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REZENSION/119: Will Eisner - Ein Vertrag mit Gott (graphic novel) (SB)


Will Eisner


Ein Vertrag mit Gott

Mietshausgeschichten

1. Buch: Ein Vertrag mit Gott
2. Buch: Lebenskraft
3. Buch: Dropsie Avenue


Gewöhnlich ENDET eine Buchvorstellung mit der Bewertung des besprochenen Exemplars. "Ein Vertrag mit Gott" von Will Eisner ist allerdings so außergewöhnlich, daß es sich anbietet, mit einer begeisterten Empfehlung zu beginnen. Es stellt sich dann allerdings die unmöglich zu beantwortende Frage, wovon man sich nach der Lektüre am schwersten trennt: vom bissig, kenntnisreich und gleichzeitig liebevoll erzählten Inhalt, der das eigenwillige Zeitzeugnis eines sozialen Brennpunktes ist, oder von der künstlerischen Form der vom Autor maßgeblich entwickelten "graphic novel", oder last not least von der mitreißenden Erzählkunst des begnadeten Geschichtenerzählers Will Eisner, die dem Leser ungewöhnliche Blickwinkel auf Alltägliches zu eröffnen vermag.

Will Eisner wußte die Kunst des Geschichtenerzählens mit außerordentlichem Geschick einzusetzen. Durch die Technik, Bild und Sprache auf bisher unbekannte, ungewöhnliche Weise eng miteinander zu verbinden und das auch für lange Erzählungen einzusetzen, beförderte er ein neues Genre, das er "graphic novel" nannte: Die Zeichnung, unmittelbarer und direkter als Sprache, unterlegt das Erzählte sozusagen "ohne Worte". Der Leser und Betrachter erlebt auf diese Weise eine einzigartige Stimmungsverdichtung, und die Distanz zur Erzählung wird in erstaunlichem Maß aufgehoben. Einmal eingestiegen, kann man sich Eisners Geschichten nur noch schwer entziehen.

Mittels der im vorliegenden Sammelband veröffentlichten drei Erzählungen "Ein Vertrag mit Gott", "Lebenskraft" und "Dropsie Avenue" entsteht ein Gesamtbild des jüdischen Alltags in der New Yorker Bronx am Ende der Weltwirtschaftskrise in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts, vornehmlich aus der Sicht der armen Unterschichtbewohner und gesellschaftlichen Randgruppen. So erwacht im autobiographischen Rückgriff der Straßenzug mit Einwanderer-Familien, Gewerkschaftern, Bettlern, Alkoholikern, kleinen und großen Betrügern und anderen durch die große Depression Geschädigten zum Leben und gewinnt durch den detailgetreuen und schonungslosen Blick auf die Abgründe menschlichen Sozialverhaltens - Vorteilsstreben und Konkurrenz, Intrigenspinnen, Bespitzelung, Triebhaftigkeit, Aggression und Abgrenzungsbestreben - eine faszinierende Zeitlosigkeit und damit Aktualität und Relevanz:

"Sehen Sie mich als zeichnenden Zeitzeugen, als zufälligen Beobachter, der vom Leben erzählt und vom Tod, der von tragischen Vorfällen berichtet und von der niemals endenden Mühsal, sich zu behaupten ... oder zumindest nicht unterzugehen."
(Vorwort von Will Eisner, S. Xiii)

Ein Beispiel dafür ist die Geschichte von Frimme Hersh, einem streng orthodoxen Juden, der gerade durch sintflutartigen Regen von der Beerdigung seiner Adoptivtochter Rachele nach Hause stapft. Als Zehnjähriger hat er, noch in Rußland, auf einer kleinen Steintafel einen Vertrag mit Gott geschlossen, sozusagen den Handel, daß er für gute Taten auch belohnt wird. Durch den Tod seiner über alles geliebten Adoptivtochter sieht er diesen Vertrag jetzt gebrochen. Er wirft die Steintafel aus dem Fenster und verändert sich dann zu einem rücksichtslosen, amerikanisch gekleideten Geschäftsmann, der mit dem zweifelhaften Besitz von Mietshäusern in schlechtestem Zustand (eins davon ist besagte Dropsie Avenue 55, um das es in diesem Buch ausschließlich geht) und mit Immobilienspekulationen zu Reichtum gelangt. Doch es bleibt in seinem Inneren ein großes, schwarzes Loch und so erkennt er, daß er seine Tradition nicht einfach abschütteln kann und kehrt zu seiner Gemeinde zurück. Ihre Schriftgelehrten setzen ihm für viel Geld einen neuen Vertrag mit Gott auf, doch sobald er auf dessen Grundlage neue Pläne schmiedet, stirbt er an einem Herzinfarkt.

Oder da ist der Straßensänger Eddie, heruntergekommen, arbeitslos, der Frau und Baby im Suff schlägt und sich in den Hinterhöfen ein wenig Geld ersingt. Seine Chance besteht im Kontakt zu einer Opernsängerin, die ihn fördern will. Aber aus diesen Plänen wird nichts, denn er kann nicht zu ihr zurückkehren, weil er sich ihre Adresse nicht gemerkt hat.

Oder Willie, der "Revolutionär", der von seinem Freund in den Keller zu einer konspirativen Versammlung der Kommunisten mitgenommen wird und anschließend eine Demo vorbereitet. Sein Vater ist der Besitzer eines Konfektionsgeschäftes, ein echter "Kapitalist", dessen Angestellter gerade von Gewerkschaftern zusammengeschlagen wurde. Willie muß sich entscheiden zwischen trautem Heim samt Mutters vorzüglich bestückter Hühnersuppe oder der Revolution - und bleibt zu Hause.

Man kann sagen, daß Will Eisners Erzählungen gleichzeitig soziale Studien vom Feinsten sind, die mit Witz und Ernst, ohne Zynismus und übertriebenem Pathos präsentiert werden. Seine Figuren sind keineswegs eindimensional gut oder böse. Sie sind intelligent und selbständig. Zwar lehnen sie sich gegen die kaum zu bewältigenden existentiellen Schwierigkeiten der Großen Depression auf, aber Eisner demonstriert an ihnen, daß dies meist zum Scheitern verurteilt ist. Die bittere Realität macht wenig Mut und läßt die Betroffenen eher resignieren. Und statt sich gegen diese Verhältnisse zur Wehr zu setzen, richten sie ihre Auflehnung in zerstörerischer Weise gegen sich selbst.

Wenn die zwar liebevoll erzählte, aber ungemein drückende soziale Situation in "Ein Vertrag mit Gott" nicht an sich schon genügen würde für den doch auch bitteren Nachgeschmack am Ende der Lektüre, dann doch sicher die Tatsache, daß Eisner diese ungeschönte, schwer zu ertragende Realität auch noch als immer wiederkehrenden Kreislauf darstellt, dem die Bewohner nicht entkommen. Und diese Aussichtslosigkeit belegt er anhand statistischer Daten. Will Eisner in seiner Einführung zu "Dropsie Avenue" (siehe Feest Comics, Stuttgart 1999):

... Nachbarschaften besitzen Lebensspannen. Sie werden geboren, entwickeln sich, reifen und sterben. Während aber diese Evolution durch den Verfall der Gebäude dargestellt wird, sind die Leben ihrer Bewohner, so scheint es mir, die innere Kraft, die diesen Niedergang auslösen. Menschen, nicht Gebäude sind das Herz der Dinge.

In der Mitte des 20. Jahrhunderts verlor ein großer Teil von New York, die South Bronx, an Wert und zerfiel. ... Bis 1975 war sie zu einem ausgebombten Gebiet verkommen, mit Schutt übersät und vom Verbrechen überrannt. In den letzten fünf Jahren des Jahrzehnts wurden über 68.000 Brände in der Gegend gemeldet. Die Industrie zog weg und mit ihr verschwanden über 17.000 Arbeitsplätze. Ungefähr 15.000 Gebäude wurden verlassen. Die Statistiken über Verbrechen, Obdachlose und Verwahrlosung waren erschreckend.

Meine Reflexionen über das Stadtleben waren schon lange durch die Beschäftigung mit diesem Phänomen in Anspruch genommen, aber erst 1990, als die New York Times von der Renaissance der South Bronx berichtete, konzentrierte sich meine Aufmerksamkeit darauf.

Meistens bringt mich das dazu, ein Buch zu schreiben.

Durch fast 500 Seiten zieht sich als gemeinsames Band die imaginäre Dropsie Avenue. Die letzte Erzählung ist eine gut 180 Seiten lange Historie dieser Straße, von 1870 an, als das Gebiet, das später die Bronx werden sollte, noch aus holländischen Bauernhöfen bestand, bis in die Gegenwart.

Will Eisner entwickelte den Comic weiter zu einer speziellen literarischen Form, die er "graphic novel" nannte. Seine Absicht war die Aufwertung des Genres: "Warum soll sich der Kulturbetrieb mit Comics beschäftigen, solange die Zeichner keine ernsthaften Geschichten von Belang erzählen?" (Will Eisner, aus dem Nachwort von Andreas C. Knigge). Die tragischen Elemente der Figuren weiß er nicht nur mit kurz gehaltenen Zwischentexten, sondern auch mit seinem genialen Zeichenstil auf einzigartige Weise zu unterstreichen. In Schwarz-Weiß, mit Licht- und Schattenspiel, mit wenigen Linienverstärkungen läßt er jeweils bedrückende, bedrohliche, überladen beengende Atmosphären, Gemütszustände und die typisch verlebte Umgebung der Mietshäuser der Bronx entstehen. Sein Zeichenstil mit der Perspektive aus dem 5. Stock und dem entsprechenden Lichteinfall ist zur Vorlage für die Filmbranche geworden, ohne die der moderne Film nicht mehr zu denken ist.

Eisners Experimente mit Größe, Gestalt und Anordnung der Bilder auf einer Seite beeinflußten zudem eine neue Comic-Ästhetik, die bis heute Gültigkeit besitzt: Er hat sich weit von einer Seitenaufteilung in einzelne, deutlich voneinander abgegrenzte Panels entfernt. Die meisten seiner Seiten sind Kompositionen aus ineinander übergehenden Bildern bzw. Bildelementen. Man liest dennoch zum einen die Geschichte chronologisch in Einzelbildern und gewinnt zum anderen einen optischen Gesamteindruck über die ganze Seite. Dadurch, daß der Leser somit die Geschichte auf mehreren Ebenen, zwischen denen er nach Belieben hin- und herwechseln kann, wahrnimmt, gewinnt das Ganze an Eindruckskraft und Tiefe - was man den "simplen" Zeichnungen bei oberflächlicher Betrachtung gar nicht zugetraut hätte.

Gerade in den letzten Jahren hat diese bildhafte, literarische Erzählform, die "graphic novel", einen enormen Boom erlebt, dem wohl auch die Reaktion des Carlsen Verlags, "Ein Vertrag mit Gott" als bibliophile Ausgabe zu vermarkten, zu verdanken ist.


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Der Autor:
Will Eisner ist hier in Deutschland sicher nicht allen bekannt, obwohl er als Amerikas wichtigster Zeichner und "Ein Vertrag mit Gott" als einer der besten Comics aller Zeiten gilt. Geboren wurde er am 6. März 1917 als Sohn jüdischer Einwanderer (rumänische Mutter, österreichischer Vater, der als Bühnenbildmaler beim jüdischen Theater arbeitete) in New York in unmittelbarer Nachbarschaft zur South Bronx. Als Zeitungsjunge lernte er nicht nur die Straßen New Yorks, sondern auch die klassischen Comicstrips der 20er und 30er Jahre kennen, und schon in jungen Jahren veröffentlichte er Zeichnungen in Schülerzeitungen.

1936 entstanden seine ersten professionellen Arbeiten für "Wow, What a Magazine!". 1937 gründete er ein eigenes Studio, in dem auch diverse andere Autoren und Zeichner tätig waren, unter anderem Bob Kane (Batman) und Jack Kirby (Captain America, Hulk, X-Man). Eisner arbeitete unter verschiedenen Pseudonymen und erfand zahlreiche Comic-Figuren, unter denen "The Spirit" die berühmteste wurde. An ihr entwickelte er die spezielle Form der "graphic novel".

Als Eisner 1942 eingezogen wurde, überließ er "The Spirit" Jack Kirby, Joe Simon und anderen, zeichnete die Serie aber nach seiner Rückkehr 1946 bis 1952 wieder selbst. Zu Beginn der 50er Jahre aber zog er sich weitgehend aus dem Comicgeschäft zurück, denn er wehrte sich gegen die zunehmende moralische und politische Selbstzensur der Verlage. Er gründete die American Visual Corporation und arbeitete seitdem hauptsächlich in der Werbung. Ende der 60er Jahre hatten einige Verlage erneut Interesse am "Spirit", und Eisner, der so klug gewesen war, die Rechte an seiner Figur niemals aus der Hand zu geben, veröffentlichte seine alten Geschichten, zeichnete aber auch neue Abenteuer.

In den 80er Jahren wandte sich Eisner noch einmal den Comics zu. Ohne neue Serienhelden zu erfinden, widmete er sich in seinen neueren Werken Themen wie dem Verfall der Großstädte oder den Formen der modernen Kommunikation. Bis zu seinem Tod suchte Will Eisner sein Studio jeden Tag auf und arbeitete an neuen Projekten. Er starb 2005 im Alter von 88 Jahren.

2. März 2011


Will Eisner
Ein Vertrag mit Gott
Mietshausgeschichten
(The Contract with God Trilogy)
aus dem Amerikanischen von Carl Weissner und Matthias Wieland
Mit einem Vorwort des Autors
sowie einem Nachwort von Andreas C. Knigge
Carlsen Verlag, Hamburg 2010
Hardcover, schwarz/weiß
508 Seiten
Euro 36,00
ISBN 978-3-551-75044-0