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REZENSION/081: Christoph Hein - In seiner frühen Kindheit ein Garten (SB)


Christoph Hein


In seiner frühen Kindheit ein Garten

Roman



Obwohl die immer drängenderen sozialen Konflikte, die neoliberale Verödung des Gemeinwesens und die Aushöhlung der Bürgerrechte einer Literatur bedürften, die sich auf dezidiert kritische Weise mit den offenkundigen Widersprüchen zwischen Kapital und Arbeit, zwischen demokratischem Anspruch und autokratischer Praxis beschäftigte, herrscht an dieser Front des künstlerischen Schaffens weitgehend Funkstille. Als ob die Unterdrückung dissidenter Meinungen bereits weit fortgeschritten wäre, feiern ästhetischer Konformismus und schicke Affirmation Triumphe, während die bemühte Auseinandersetzung mit konträren Themen eher ungern gesehen und dementsprechend ablehnend rezipiert wird. So wurde Christoph Heins Versuch, mit seinem neuen Roman "In seiner frühen Kindheit ein Garten" ein dunkles Kapitel bundesrepublikanischer Geschichte aufzuarbeiten und dabei Fragen zum höchst aktuellen Thema der Aufrüstung des Staates gegen seine Bürger aufzuwerfen, durch eher unfreundliche Rezensionen und eine allgemein flüchtige Zurkenntnisnahme quittiert.

Es handelt sich bei dem Werk, das um den Tod des RAF-Mitglieds Wolfgang Grams am 27. Juni 1993 auf dem Bahnhof von Bad Kleinen und die Folgen des nie aufgeklärten Tathergangs für seine Eltern kreist, nur bedingt um einen Roman zur Auseinandersetzung zwischen BRD und RAF. Indem sich Hein in fiktionalisierter Form den Zweifeln der Eltern des laut Zeugen von Beamten der BGS- Eliteeinheit GSG 9 regelrecht hingerichteten Wolfgang Grams an der offiziellen Version des Geschehens widmet, baut er ein komplexes Geflecht von Unvereinbarkeiten zwischen verordneter und erlebter Wahrheit, zwischen autoritär durchgesetzter Staatsräson und bürgerlichem Eigensinn auf. Obwohl Hein seinem Roman voranschickt, daß "die namentlich genannten Personen (...) frei erfunden" seien, bietet er dem Leser an, die damaligen Ereignisse in detaillierter Form Revue passieren zu lassen und sich ein Bild vom Ausmaß der grotesken Verdrehungen zu machen, mit denen jeder Zweifel an der Selbstmordthese, die das Ergebnis der amtlichen Untersuchung des Tathergangs darstellt, unterdrückt werden sollte. Letztlich unaufgeklärt blieb auch, wie der BGS-Beamte Michael Newrzella ums Leben kam. Zwar wurde sein Tod Grams angelastet, doch erwiesen ist lediglich, daß er bei der Schießerei zwischen diesem und seinen Verfolgern starb. Genauere Erkenntnisse blieben auf der Strecke einer polizeilichen Beweissicherungsarbeit, deren Ergebnis darin bestand, das Gegenteil dessen, was sie leisten sollte, bewirkt zu haben.

Immerhin hatten die Ungereimtheiten zwischen öffentlicher Darstellung und tatsächlichem Tathergang zur Folge, daß Bundesinnenminister Rudolf Seiters und Generalbundesanwalt Alexander Stahl zurücktreten mußten. Wieso genau sie ihren Hut nahmen, blieb ebenfalls im dunkeln und bietet damit reichlich Stoff für das Hinterfragen von Staatsschutzlegenden. Darum geht es Heins Protagonisten Richard Zurek, einem pensionierten Schuldirektor und Staatsbürger, wie er im Buche steht, und zwar in dem Maße mehr, je geringer die Mitteilungsbereitschaft der Behörden zum tatsächlichen Schicksal seines Sohnes Oliver ist. Mit der Hartnäckigkeit eines Mannes, der gerade deshalb, weil er die Ideale des demokratischen Rechtsstaats ein Leben lang ernstnahm, wissen will, was er tatsächlich an diesen hat, durchleuchtet er die ihm angebotenen Camouflagen, um sich zu guter Letzt, wie er es bereits als Soldat der Wehrmacht getan hat, von einem Eid zu entbinden, der nicht von ihm, sondern dem Staat, auf den er geschworen hat, gebrochen wurde.

Wie Richard Zurek und seine Frau Rike der Geschichte ihres Sohnes Oliver nachspüren, zu dem sie schon lange vor seinem Tod auf dem Bahnhof von Kleinen, als er sich Mitte der achtziger Jahre der RAF anschloß und in den Untergrund ging, jeden Kontakt verloren hatten, schildert Hein als Chronologie einer Emanzipation, bei der die Eltern über die Zwänge und Illusionen bürgerlicher Konformität hinauswachsen und es sich in der Unwirtlichkeit einer gesellschaftlichen Außenseiterposition auf erstaunlich gemütliche Weise einrichten. Die Schmähungen und Beleidigungen, die sie erleiden, als die Ereignisse von Kleinen die Schlagzeilen bestimmen, tun das ihrige dazu, daß sich in ihrem familiären und gesellschaftlichen Umfeld Klüfte auftun, wie sie entstehen, wenn man an der Substanz politischer Lebenslügen rührt. Man bekommt es mit einem gesellschaftlichen Konsens zu tun, der schmerz- und harmlos erscheint, solange man ihn bedenkenlos gutheißt, der seine aggressive Schärfe jedoch nicht verbergen kann und will, wenn man sich aus dem Gehege politisch und medial geschützter Glaubensformeln entfernt.

Zurek muß feststellen, daß der "Dom der Lüge", den er mit den Nachforschungen um die Todesumstände seines Sohnes betreten hat, "höher und unvollständiger" ist, "als wir es uns vorstellen können", wie ihm sein Anwalt bestätigt, der sich mit großem persönlichen wie politischen Engagement um die Klärung des Falles bemüht. Obwohl einzelne Repräsentanten des Staates fast panisch auf das Insistieren eines Bürgers reagieren, der nichts anderes tut, als die ihm zustehenden Rechte auszuschöpfen, funktionieren die bürokratischen und institutionellen Sperranlagen, auf die Zurek bei seinen Nachforschungen stößt, mit der Routine einer gut geölten Verdrängungsmaschine. Daß er vom Sekretariat des Ministers, den er vergeblich bittet, ihm endlich den Grund für seinen Rücktritt zu nennen, als "Querulant" abserviert wird, kann den gestandenen Pädagogen nur noch erheitern. Die Desillusionierung nimmt ihren Lauf und beschert dem alten Ehepaar die Freiheit derer, die dem Leviathan furchtlos in die Augen blicken, weil sie nichts mehr zu verlieren haben.

Daß Zurek schließlich den Zweifeln seiner Schüler Recht gibt, denen er früher die Ideale der Demokratie und die Verläßlichkeit des Rechtsstaats predigte, bedeutet jedoch nicht, daß er sich die politischen Positionen seines Sohnes zu eigen macht. Alles, was Wolfgang Grams alias Oliver Zurek betrifft, findet in der Rückschau seiner Eltern statt, denen der Buchtitel "In seiner frühen Kindheit ein Garten" programmatischer Bezugspunkt auf die für immer verlorene und damit auf ewig erhaltene kindliche Idylle bleibt. Während Olivers Schwester Christin, die mit ihrem nur schemenhaft auftauchenden Karrieristen von Ehemann die fahle Gesichtslosigkeit des auf Erfolg und Opportunität konditionierten Subjekts der pluralistischen Einheitsgesellschaft verkörpert, den Part der Apologetin staatlicher Integrität übernimmt und ihren Bruder rundheraus dafür verurteilt, das Gewaltmonopol des Staates in Frage gestellt zu haben, ergeht sich der humanistische Pädagoge beim Verfolgen der geistigen Pfade, auf denen sein Sohn wandelte, in religiös verklärter Schwärmerei über die idealistischen Ziele kommunistischer Weltverbesserung, deren gewalttätige Umsetzung allerdings die Bergpredigt dementiert, bevor sie überhaupt vernommen wurde. An seiner Mißbilligung einer politischen Radikalität, die den grundgesetzlich gewährten Freiraum legalen Widerspruchs überschreitet, läßt der Autor keinen Zweifel.

Präzisiert wird der Widerspruch aus zutiefst menschlichem Streben und unmenschlichem Tun in einem Brief Katharina Blumenschlägers, die in Heins Roman die Rolle der in Kleinen festgenommenen und zu lebenslänglicher Haft verurteilten Birgit Hogefeld einnimmt:

"Irgendwie und irgendwo steckten wir alle in einem unauflösbaren Dilemma, das uns genau zu dem Gegenteil dessen führte, was wir wollten und beabsichtigten. Es gab Dummheiten, es gab auch Schlimmeres, und einige von uns werden wohl lebenslang mit dem zu tun haben, was sie getan haben. Und mit diesem Lebenslang meine ich nicht eine Gefängnisstrafe. Unsere Menschlichkeit kann uns zu Unmenschlichkeiten führen, das ist widersinnig und empörend, aber ich habe es erleben müssen. Das Ungeheuer sind nicht wir, wir haben nur versucht, das Ungeheuerliche nicht hinzunehmen. Das war unser Fehler, das ist die eigentliche Schuld, die wir auf uns geladen haben. Aber ich habe auch begriffen, dass all diese Entscheidungen, unser militantes Auftreten und selbst die grauenhaftesten Aktionen eine viel engere Verbindung zur Geschichte des Landes haben, als der Öffentlichkeit und den Gerichten bewusst ist." (S. 192)

Dieser Zusammenhang bleibt in einem Dunkel, das Christoph Hein nicht erhellen möchte, vielleicht weil die zur Einsicht in die Unüberbrückbarkeit systemischer Widersprüche gelangte Katharina Blumenschläger nicht mehr Opfer sein will wie Heinrich Bölls Figur Katharina Blum, die in den siebziger Jahren unter die Räder der Hetzpresse geriet. Olivers überlebende Freundin weiß gerade aufgrund der von ihr gewagten Konfrontation sehr genau, daß die Öffentlichkeit ihre Handlungsmotive nicht akzeptieren kann und will. So wirkt die politische Problematik, die für die RAF konstitutiv war, in dem Buch wie eine Fabel aus der Vorzeit der sogenannten Berliner Republik.

Darin wird eine Distanz zur Bundesrepublik erkennbar, die nicht nur der DDR-Biographie Heins zuzuschreiben ist, sondern die auch von rückschrittlichen gesellschaftlichen Verhältnissen und der Lähmung emanzipatorischer Tatkraft kündet. Linkes Denken ist längst nicht mehr hegemonial und als revolutionäre Bedrohung herrschender Verhältnisse unbedeutender denn je. Um so unbehinderter feiert die Staatsräson Siege über jene bürgerrechtliche Liberalität, die Heins Protagonist repräsentiert. Der scharfe Kontrast, in dem die bisweilen spröde wirkende Besinnlichkeit und Beharrlichkeit, mit der das Ehepaar Zurek seinen Weg durch die Instanzen einer widrigen Staatsgewalt nimmt, zum bunten Gepränge der marktförmig inszenierten Zivilgesellschaft maximal flexibilisierter Überlebenskünstler steht, ist auch Gradmesser einer politischen Degeneration hin zu im Wortsinne notgedrungen akzeptierter Unabänderlichkeit herrschender Verhältnisse.

Indem Christoph Hein am Beispiel der Eltern von Wolfgang Grams schildert, daß man dem in aller gesetzlich kontrollierten Berechenbarkeit seines Wirkens durchaus auch aggressiv und willkürlich intervenierenden Staat Paroli bieten kann, bricht er eine Lanze für das kaum noch auszumachende Subjekt des demokratischen Gemeinwesens. Ohne dessen Mut und Unbescheidenheit ist die Ohnmacht, die die Sachzwanglogik kapitalistischer Verhältnisse suggeriert, nicht zu überwinden.

27. März 2005


Christoph Hein
In seiner frühen Kindheit ein Garten
Roman
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2005
272 Seiten, 17,90 Euro
ISBN 3-518-41667-7