten, deren Fluß er nicht ausweichen konnte. Nur indem er diesen Chronokülen Widerstand leistete, existierte er hier und heute und nicht dort und irgendwann. Jedes Materie-Atom besaß eine Ladung als Puffer gegen diesen Zeitstrom. Und in jedem seiner Finger waren hundert Millionen von Atomen, und der chronomische Strom zog über und zwischen ihnen vorbei wie das Wasser im Flußbett. In seinem Finger, in seiner Hand, in seinem ganzen Körper. Der Zeitstrom, der ihn abnützte. Deshalb alterte er. Zwei oder drei Jahre höchstens noch. Er legte rasch die Hand wieder aufs Knie. (...) Krawschensky würde den Strom für ihn umkehren und ihm wieder einen jungen Körper geben. Krawschensky war kein Dummkopf. Oft bedarf es eines Genies, um ein zweites zu entdecken. Er und Krawschensky würden gemeinsam über das Hindernis der Zeit hinwegsteigen, als wäre es nur ein kleiner Gatterzaun. Und falls - Littlejohn lachte leise und beugte sich vor, um wieder aus dem Fenster zu blicken - , und falls sich diese chronomische Harmonie nur als ein anderes Wort für Tod entpuppen sollte, überließ er sich ihr doch mit viel größerer Hoffnung, daß er irgendwo in einem anderen Leben wieder aus dieser Harmonie herauskam, als ihm die Theologen jemals geben konnten. (S. 61)

Aber es kommt anders, als die Wissenschaftler es sich denken. Denn, um vollständige Gewißheit zu bekommen, müssen natürlich auch Experimente mit lebenden Wesen gemacht werden. Nachdem das erste vollständig danebengegangen ist, fühlen sich die Forscher langsam wieder ermutigt. Und offensichtlich soll es jetzt gelingen: eingefangene, wilde Katzen verschwinden für kurze Zeit auf der Bühne und tauchen dann wieder unversehrt auf. Zwar reißen sie bald darauf aus, so daß weitere Folgeuntersuchungen nicht mehr möglich sind, aber auch Schafe und andere Tiere weisen nach einem solchen Transfer augenscheinlich keine Besonderheiten auf. Bis es schließlich zu dem ersten Menschenversuch kommt. Es ist die Forscherin Rachel Moser, die sich für dieses Experiment zur Verfügung stellt.

Aber sie kommt mit einem geistigen Fehler zurück und stirbt kurz darauf. Soll das nun das Ende sein? Doch bevor ihr gesamtes Unterfangen in die Brüche geht, schicken sie noch schnell einen weiteren Menschen durch die Zeit - den Einfaltspinsel Roses Varco, einen Menschen also, der nach Meinung der Wissenschaftler ohnehin keinen Nutzen mehr hat. Wie günstig, daß er sich gerade zufällig in diesem Raum aufhält, um die Leute über das merkwürdige Verhalten seiner Katzen zur Rechenschaft zu ziehen. Damit dieser etwas verwirrte Mann - wo auch immer er später landet - zurechtkommt, hängen sie ihm ein Schild auf den Rücken, welches er selber jedoch nicht sehen kann:

"Ich komme aus dem Jahre 1988. Ich bin k e i n typischer Vertreter meiner Zeit. Bitte schicken Sie mich zurück, wenn Sie das können, und schreiben Sie auf dieses Plakat, ob noch mehr von meinen Zeitgenossen bei Ihnen willkommen sind und welche Lebensbedingungen sie bei Ihnen antreffen werden. Ich stelle in keiner Weise eine Bedrohung für Sie dar. Nehmen Sie mich bitte freundlich auf."

Roses Varcos Geschichte nimmt einen merkwürdigen Verlauf: Er tritt erst 54 Jahre später wieder auf den Plan. Ganz plötzlich sitzt er genau auf jenem Stuhl, mit dem man ihn damals gewaltsam auf die Reise in die Zeit geschickt hat. Das Forschungslabor ist mittlerweile zu einem Museum umfunktioniert, und Stuhl, Bühne und Geräte, die man einst zu Forschungszwecken verwendet hat, werden heute Besuchern als historische Sehenswürdigkeiten zugänglich gemacht.

Wie sehr hat sich seine Umgebung verändert! Er erkennt sie kaum wieder, und mit seinem einfachen Verständnis vermag er das Ganze nicht so recht zu erfassen. Überraschend erscheint Liza, die wissenschaftliche Assistentin des Professors, mit ihrem mittlerweile erwachsenen Sohn. Haßerfüllt blickt sie Roses an. Sie ist noch jung geblieben und scheint eine führende Position hier einzunehmen. Ganz offensichtlich ist die kurze Affäre, die Roses und Liza miteinander hatten, nicht ohne Folgen geblieben. Daher wahrscheinlich dieser Haß. Doch bevor Liza ihn als Eindringling erschießen lassen kann, gelingt es ihrem Sohn, Roses Varco wieder auf den Stuhl zu verfrachten und die Zeitmaschine auf irgendeine Zeit in der Vergangenheit einzustellen. Damit rettet er seinem Vater das Leben!

Aber wo landet Roses Varco? Als 18jähriger sitzt er plötzlich wieder auf einem kleinen, halbverfallenen Steg des Penheniot Pill und liest den Comic `Die Abenteuer der Pantherfrau', als ein Schrei die Stille durchdringt, der jedoch abbricht, bevor er überhaupt erst sein Ohr erreicht - Lizas wutentbrannter Schrei. Aber das weiß Roses nicht mehr ...


Wie mag es weitergehen?

Aus Roses Sicht geschieht alles neu, das erste Mal. Er findet das Buch, wirft es in den Penheniot Pill, begegnet den Wissenschaftlern ... Aber wie ist es aus der Sicht der Wissenschaftler? Sie werden nicht wieder in die Zeitmaschine befördert. Und doch müssen sie sich auch innerhalb des Zeitkreises bewegen, denn ohne sie würde sich Roses Varcos Wirklichkeit nicht wiederholen. Oder läuft das, was wir als unsere Realität annehmen, jedes Ereignis, ohnehin tausend und millionenfach ab, existiert parallel nebeneinander, und Roses Varco hat nur einen Sprung von einer Zeit in die andere gemacht?

Theoretisch muß auch jene Zeit weiterlaufen, in der Liza bereits 54 Jahre älter geworden ist und wutentbrannt auf den gerade leer gewordenen Stuhl blickt, auf den Roses eben noch saß.

Und was ist aus den bereits verstorbenen Wissenschaftlern dieser Geschichte geworden, Rachel Moser oder Manny, die eigentlich auch für Roses Varcos Wirklichkeit wieder zum Leben erwachen müßten.


`Objektive Zeit' - eine Vorstellung voller Widersprüche

Wo kann es da eine objektive Zeit geben, eine Wirklichkeit, die tatsächlich wie ein Fluß kontinuierlich und mit absolut gleichbleibender Geschwindigkeit dahinfließt? Von der Wortbedeutung her stammt `Zeit' von `zählen, teilen'. Mit dem Zählen kommt man jedoch nicht weiter, wie jene der Geschichte nach logisch nachvollziehbare Rechnung belegt:

"Im achtunddreißigsten Jahr seines Lebens starb ein Mann, der aus einer Zeit zurückreiste, als er dem Kalender nach fünfundneunzig Jahre alt sein mußte, ein paar Wochen nach seinem achtzehnten Geburtstag."

Wie würde Roses Varco damit umgehen?

Roses Varco ist ein einfacher Mensch. Angenommen, er wüßte, daß er sich in einem solchen Zeitkreis befindet, wie würde er damit umgehen? Für ihn gibt es keine objektiv dahinfließende Zeit, sondern nur das, was er tut. Er bewegt sich in einer vertrauten Umgebung, und die Forscher mit ihren Experimenten sind ihm schlichtweg fremd. Jene geheimnisvollen Zeitexperimente interpretiert er anders, nämlich räumlich: Aus seiner Sicht haben die Wissenschaftler ein Gerät entwickelt, mittels dessen sie Gegenstände und Lebewesen relativ unkontrolliert verschwinden und wieder erscheinen lassen können.

Der Zeitbegriff an sich bleibt allerdings nicht nur für Roses Varco ungreifbar und unverständlich. An einer Stelle jedoch ist es Compton gelungen, diesen abstrakten Begriff ein wenig präziser zu fassen:

Im Bäckerladen, der das Einkaufszentrum tarnte, legte Joseph die frischgebackenen Brote in die Regale. David wurde durch den Geruch des Brotes etwas aufgemuntert. Dieser Duft war für ihn die Garantie fester, solider Verhältnisse. Er stellte Kontinuität dar, eine Vergangenheit, die sacht durch die Gegenwart in eine vorhersehbare Zukunft floß. Das war natürlich Unsinn. Wenn er daran glaubte, war er hier im Dorf fehl am Platz. (S. 24)

Hier liegt Davids Interpretation des Zeitbegriffs sehr deutlich das Interesse zugrunde, die Zeit als Ordnungsfaktor zu gebrauchen: Er hält sich an den sich ständig wiederholenden Ereignissen fest, die ihm dazu verhelfen, sich selbst in dieser festen Ordnung einen Platz zu geben - womit er nichts anderes tut, als seinem Dasein Sinn und Bedeutung zu verleihen. Sollte das die eigentliche Funktion von `Zeit' sein?


D. G. Compton
Die Zeit-Moleküle
Titel der Originalausgabe: Cronocules
Bastei-Lübbe, 1971