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REZENSION/096: Marguerite Duras - L'Amant (Französisch) (SB)


Marguerite Duras


L'Amant



L'histoire de ma vie n'existe pas. Ça n'existe pas.
Il n'y a jamais de centre. Pas de chemin, pas de ligne.
Il y a de vastes endroits où l'on fait croire qu'il y
avait quelqu'un, ce n'est pas vrai il n'y avait personne.
(S. 10)

Die Geschichte meines Lebens existiert nicht. So etwas gibt
es nicht. Es gibt nie ein Zentrum. Keinen Weg, keine Linie.
Es gibt weite Bereiche, in denen man glauben macht, es habe
jemanden gegeben, das ist nicht wahr, da war niemand.

Der vorliegende Roman der bekannten französischen Schriftstellerin und Drehbuchautorin Marguerite Duras (gest. 1996) ist eines ihrer späteren Werke. Das Buch ist 1984 erstmals in Frankreich erschienen; die 1914 bei Saigon geborene Autorin zählt zu jener Zeit bereits 70 Jahre. Sie greift damit ein Thema auf, dem sie sich bereits in ihrem 1950 erschienen Roman "Un barrage contre le Pacifique" (deutsch: "Heiße Küste") gewidmet hat: das Leben einer französischen Familie in Vietnam. Sie wählt jedoch einen anderen Aspekt und rückt sich und ihre Liebe zu einem chinesischen Millionenerben in den Mittelpunkt, von der sie bisher geschwiegen hat.

Selbst sagt sie dazu:

L'histoire d'une toute petite partie de ma jeunesse je l'ai
plus ou moins écrite déjà, enfin je veux dire, de quoi
l'apercevoir, je parle de celle-ci justement, de celle de
la traversée du fleuve. Ce que je fais ici est différent, et
pareil. Avant, j'ai parlé des périodes claires, de celles
qui étaient éclairées. Ici je parle des périodes cachées de
cette même jeunesse, de certains enfouissements que j'aurais
opérés sur certains faits, sur certains sentiments, sur
certains événements. J'ai commencé à écrire dans un milieu
qui me portait très fort à la pudeur. Écrire pour eux était
encore moral. Écrire, maintenant, il semblerait que ce ne
soit plus rien bien souvent.
(S. 10)

Viel ist darüber gerätselt worden, ob Marguerite Duras in diesem Buch ihre tatsächliche Geschichte erzählt und zahlreiche Indizien wurden dafür angeführt. Verschwiegen, vielleicht sogar tabuisiert, wird dabei, daß die wahre Geschichte zu erzählen schon eine Menge erheblicher Probleme aufwirft, nicht zuletzt die Schwierigkeit, sich genau zu erinnern. Ohne die Orientierung durch ein dezidiert geführtes Tagebuch, die Konsultation von persönlichen und von Zeitdokumenten sowie die Aussagen von Zeitgenossen und Wegbegleitern ist dies nahezu unmöglich. Darüber hinaus können schon zwei Personen, die ein Erlebnis schildern, so sehr differieren, daß kaum eine Gemeinsamkeit des Erzählten zu erkennen ist. Bedenkt man die grundsätzliche Schwierigkeit, sich an auch nur kurz Vergangenes genau zu erinnern und mit anderen über Erlebtes übereinzustimmen, stellt sich die Frage, was wahr und Realität bezüglich der eigenen Lebensgeschichte eigentlich sein sollen.

Unter diesen Voraussetzungen läßt sich sagen: Natürlich erzählt Marguerite Duras ihre eigene Geschichte, das hat sie schon immer getan. Sie erzählt so, wie sich die Erinnerung einzustellen pflegt: in Bruchstücken, einzelnen Szenen, Interpretationen, Wiederholungen und Ergänzungen, nicht chronologisch, manchmal in Andeutungen und verschwommenen Bildern, manchmal in kalter Deutlichkeit, dann wieder in Vermutungen und Rückschlüssen. Sie ist mit dieser Art zu schreiben sehr ehrlich, wenn man bedenkt, wieviel hätte geglättet werden können, und gerade in diesen Bruchstücken ausgesprochen auskunftsreich über ihre innere Situation sowie das persönliche Umfeld, in dem sie sich bewegt.

In den Mittelpunkt stellt die Autorin, wie im obigen Zitat erklärt, die Fahrt mit der Fähre über den Fluß, die sie wie üblich nach den Ferien auf dem Weg zurück ins Pensionat in Saigon benutzt. Sie ist fünfzehneinhalb Jahre alt, allein.

Je descends toujours du car quand on arrive sur le bac, la nuit
aussi, parce que toujours j'ai peur, j'ai peur que les câbles
cèdent, que nous soyons emportés vers la mer. Dans le courant
terrible je regarde le dernier moment de ma vie. Le courant est
si fort, il emporterait tout, aussi bien des pierres, une
cathédrale, une ville. Il y a une tempête qui souffle à
l'intérieur des eaux du fleuve. Du vent qui se débat.
(S. 14)

Die Erzählung dieser Geschichte bildet den Faden des Buches und gibt ihm den Titel "L'Amant - Der Liebhaber". Hier begegnet sie diesem zum ersten Mal, steigt in die Limousine des jungen, reichen Chinesen, der in Paris gelebt hat, sich ihr schüchtern und dennoch im Wissen seiner Möglichkeiten nähert. Für sie scheint es etwas Unausweichliches zu haben, auf diese Annäherung einzugehen. Dem Leser wird dies, wenn er im Laufe des Buches mehr über ihre familiäre Situation erfährt, erklärlich. Die Mutter lebt seit dem Tod des Vaters vor mehr als 11 Jahren in unsicheren finanziellen Verhältnissen als Grundschullehrerin im Vietnam. Sie leidet unter Depressionen. Außer ihrer Tochter Marguerite hat sie noch zwei Söhne: der ältere neigt zu Gewalt und dominiert die Familie, an ihm hängt sie am meisten; der jüngere Bruder ist sanft und wird von dem älteren unterdrückt und gequält. Marguerite steht dazwischen. Sie befindet sich nicht nur in der Familie dazwischen, sondern auch mit Sicht auf die gesellschaftlichen Verhältnisse im besetzten Vietnam in einer Außenseiterposition.

Elle entre dans l'auto noire. La portière se referme. Une
détresse à peine ressentie se produit tout à coup, une fatigue,
la lumière sur le fleuve qui se ternit, mais à peine. Une
surdité très légère aussi, un brouillard, partout.
(S. 40)

Je ne ferai plus jamais le voyage en car pour indigènes.
Dorénavant, j'aurai une limousine pour aller au lycée et me
ramener à la pension. Je dînerai dans les endroits les plus
élégants de la ville. Et je serai toujours là à regretter tout
ce que je fais, tout ce que je laisse, tout ce que je prends,
le bon comme le mauvais, le car, le chauffeur du car avec qui
je riais, les vieilles chiqueuses de bétel des places arrières,
les enfants sur les porte-bagages, la famille de Sadec,
l'horreur de la famille de Sadec, son silence génial.
(S. 41)

Sie läßt sich auf ein zu jener Zeit unmögliches Verhältnis ein, das auf keinen Fall offiziell bekannt werden darf. Viele ahnen es natürlich. Sie ist zu jung, und er macht sich strafbar, aber er scheint ihr verfallen. Ihre Familie läßt sich ausführen und behandelt ihn mit Verachtung, der ältere Bruder wird besonders fordernd und ausfallend. Die Chinesen in Vietnam sind geduldet allein aufgrund ihres Geldes. Außer Marguerite wechselt niemand ein direktes Wort mit ihm, sie muß die Wünsche ihres Bruders übermitteln. Neben der Affäre mit dem Mann, dessen Namen die Autorin nicht nennt, finden ausgiebig die Familie und deren tragische Entwicklung, sowie einige spätere Erinnerungen Platz in dem Werk.

Was man nicht findet, ist - abgesehen von ein paar vagen und auch noch interpretierbaren Andeutungen - eine Darstellung oder kurze Analyse ihrer Stellung im Land. Ganz ohne Zweifel ist es an dieser Stelle nicht das Anliegen von Marguerite Duras, Position gegen den Kolonialkrieg und die französische Okkupation Vietnams zu beziehen. Das ist nicht zuletzt deshalb bedauerlich, weil die Autorin die deutsche Besetzung Frankreichs am eigenen Leibe erlebt und sich an der Résistance beteiligt hat. Sie gehörte darüber hinaus zu jenen, die nach dem Krieg im Namen der Gerechtigkeit und eigener Justiz Kollaborateure unerbittlich verfolgten. Sie könnte es also zu dem Zeitpunkt, an dem sie diese Erinnerungen aufschreibt, besser wissen und aus der eigenen Erfahrung heraus der Lage der Vietnamesen einige Worte widmen. Daß sie dieses nicht tut, zeigt im Grunde, daß sie auf dem Stand jener jungen Frau 1930 in Vietnam stehengeblieben ist. Das Buch stellt so in realistischer Weise das Leben von Menschen dar, die sich vielleicht ein wenig, aber nicht existentiell und kaum reflektiert, von den politischen Machtverhältnissen betroffen sehen und - persönliche Sorgen dahingestellt - davonkommen.

Wie war nun die Situation in Vietnam zu jener Zeit?
Die koloniale Eroberung Vietnams durch die Franzosen geht bis weit ins 18. Jahrhundert (missionarische Umtriebe) zurück, Kotschinchina (Südvietnam) steht seit 1862 unter französischer Herrschaft, Annam (Zentralvietnam) seit 1883. 1884 tritt der Kaiser alle Souveränitätsrechte an Frankreich ab und damit auch die Macht über Tongking (Nordvietnam), das Gebiet mit dem erbittertsten Widerstand gegen koloniale wie feudale Unterdrückung. Zwecks besseren Zugriffs werden die drei genannten Regionen in abgetrennte Verwaltungsbezirke überführt. In Duras Schilderungen haben wir es mit Kotschinchina, dem Gebiet, das schon am längsten unter französischer Herrschaft steht, zu tun. Zur fraglichen Zeit ist der ursprüngliche feudale, vietnamesische Machtapparat vollkommen in die französische Kolonialverwaltung integriert, die vietnamesische Führung kollaboriert. Eine Reihe von (Bauern-)Erhebungen ist bereits von den Franzosen niedergeschlagen worden, der Volkswiderstand, der sich im Norden besonders wirksam organisiert, jedoch nie völlig erstickt. Im Zuge der Weltwirtschaftskrise, deren Folgen die Kolonialherren in der Hauptsache den bereits Ausgebeuteten auflasten (ein Drittel der Arbeiter und ein Zehntel der Angestellten werden entlassen, die Löhne sinken um 50-80%, die Steuern werden um bis zu 400% erhöht...), werden die Verhältnisse für die Mehrzahl der unter Apartheidsbedingungen lebenden Menschen so unerträglich - eine Hungersnot fordert im Norden Zentralvietnams über 100.000 Menschenleben - und wächst der Haß gegen die Unterdrücker in einem solchen Ausmaß, daß der Widerstand einen ungeheuren Zulauf erhält.

Über ihr Elendsdasein hält der französische Geograph und Indochina-Kenner Gouro fest:

Hunger und Elend haben die hier soll vielleicht ein Absatz
hin tongkinesischen und annamitischen Bauern gezwungen, auf hier
soll vielleicht ein Absatz hin Insekten Jagd zu machen, die sie
dann gierig verzehren. In Tongkin fängt man Heuschrecken,
Grillen, Eintagsfliegen,
sammelt einige Raupen und Bambuswürmer und schreckt auch
nicht davor zurück, die Puppen der Seidenraupe zu essen.
Jedermann weiß, dass
dort ständig Hungersnot herrscht. (aus: Irene und Gerhard
Feldbauer,

Sieg in Saigon -
Erinnerungen an Vietnam", S. 135)

Nur im nebenherein erscheint in "L'Amant" doch das eine oder andere Indiz für die gesellschaftliche Situation, sei es, daß die junge Frau im Bus als Weiße vorn neben dem Fahrer sitzt oder sich nicht nur aus Altersgründen nicht offen zu ihrem chinesischen Liebhaber bekennen kann. Ihre Familie gehört nicht zu jenen, die von den Verhältnissen profitieren. Die Mutter, die sich mit einem Grundstückskauf verspekuliert hat (das Stück Land wird regelmäßig vom Meer überflutet und ist für den Anbau nicht geeignet), scheitert an der kolonialen Bürokratie. In Zusammenhang mit den wiederkehrenden Betrachtungen über die Veränderung ihres Gesichts zu einem bestimmten Zeitpunkt ihrer Jugend beschreibt Marguerite Duras, daß sie zwar arm waren, aber nicht hungerten, sich den "Luxus" leisten konnten, etwas nicht essen zu wollen, und einen Boy hatten, der auftrug.

On m'a souvent dit que c'était le soleil trop fort pendant
toute l'enfance. Mais je ne l'ai pas cru. On m'a dit aussi que
c'était la réflexion dans laquelle la misère plongeait les
enfants. Mais non, ce n'est pas ça. Les enfants-vieillards de
la faim endémique, oui, mais nous, non, nous n'avions pas faim,
nous étions des enfants blancs, nous avions honte, nous
vendions nos meubles, mais nous n'avions pas faim, nous avions
un boy et nous mangions, parfois, il est vrai, des saloperies,
des échassiers, des petits caïmans, mais ces saloperies
étaient cuites par un boy et servies par lui et parfois aussi
nous les refusions, nous nous permettions ce luxe de ne pas
vouloir manger. (S. 8-9)

Man mag sich fragen, was letztlich Marguerite Duras genau dazu bewogen hat, im Alter eine Art Beichte über einen Teil ihrer Jugend abzulegen, den sie bisher wohlweislich im Verborgenen gehalten hatte. Ihre oben zitierte Stellungnahme in "L'Amant" steckt das Umfeld ab. Hinzu scheint eine Art Wehmut zu kommen, die im Abschluß des Buches ihren Ausdruck findet, in dem sie den Anruf ihres chinesischen Liebhabers schildert, Jahre nach dem Krieg, als er mit seiner Frau Paris besucht und der Autorin gesteht, er liebe sie noch immer, er werde sie bis an sein Lebensende lieben.

Des années après la guerre, après les mariages, les enfants,
les divorces, les livres, il était venu à Paris avec sa femme.
Il lui avait téléphoné. C'est moi. Elle l'avait reconnu dès
sa voix. Il avait dit: je voulais seulement entendre votre
voix. Elle avait dit: c'est moi, bonjour. Il était intimidé,
il avait peur comme avant. Sa voix tremblait tout à coup. Et
avec le tremblement, tout à coup, elle avait retrouvé l'accent
de la Chine. (S. 133)

Für "L'Amant" erhielt die Autorin den Prix Goncourt, den höchsten französischen Literaturpreis. Das Buch wurde in 25 Sprachen übersetzt und von Jean-Jacques Annaud verfilmt. Marguerite Duras schrieb nach der Verfilmung, mit der sie sehr unzufrieden war, ein eigenes Drehbuch, das als Roman veröffentlicht ("L'amant de la Chine du Nord") wiederum auf große Resonanz stieß. Der große Erfolg des Werkes läßt sich wohl nicht zuletzt dadurch erklären, daß es einen weiten Raum zur Identifikation bietet. Ein Teil speist sich gewiß wiederum aus Neugier der großen alten Dame gegenüber, die mit ihrem Werk aufgrund ihrer mal verfremdenden und verschleiernden, mal sezierenden und allzu genauen psychologischen Schilderung zwischenmenschlicher Ratlosigkeit, Verzweiflung und Gewalt schon manche Irritation ausgelöst hat. Es soll hier nicht unterstellt werden, daß es die teilweise erotisch gefärbte Darstellung der Affäre und das Skandalöse an ihr sind, die das hauptsächliche Interesse erregen, dennoch mag auch ein gewisser Voyeurismus bedient werden. Zur Zeit der Publikation ist das gesellschaftliche Klima im übrigen sehr günstig für diese Art von Offenheit.



Dieses Buch ist für den Französischunterricht konzipiert und letztlich für jeden interessant, der sich mit Marguerite Duras beschäftigen möchte. Besonders das umfängliche Nachwort ist hierfür zu empfehlen. Es bietet reichlich Anregung für die weitere Beschäftigung mit Autorin und Werk. Anmerkungen, ein kurzer französischer Text des Herausgebers über Indochina im Jahre 1930, eine Übersicht über die Schauplätze des Werks in Form einer kleinen Karte, Literaturhinweise, Vokabelhilfen und Arbeitsvorschläge für den Unterricht ergänzen die Reclam-Ausgabe. Weitere Bücher von Marguerite Duras sind bei Suhrkamp erschienen.

Wie Schülern heutzutage ein Zugang zu "L'Amant" erschlossen werden kann, ist fraglich. Es bedarf mit Sicherheit eines ausgefuchsten Engagements des Lehrers, der von der Relevanz der persönlichen Auseinandersetzung der Autorin mit ihrer Wirklichkeit überzeugt sein sollte. Neugier und Leistungsanforderung reichen hier ganz sicher nicht.


Marguerite Duras
L'Amant
Reclams Universal-Bibliothek Nr. 19704
Philipp Reclam jun. Stuttgart, 2006
168 Seiten, Euro 4,80
ISBN-13: 978-3-15-019704-2
ISBN-10: 3-15-019704-X