Schattenblick →INFOPOOL →BUCH → ROMANE

REZENSION/117: Alberto Torres Blandina - Salvador und der Club der unerhörten Wünsche (SB)


Alberto Torres Blandina


Salvador und der Club der unerhörten Wünsche



Einer asiatischen Weisheit zufolge gibt es drei Dinge, die unverzeihlich sind: Einmal das Verderben schönster Kunst durch gemeine Begaffung. Dann das Verderben der Jugend durch schlechte Erziehung. Und schließlich das Verderben besten Tees durch schlechte Zubereitung. Man könnte noch eine vierte Unverzeihlichkeit hinzufügen, die ich einem guten Freund abgelauscht habe, so daß ich mich möglicherweise genau in diesem Moment eben dieser Unverzeihlichkeit schuldig mache: Des derzeit so häufig anzutreffenden Verderbens bester Schriften durch plagiative, abgegriffene Erzählung... anders gesagt: durch parasitäres Geschwätz!

Einmal abgesehen davon, daß den Protagonisten dieses Romans, Don Salvador Fuensanta, einen geschichtenerzählenden Putzmann auf dem Flughafen von ...(ja, wo eigentlich?), dieser Beginn sicherlich zu einer neuen, netten Plauderei angeregt hätte, war doch dies, unter uns gesagt, mein allererster, unmittelbarer Eindruck seiner Geschichten: Geschwätz!

Trendgerecht, im derzeit beliebten Episodenstil werden in dem ins Deutsche übertragenen Erstlingswerk von Alberto Torres Blandina vertraut anmutende Großstadtlegenden, sogenannte "Urban Legends", weitschweifig, wortreich verbrämt, weil ohne konkrete Aussage und Stellungnahme kurzerhand aneinandergereiht. Ungeachtet eines prestigeträchtigen Literaturpreises, mit dem das Werk schon ausgezeichnet wurde, drängte sich mir angesichts des zudem sperrigen Anfangs die Frage auf: "Wer in aller Welt liest denn so etwas...? Wer nimmt sich die Zeit dafür?"

Einmal ehrlich: Ich wollte es eigentlich nicht weiterlesen. Die Präsentation dieser Geschichten strapazierte zunächst in ihrer Unübersichtlichkeit meine an schnelle Effekte angepaßte Lesegewohnheit. Ein bis an die Grenzen der Zuhör-Geduld geschwätziger alter Mann spricht wahllos Fluggäste oder Personal auf dem Flughafen an, drängt jedem von ihnen auf unwiderstehbare Weise eine seiner vielen Lebensansichten, seltsam modernen Mythen oder tragikomischen Geschichten auf. Er plaudert unaufhaltsam, immer ein wenig am Kern der Geschichte vorbei, zu dem er nie zu kommen scheint, bis er den voyeuristischen Zaungast, sprich Leser, mit einem freundlichen Kopfnicken auch noch mitten in der Handlung stehen läßt, um mit seinem Besen ein Stück weiterzuziehen, mit der Dame am Kiosk zu flirten, der Kellnerin in der Kaffeebar eine traurige Liebesgeschichte weiterzuerzählen oder wieder ein neues Gespräch mit einem neuen "Opfer" anzufangen. Das ist ärgerlich und frustierend. Hat doch auch ein zufälliger Zaungast ein Recht auf das Ende der Geschichte - oder nicht?

Auch die monologisierende Erzählweise erschient jedem, der heutzutage normalerweise unter Zeitdruck Texte zu lesen gewohnt ist, höchst gewöhnungsbedürftig. Abgesehen vom Epilog führt etwa 220 Seiten lang nur eine Person das Wort, was dem Leser eine gesteigerte Aufmerksamkeit und Beteiligung abverlangt, um daraus seine Neugier über Charakter, Eigenart und Stimmung des jeweiligen Gesprächpartners zu befriedigen. Der scheinbar plumpe Kunstgriff ist gut gelungen, denn der detektivische Spürsinn ist geweckt, der Sherlock Holmes, der wohl in jedem von uns steckt, macht sich auf, die Fragmente zu ergreifen und im nebenherein zu dem Mikrokosmos zusammenzufügen, in dem Salvador zuhause ist. Man lese nur einmal den Anfang des Buches:

Würden Sie mal kurz die Füße heben, damit ich hier kehren kann? Gut so, danke. Nach Indien, stimmt's?

Ganz einfach. Reiseziele sind wie Frisuren, Schuhe... oder Ehepartner. Wir suchen uns die aus, die am besten zu uns passen.

Meine Nichte hat blonde Strähnchen im Haar liebt hochhackige Schuhe und hat letztes Jahr einen Informatiker geheiratet. Zur Hochzeit waren vierhundert Gäste geladen. Was meinen Sie wohl, wo sie die Flitterwochen verbracht haben? Genau. Entweder Cancún oder auf einem Kreuzfahrtschiff. Also, sie waren in Cancún. Ihr Mann wird seekrank.

Ja, er ist Brillenträger. Gut kombiniert. Sehen Sie, so schwierig ist das gar nicht. Anfangs glaubt man noch an Zufälle, doch je mehr Leute man kennenlernt, desto klarer wird einem, dass Klischees nicht von ungefähr kommen...

Sie zum Beispiel fahren nach Indien, um sich selbst zu finden. Habe ich recht? Nein, Sie machen nicht den Eindruck, als hätten Sie sich verloren. Aber Sie sind der typische Indienreisende. Seien Sie nicht beleidigt, vorhin haben Sie gesagt, alle Informatiker sind Brillenträger und jetzt sage ich Ihnen, dass Ihnen Reiseziel Neu- Delhi quer über die Stirn geschrieben steht.
(Seite 7)

Und so weiter und so weiter... Hand aufs Herz, da würden auch Sie ungeduldig werden. Mit dem vielleicht billigsten Trick der Welt, endlosen Aus- und Abschweifungen in Form von aneinandergereihten Klischees macht der Autor oder der Erzähler den Leser ganz erpicht auf die eigentliche Geschichte, die hier erzählt werden soll, aber nicht erzählt wird.

Ich selbst wollte an dieser Stelle nur noch wissen, wie es dem Autor wohl gelungen ist, Leser wie Kritiker über den banalen Anfang hinaus mit hausgemachter Philosophie sowie dem Reiz prickelnder, intimer Enthüllungen über andere mehr oder weniger glückliche Menschen, tatsächlich so am Band zu halten, daß sie seinen Erzählungen Attribute wie 'charmant, schalkhaft, bezaubernd, voller Poesie' verleihen - von den Vorschußlorbeeren der Deutschen Verlagsanstalt auf dem Rücken des Buches ("Ein hinreißender Roman, amüsant und voller Lebensweisheit") einmal abgesehen.

Nur deshalb vermeinte ich noch kritisch weiter zu lesen. Obwohl ich mich schon von der ersten Geschichte des zornigen, jungen Weltverbesserers auch inhaltlich fesseln ließ, wollte ich doch wissen wie sich soziale Ungerechtigkeit mit der "Flucht" nach Indien bereinigen läßt. Ein paar Seiten weiter störten mich selbst platteste Männerphantasien nicht mehr, wie die neun Seiten umfassende Plauderei über das "Buchfächeln im Wartebereich des Flughafens". Nun ja, Urban Legends über Geheimcodes für spontane Verabredungen im öffentlichen Nahverkehr oder sonstwo gibt es wie Sand am Meer. Doch die Art und Weise, in der sich Salvador weniger speichelleckend als besorgt den ursprünglichsten menschlichen Bedürfnissen annähert - "Das sollten Sie lieber nicht tun" [...] "Es könnte falsch verstanden werden..." - hat mich für den alten Herrn doch denkbar eingenommen.

Dessen unbewußt, daß ich die Analyse schon längst an den Nagel gehängt hatte, lauschte ich fortan gespannt all diesem scheinbar Banalen und Belanglosen, und fand es einfach nur schön, daß sich hier jemand Zeit für das Erzählen von Begebenheiten nimmt, die ganz gewöhnlich anfangen und nur ein paar Zentimeter neben der erwarteten Spur verlaufen, so daß man das Skurrile und Unglaubliche an ihnen erst beim zweiten Hinhören entdeckt.

"Ich mag Geschichten über ganz normale Leute. Gespenster, Außerirdische und so finde ich langweilig", sagt Salvador über sich selbst. "Wahrheit ist, was die meisten dafür halten" und "jeder lebt in seiner eigenen Welt", philosophiert der Putzmann. Er hat keine Mission, wertet und verurteilt nicht, wenn er von unzufriedenen Weltverbesserern erzählt, von unerwiderter Liebe und imaginären Partnerschaften, von einem Land (Japan), das es nicht gibt und aus kommerziellen Gründen konzipiert wurde, von einem finnischen Dichter, der sich selbst erfunden hat, von Verabredungen im Internet zu gegenseitigen, kriminellen Gefälligkeiten und vom Club der unerhörten Wünsche, der erklärt, warum so viele ewig Zu-kurz-Gekommenen vom Leben so ungerecht behandelt werden und wie sie ihr Leben mit einer saftigen monatlichen Gebühr entschieden verbessern könnten... Rache und Mißgunst gehören für Salvador ebenso zum Leben wie die zauberhafte Geschichte eines Mädchens, die ihr Gedächtnis verloren hatte und der ein junger Schriftsteller kurzerhand ein neues Leben andichtet, das viel besser zu ihr paßt, oder die verzweifelte, unvollendete Geschichte des Professors, der Angst hat, die Toilette zu verlassen, weil er befürchtet, dann sterben zu müssen...

Ebenfalls erst beim zweiten oder gar dritten Hinhören sind die Erzählungen dieses Buches doch ein klein wenig mehr als leichtverdauliche Plauderei oder herzerfrischende Anekdoten, die sich als kurzlebige Reise- und Ferienlektüre anbieten. Gerade weil der freundliche Protagonist dem Leben mit seinen Sonnen- und Schattenseiten gleichermaßen großzügig und tolerant gegenübersteht, und jeder noch so verfahrenen Situation ein Lächeln abringen kann, werden ganz subtil und quasi unbemerkt durchaus auch soziale Mißstände berührt. Ob sie den Leser weiter beschäftigen, Fragen aufwerfen oder nur seinen Lesehunger bedienen, um dann vergessen zu werden, bleibt letztlich jedem einzelnen überlassen. Der Raum dafür ist offen. Einen weltverbessernden Anspruch hat der Autor sicher nicht, auch wenn es vielleicht ein geschickterer Ansatz wäre, sich in die Herzen seiner Leser einzuschleichen, als ihnen die nackten Tatsachen vor den Kopf zu knallen.

Eines aber muß ich revidieren: Der vierten Unverzeihlichkeit macht es sich nicht schuldig - dieses Buch ist gut erzählt! So gut, daß man unmerklich auch die nicht oder nur in Fragmenten erzählte persönliche Lebensgeschichte des alten Flughafenkehrers plötzlich als Roman vor Augen hat, die wohl als einzige der Geschichten ein eindeutig glückliches Ende nimmt, doch dem will ich hier nicht vorgreifen. Es ist sicher keine Zeitverschwendung, selbst einmal einen Blick hineinzuwerfen. Alles andere ergibt sich dann von selbst...


Alberto Torres Blanina
Salvador und der Club der unerhörten Wünsche
Roman
Deutsch von Petra Zickmann
Mit Illustrationen von Anja Filler
Deutsche Verlags Anstalt, München 2010
224 Seiten, gebunden
Euro 16,95
ISBN 978-6-421-04448-8


18. Juni 2010