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REZENSION/138: Andrea Bottlinger, Aeternum (Fantasy) (SB)


Andrea Bottlinger


Aeternum



Angesichts der Tatsache, daß überall auf der Welt aus vorgeblich religiösen Gründen Kriege geführt werden, die Tod und Zerstörung in einem alptraumartigen Ausmaß über die Menschen bringen und nur zu einem sich noch weiter ausbreitenden religiösen Fanatismus führen, kann man Andrea Bottlingers Mut nur bewundern, sich über fromme Scheu einfach hinwegzusetzen und tief in den biblischen Mythenschatz zu greifen, um aus dem Stoff, den sie dort gefunden hat, nicht nur einen spannenden Roman zu schreiben, in dem ein aus dem Himmel verbannter Engel und eine Dämonendienerin ein gefährliches Abenteuer durchstehen müssen, von dessen Ausgang nicht weniger als die Existenz der Erde abhängt, sondern auch deutlich zu machen, daß Religion eine Form der Herrschaftsicherung ist.

Bottlinger wagt den Schritt, die metaphysischen Figuren des alten Testaments auf eine materielle Ebene zu ziehen, sie sichtbar und greifbar zu machen. Sie verfrachtet Gott und Teufel samt ihrer Engel- bzw. Dämonen-Heerscharen nach Berlin, wo sich nach einem Erdbeben an der Stelle des Alexanderplatzes ein tiefer Krater aufgetan hat, aus dem bisher noch niemand, der dort hinabstieg, wieder zurückgekehrt ist.

An einen von Dämonen bevölkerten Untergrund Berlins muß man sich zwar erst einmal gewöhnen, aber da Andrea Bottlinger ihrer Kosmologie treu bleibt, findet man sich recht schnell in einer Welt zurecht, in der Dämonen nach Belieben Menschengestalt annehmen können, sich durch skrupellose Geschäftspraktiken hervortun und dank eines Waffenstillstandsabkommens mit den sich durch Arroganz auszeichnenden Engeln auf der Erde koexistieren.

Daß die Autorin sich bei der äußeren Erscheinung ihrer Figuren an altbekannten Vorlagen orientiert, mag im ersten Moment enttäuschen - die Engel hoch gewachsene, weißblonde Gestalten mit ernsten Gesichtern, bekleidet mit langen hellen Mänteln, unter denen sie ihre Schwerter verbergen; die Dämonen in ihrer wahren Gestalt behörnte raubtierartige Wesen mit ledrigen Flügeln und glühenden Augen - doch diese Darstellung ist nicht das Produkt mangelnder Phantasie, sondern genauso beabsichtigt. Denn Gott, Teufel, Engel und Dämonen stellen nach dem Konzept ihres Romans Projektionen des menschlichen Geistes dar, deren äußere Gestalt der über Jahrtausende genährten kollektiven Vorstellung der Gläubigen entspricht, die, bevor sich Jehowa zum alleinigen Gott erklärte, viele verschiedene Götter anbeteten.

Je mehr Gläubige einem Gott huldigten, desto mächtiger wurde dieser. Da Gott, "der Herr", nun durch seinen Alleinherrschaftsanspruch alle anderen Götter diffamierte, wurden diese von den Menschen 'falsche Götter' genannt, zu Dämonen erklärt oder fielen ganz der Vergessenheit anheim.

"Der Glaube der Menschen hat uns schon immer geformt. Wenn genug davon einen für einen Dämon halten, wird man ein Dämon."
(S. 360)

Jehova verdrängte die alten Götter. Weil er ihnen die Menschen nahm, die sie verehrten und ihnen opferten, wurden sie so schwach, daß er sie jagen und vernichten konnte.

In Aeternum geht es mitnichten nur um den Kampf zwischen Gut und Böse, wie der Einband suggerieren möchte, auf dem sich zwei geflügelte Wesen gegenüberstehen - das eine hell, das andere dunkel. Nein, der Autorin gelingt es, mit der Vorstellung aufzuräumen, überhaupt Gut von Böse trennen zu können. Gut und Böse bedingen sich gegenseitig und können ohne einander nicht existieren. Deutlich wird das durch das Bild von Gott und Teufel, die in fortwährender Agonie miteinander verschmolzen sind. Aber auch dadurch, daß nicht nur Dämonen die Menschen für die Verwirklichung ihrer Belange mißbrauchen, sondern auch die Engel als ein von Gott geschaffenes Heer von mitleidlosen Kämpfern dargestellt werden und nicht als den Menschen wohlgesinnte ätherische Wesen.

"Engel wurden dafür geschaffen, Befehle zu befolgen, ohne sie zu hinterfragen. Sie haben nie gelernt, selbst zwischen Richtig und Falsch zu unterscheiden. Im Gegensatz zu euch haben sie nie vom Baum der Erkenntnis gegessen."
(S. 153)

läßt die Autorin den aus dem Himmel verbannten, flügellosen Engel Jul sagen.

"Wir haben früher einfach getan, was der Herr uns befohlen hat", versuchte er es noch einmal. "Dabei waren wir genauso glücklich, eine ganze Stadt zu vernichten wie eine frohe Botschaft zu überbringen. Es hat keinen Unterschied gemacht, es war doch alles Teil des göttlichen Plans. Man kann kein Mitleid empfinden, wenn man nicht versteht, was Unrecht ist."
(Seite 153)

Jul hatte es gewagt, vom Baum der Erkenntnis zu essen und war danach angesichts seiner bisher begangenen Taten vor Schuldgefühlen zusammengebrochen.

"Die Sintflut, die Plagen, die Zerstörung von Sodom und Gomorrha. Der Herr hat diese Dinge angeordnet, und wir haben sie durchgeführt. Ich habe in Ägypten einen kleinen Jungen in seinem Bett erstickt, während seine Eltern daneben schliefen. Unter dem Baum wurde mir klar, was ich getan hatte und dass ich den Grund dafür nicht kannte. Wieso erschafft der Herr die Menschen, nur um sie dann mit Prüfungen und Strafen zu quälen? [...] Ist er gut, wenn er keinen anderen Weg sieht, als durch Leid zu herrschen?"
(S. 160)

Der Anblick des Häuflein Elends unter dem Baum der Erkenntnis bewog all seine Mitverschwörer dazu, von ihm Abstand zu nehmen. Zur Strafe für den Verstoß gegen Gottes Verbot, vom Baum der Erkenntnis zu essen, ließ Erzengel Michael ihm die Flügel abgeschlagen. Nun muß er sich unter den Menschen zurechtfinden, was ihm mehr schlecht als recht gelingt. Da er nicht all seiner Fähigkeiten, die ein Engel sein eigen nennen kann, beraubt wurde, verbringt er seine Zeit damit, mit den in ihm wohnenden Engelskräften niedere Dämonen zu vernichten. Dies sind die Überreste längst vergessener Götter, die über Menschen herfallen, um auf diese Weise ein Blutopfer zu erzwingen. Sie sind zu rattenähnlichen, tumben Kreaturen mutiert, die vergessen haben, daß Opfer freiwillig gegeben werden müssen.

Den höheren Dämonen, jenen Göttern oder auch gefallenen Engeln, die noch nicht der Vergessenheit der Menschen anheim gefallen sind, geht es darum, das, was die Menschen ihnen bieten können, zu ihrem Vorteil umzuwandeln. Sie locken die Menschen mit Versprechungen in ihre Dienste oder versklaven sie einfach, wenn sich die Gelegenheit bietet, wie im Falle Amandas, einer jungen Diebin, die den Einbruch bei einem Dämon nur deshalb überlebt, weil sich in Todesnot in ihr plötzlich magische Kräfte Bahn brechen, die für den Dämon von Interesse sind, da er mit ihrer Hilfe andere mit ihm konkurrierende Dämonen bannen kann.

So wie es unter Engeln eine Hierarchie gibt, gibt es auch eine unter Dämonen. An oberster Stelle steht eine Dämonin, die die gefährliche Magierin aus dem Weg schaffen will. Weil die Gefahr, in dem Krater umzukommen, recht groß ist, befiehlt sie Amandas Herrn, seine Sklavin mit dem Auftrag in den Krater zu schicken, herauszufinden, was da los ist und warum es an vielen Stellen rund um den Alexanderplatz zu Auflösungserscheinungen der Zeit und Gravitation kommt. Von seiten der Engel wird Jul in den Untergrund geschickt, weil er am entbehrlichsten ist und mit der Chance geködert wird, sich zu rehabilitieren und seine Flügel zurückzubekommen. Was die gemeinsame Mission nicht gerade erleichtert, ist, daß die beiden sich nicht ausstehen können und gegenseitig mißtrauen.

Was das Lesen zu einem persönlichen Erleben macht, ist, daß Andrea Bottlinger zwar in der dritten Person schreibt, aber die Erzählperspektive wechselt, so daß man mal durch Juls Augen sieht und dann wieder das Geschehen aus Amandas Sicht erlebt. So bekommt Amanda, die genauso bibelkundig oder -unkundig ist wie der Leser, nicht nur die Schöpfungsgeschichte aus der Sicht eines Engels erzählt, sondern auch die Geschehnisse, die zum Verschwinden Gottes und des Teufels geführt haben. Luzifer hat nämlich vor etwas mehr als 200 Jahren vergeblich versucht, mit seinen ihm ergebenen Dämonen den Himmel zurückzuerobern. Gott und Teufel sind seit dieser Zeit verschollen und die Dämonen hat es auf die Erde verschlagen, wo es ihnen ganz gut gefällt. Warum die Autorin diese Zeitspanne von 200 Jahren gewählt hat, bleibt im Dunkeln. Man kann nur vermuten, daß sie Gottes Abwesenheit zeitlich mit der von nüchterner Vernunft und wissenschaftlicher Forschung geprägten Zeit der Aufklärung verknüpfte, in der an die Stelle der religiösen Weltdeutung die der modernen Wissenschaften trat, was die Welt jedoch nicht friedlicher machte.

Stellvertretend für einen seit jeher herrschenden Kampf um Land und Ressourcen bietet bis heute vor allem unter den drei monotheistischen Religionen, die sich auf ein und denselben Gott berufen, der Glaube Anlaß für Krieg und Verfolgung. Vermutlich ist gerade der monotheistische Gedanke "Du sollst keine anderen Götter neben mir haben" - gleich das erste der zehn Gebote - Schuld an der mangelnden Toleranz anderen Weltanschauungen gegenüber.

Andrea Bottlinger greift diesen Gedanken auf, fügt eine Fantasy-Komponente, die sie Russell Mulcahys Film "Highlander - es kann nur einen geben" entliehen haben könnte, hinzu und läßt Luzifer erklären:

"Die Herrschaft über ihre Anhänger war vielen Göttern nicht genug. Sie wollten die Welt nicht mehr mit den anderen teilen, und so schufen sie mächtige Waffen, mit denen sie einander bekämpften. Waffen, die nicht nur töteten, sondern auch die Kräfte des Besiegten auf den Sieger übertrugen. Jehova besaß eine davon."
Ein Funkeln trat in die Augen des Gefallenen, belustigt vielleicht. "So viel zu Güte und Sanftmut, nicht wahr? Er gewann immer mehr an Macht. Schließlich eroberte er den Himmel und den Garten Eden für sich. Nicht einmal sie stammen aus seiner Hand. Er hatte sie anderen genommen und nach seinen Wünschen neu geformt. Das Einzige, was er jemals erschaffen hat, waren wir Engel. Und nachdem er mit uns eine Armee sein Eigen nannte und in den Nachkommen von Adam und Eva seine ersten Anhänger fand, machte er sich daran seinen Herrschaftsbereich auszudehnen."
(S. 188)

Logischerweise muß auch der Mythos, Gott habe Adam und Eva erschaffen, dran glauben:

Sie sah zwei Menschen. Einen Mann und eine Frau, nackt inmitten von Bäumen voller Früchte. Engel kreisten über ihnen, sangen und priesen die Weisheit ihres Herrn. Sie glaubten, er hätte diese nackten Affen geschaffen, hätte sie nach seinem Ebenbild geformt. Dabei hatte er ihnen eigentlich nur die Fähigkeit genommen, zwischen Richtig und Falsch zu entscheiden. Hatte dafür gesorgt, dass sie ihm besser gehorchten als all die anderen, die es auf der Erde schon gab.
(S. 538)

Was dieses Buch besonders lesenswert macht, ist, daß die Autorin, die Buchwissenschaften, Komparatistik und Ägyptologie studiert hat, über den Umweg der Fantasy dem geschichtlichen Hintergrund der allen drei monotheistischen Religionen zugrunde liegenden Mythen auf den Grund geht. Dabei ist ihr das Kunststück gelungen, eine spannende in sich schlüssige Geschichte zu schreiben, in der sich die weltanschauliche Auffassung, die sie vermitteln möchte, nicht nach vorne drängt. Dem Leser bleibt es selbst überlassen, sich - angeregt durch Bottlingers Gedankenwelt - über die Hintergründe religiösen Glaubens seine Gedanken zu machen und gegebenenfalls sogar eigene Nachforschungen anzustellen, wie man dies in Walter Beltz' hochinteressantem Buch "Gott und die Götter - Biblische Mythologie" tun kann, in dem beispielsweise beschrieben wird, wie vielfältig die Götterwelt in Israel und Juda war und daß das Einschwören der Menschen auf einen einzigen Gott durchaus politische Gründe hatte. So konnten die Jerusalemer Priester die verstreuten Nomadenstämme, die alle ihre eigenen Götter verehrten, am besten zu einem starken Machtblock gegen Babylon zusammenschließen und zusätzlich alle kultischen Rechte, die mit großen ökonomischen Vorteilen verbunden waren, auf Jerusalem konzentrieren. (S. 53, 144 [*])

Wer sich für solche Hintergründe nicht interessiert, wird bei der Lektüre von Aeternum auch nicht von derlei Informationen belästigt. Er bekommt eine packende Abenteuergeschichte geliefert, in der Fantasyelemente so geschickt in die Realität verwoben wurden, daß man sich nicht wundern würde, tatsächlich Engeln und Dämonen gegenüberzustehen, wenn man die Haustür öffnet, zumal der Schauplatz Alexanderplatz und seine Umgebung so hautnah in die Erzählung eingeflochten wurde, daß man sich die Lokalitäten selbst anschauen und wenn man nicht vor Ort wohnt, gut im Internet finden kann.

Andrea Bottlinger ist hier ein meisterhafter Debütroman gelungen, der auf ungewöhnliche Weise die Ursprünge unseres auf Religion basierenden Kulturerbes beleuchtet. Es ist zu hoffen, daß sie noch weitere Romane schreiben wird.



Anmerkung:

[*] Walter Beltz, Gott und die Götter - Biblische Mythologie
Aufbau-Verlag Berlin und Weimar 1988
www.Beltz, Walter - Gott und die Gotter - Biblische Mythologie.pdf

26. April 2013




Andrea Bottlinger
Aeternum
Knaur Taschenbuch, München 2013
572 Seiten
€ [D] 12,99 / € [A] 13,40
ISBN: 978-3-426-51179-4