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REZENSION/037: Nadolny - Die Entdeckung der Langsamkeit (Philosoph.) (SB)


Sten Nadolny


Die Entdeckung der Langsamkeit

Philosophischer Roman



Sten Nadolny hat die Lebensgeschichte des englischen Seefahrers, Polarforschers und tasmanischen Gouverneurs John Franklin (1786-1847) zu einem Roman verarbeitet, in dessen Mittelpunkt die Überlegungen zur Langsamkeit stehen, die sein Romanheld aufgrund seiner besonderen Konstitution anstellt. Nadolny läßt Franklin sehr anschaulich in der Ich-Form berichten, gibt aber freimütig zu, daß er zwar viele Details aus alten Aufzeichnungen über Franklins Leben verwendet, aber auch wesentliche Punkte verändert oder frei erfunden hat.

Interessant ist die Person John Franklins vor allem deshalb, weil er ein besonderes Problem hat: seine anfangs sogar mit Schwachsinn verwechselte Langsamkeit. Aus irgendeinem Grund ist Franklin nicht in der Lage, auch nur annähernd so schnell zu reagieren oder sich zu bewegen wie seine Altersgenossen. Er kann keinen Ball fangen, kann den schnell gesprochenen Worten seiner Spielkameraden ebensowenig folgen wie deren Bewegungen, so daß sie für ihn unvermutet aus dem Nichts auftauchen oder sich urplötzlich wieder darin auflösen.

Franklins Langsamkeit macht ihn schon als Kind in seiner Umgebung zur Zielscheibe für Spott und Aggressionen, selbst sein eigener Vater schämt sich seiner und versucht ihn durch häufiges Prügeln aus seiner "Verschlafenheit" zu wecken. Nach einer Reihe erniedrigender Erlebnisse beschließt der Knabe John Franklin, Schnelligkeit zu lernen.

Nadolny ist es gelungen, dem Leser die Probleme und Gedanken eines Kindes, das feststellen muß, den anderen weit unterlegen zu sein, nachvollziehbar darzustellen. Er läßt Franklin dabei wie einen Forscher und Entdecker vorgehen, der mit Selbstmitleid oder Beschuldigungen keine Zeit verschwendet. Die bewundernswerte Konsequenz, mit der Franklin die eigene Langsamkeit studiert, ohne sich durch die Reaktionen seiner Umgebung allzu sehr beeinflussen zu lassen, wird dem Leser anschaulich vor Augen geführt. Zwischen seinen diesbezüglichen Überlegungen tauchen immer wieder interessante Gedanken auf, die sich nur jemand macht, der sich für die Dinge Zeit nimmt.

Weil er in der überschaubaren Umgebung, die ein Schiff darstellt, seine Langsamkeit besser ausgleichen kann und um den ständigen Erniedrigungen in seinem Heimatort zu entgehen, beschließt Franklin schon in sehr jungen Jahren, Seemann zu werden. Durch beharrliches Auswendiglernen sämtlicher Details des Schiffes und das Zurechtlegen nichtssagender Antwortfloskeln zum Zwecke des Zeitgewinns kann Franklin seine Langsamkeit soweit kompensieren, daß die anderen Seeleute einigermaßen mit ihm auskommen. Dabei zeigt sich, daß er über besondere Fähigkeiten verfügt, beispielsweise kann er stundenlang im Ausguck sitzen, ohne in seiner Aufmerksamkeit nachzulassen. Auch sein Gedächtnis erweist sich als außergewöhnlich, was ihn als langsamen, aber sehr zuverlässigen Signalgeber qualifiziert. Besonders interessiert ist Franklin an der Navigation, und seine (lange dauernden) Berechnungen erweisen sich als besonders präzise.

Nachdem es Franklin aufgrund einer "Eingebung" gelungen ist, die Zerstörung eines Schiffes durch die Kanonen eines feindlichen Seglers zu verhindern und bei einer anderen Gelegenheit das Leben seiner mit ihm gestrandeten Kameraden zu retten, die er vor voreiligen Handlungen bewahrt, wird er beinahe zu Helden. Schließlich erhält er das Kommando über ein Forschungsschiff und unternimmt seine erste Arktis-Expedition.

Doch Franklin, der mit der Zeit immer selbstzufriedener wirkt, scheint ganz von seinem ehemaligen Ziel, die Langsamkeit zu überwinden, abgekommen zu sein. Statt dessen hat er sie zu seiner Überlebensstrategie erklärt, die er das "Franklinsche System" nennt.

Die Geistesgegenwart, zur Regel erhoben, schuf keine Gegenwart und keinen Gesichtspunkt. John setzte auf die Geistesabwesenheit und war sich seiner Sache sicher. Er dachte daran, ein System zu entwerfen, nach dem man leben und Schiffe führen konnte. Vielleicht fing mit ihm, John Franklin, ein neues Zeitalter an? (S. 193)

Die Entdeckungsfahrt in die Arktis will Franklin unter anderem dazu nutzen, die Richtigkeit seines Systems unter Beweis zu stellen. Etwa ab diesem Zeitpunkt beginnt der Forscher und Entdecker Franklin sich immer mehr zum Pedanten und Besserwisser zu wandeln, auch wenn es nicht die Absicht des Autors zu sein scheint, ihn als solchen darzustellen. Selbst die Tatsache, daß er bei seiner ersten Expedition beinahe umkommt und ein großer Teil seiner Mannschaft verhungert, kann sein durch die vorausgegangenen Ehrungen bestätigtes Weltbild nicht mehr zum Schwanken bringen.

""Die Admirale werden jeden Erfolg vermissen. Sie werden glauben, ich sei der falsche Mann. Es stimmt auch." Er schwieg. "Aber wenn man alles ganz anders betrachtet, dann bin ich der richtige, und ein besserer ist nicht zu haben. Ich werde den Admiralen helfen müssen, das so zu sehen." John Franklin faßte wieder Mut. Seiner selbst war er ohnehin, auch in den schlimmsten Augenblicken, sicher geblieben." (S. 266)

Daß er möglicherweise zu langsam war, um sich und seine Mannschaft etwa durch die Jagd zu ernähren (wie es die dortigen Indianer taten), nimmt er einfach als Gegebenheit hin. Er ist offenbar nur noch bereit zu lernen, was seiner Grundidee vom besonderen Wert der Langsamkeit entspricht.

Im folgenden verfestigt sich immer mehr der Eindruck, daß Franklin sich mit seiner Langsamkeit identifiziert, statt sie weiterhin zum Entwickeln wichtiger Fragen zu benutzen. Was zunächst ein Hindernis darstellte, an dem er wachsen konnte, wird schließlich zum reinen Selbstzweck, zur Charaktereigenschaft. Der positive Ansatz Franklins, zunächst nur von der eigenen Reichweite auszugehen, erstarrt im Rezept "Langsamkeit". Der nächste Schritt hätte die Vergrößerung der Reichweite sein müssen, statt zu versuchen, das soziale Umfeld den eigenen Bedürfnissen anzupassen.

"Er hatte jetzt den Mut, [...], anderen die eigene Geschwindigkeit aufzuzwingen zum Besten aller: "Ich bin langsam. Richten Sie sich bitte danach!" (S. 192)

Der Gedanke, daß nicht nur er selbst, sondern - relativ gesehen - alle anderen Menschen ebenso das Problem haben, für die auf sie einstürmende Realität zu langsam zu sein, würde wohl seine Besonderheit zu sehr gefährden, und er zieht es daher vor, sich mit sich selbst zu beschäftigen. Darüber hinaus wird immer deutlicher, daß er unter dem Vorwand des Erfolgs seiner Langsamkeit eigentlich nur eine Lebensweise sucht, die ihn einerseits überlegen erscheinen läßt und andererseits seiner Trägheit entgegenkommt. Er sucht etwas Beständiges, an dem er sich orientieren und woran er sich anlehnen kann, denn:

Er geriet bei allen jähen Veränderungen in Verwirrung, seien es Sitzordnungen, Verhaltensweisen oder Koordinatensysteme. (S. 63)

Solche Sätze lassen es eher zweifelhaft erscheinen, daß es die Entdeckerlust war, die ihn zu seinen Fahrten ins Unbekannte bewogen hat. Wahrscheinlicher erscheint es, daß ihn die Sucht des Vielgeschmähten nach Anerkennung in die Eiswüste trieb. Auch der Wunsch, überlegen zu erscheinen, hat offensichtlich eine wesentliche Rolle gespielt, wie Franklin es vor seiner letzten Reise in die Arktis selbst formuliert:

""Ein, zwei Jahre sind eine Lange Zeit", antwortete der Leutnant. "Das meine ich auch", murmelte John. Er rechnete eher mit drei Jahren und dachte belustigt an alle Fortschrittsgläubigen, die auf der Seekarte nördlich Kanadas eine Linie durchs Inselgewirr zeichneten, mit dem Finger darauf entlangfuhren und annahmen, die Schiffe würden diesem folgen, nur etwas langsamer. Tausend Meilen segeln, dann acht Monate im Eis warten, dann wieder einige hundert Meilen segeln und wieder warten - jeder Begriff von Langsamkeit würde solche Leute schon bald verlassen haben. Nach drei Monaten Wartezeit würden sie nicht mehr an Bewegung glauben und den Verstand verlieren." (S. 343)

In der Einöde des Eismeeres wurden die Zeitbegriffe der Zivilisation bedeutungslos und damit verlor sich jeglicher Maßstab für Langsamkeit oder Schnelligkeit. Ähnlich einem Blinden, der in der Dunkelheit zunächst den Sehenden überlegen ist, kommt Franklin mit der Reizarmut der arktischen Weite besser zurecht als andere. Was für ein armseliger Triumph. Das Überlebenssystem Langsamkeit, abgeleitet von dem so brauchbaren Grundgedanken von der Einhaltung der Reichweite, scheitert letztlich doch an der Realität. Franklin stirbt im ewigen Eis und die gesamte Besatzung mit ihm. Wie viele falsche Hoffnungen er noch durch sein vorgeblich überlegenes Lebenskonzept geweckt haben mag, deutet folgende Aussage an:

Franklin lebte. Er war langsamer als der Tod, das konnte die Rettung sein. (S. 349)


Fazit

Abgesehen davon, daß "Die Entdeckung der Langsamkeit" ein recht unterhaltsamer Roman ist, sofern man sich ein wenig für Seefahrer und Entdecker um das Jahr 1800 interessiert, enthält er manchen bemerkenswerten Gedanken. Daß in Nadolnys Darstellung von Franklins Leben die Bequemlichkeit und die soziale Anerkennung den Sieg davontragen, ist zwar schade, aber üblich und deshalb um so glaubwürdiger.

Gerade für einen Forscher mit Franklins Problemen wird irgendwann die Versuchung zu groß, den nach Lebensrezepten gierenden Mitmenschen einen vermeintlichen Schlüssel zum Erfolg zu präsentieren. Es genügt ihm, auf einigen eng begrenzten Gebieten "besser" als andere zu sein, weil er sich stärker auf die jeweiligen Details konzentriert. Er erkennt nicht mehr, daß er das wirklich Wertvolle an seinen Überlegungen, beispielsweise das Ausgehen von der persönlichen Reichweite oder das nüchterne Erforschen eines Problems, längst über Bord geworfen hat. Sonst wäre ihm ganz sicher irgendwann der Gedanke gekommen, daß er vieles in seinem Leben nicht durch Langsamkeit, sondern durch die Wahl des direktesten Weges erreicht hat.

Ob John Franklin in den Augen von Sten Nadolny letztendlich der allumfassenden Weisheit oder der ultimativen Selbstbestätigung entgegengesegelt ist, läßt sich dem Roman nicht eindeutig entnehmen.


Sten Nadolny
Die Entdeckung der Langsamkeit
Philosophischer Roman
R. Piper & Co., München 1983
ISBN 3-492-02828-4