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REZENSION/148: Sabine Adatepe (Hg.) - Gezi. Eine literarische Anthologie (SB)


Sabine Adatepe (Hg.)


Gezi

Eine literarische Anthologie



Wer den Geist von Gezi beschwört und mit der Symbolkraft eines zivilgesellschaftlichen Aufbegehrens verbindet, sorgt, auch wenn es nicht in seiner Absicht steht, für eine babylonische Sprachverwirrung. Denn jeder färbt und bewertet das Ereignis, das mit einem Geist schlußendlich nur verklärt und auf eine lange Reise durch unzählige Deutungswelten geschickt wird, nach seinem eigenen politischen Standpunkt. Die Gefahr ist jedenfalls nicht zu unterschätzen, daß die Einzigartigkeit des Gezi-Protestes den Grenzen interpretatorischer Aneignung, die jedem emanzipatorischen Anliegen notwendig entgegenstehen, zum Opfer fällt. Die Proteste in Istanbul, Ankara und anderen Orten losgelöst von der langen Geschichte gesellschaftlicher Kämpfe in der Türkei zu betrachten, schafft bestenfalls ein situatives Mosaik und begünstigt die Instrumentalisierung eines Konflikts, der trotz seiner aktuellen Fokussierung auf die Person des Ministerpräsidenten Erdogan facettenreicher ist, als es das emphatische, aber letzten Endes doch diffus bleibende Empfinden einer Gezi-Solidarität auch nur im Ansatz kontrastieren könnte.

Und doch wird niemand leugnen können, daß im Gezi-Park und auf dem angrenzenden Taksim-Platz in den ersten beiden Juni-Wochen des Jahres 2013 eine Zäsur erfolgte. Diese kann am ehesten noch damit in Verbindung gebracht werden, daß Aktivistinnen und Aktivisten verschiedener politischer Strömungen, Ethnien und Religionen Schulter an Schulter zusammenstanden, um das Abholzen des Istanbuler Stadtparks zu verhindern. An dessen Stelle sollte ein Einkaufszentrum errichtet werden, vielleicht als Vorstufe zu einer illustren Shopping-Meile mit angegliederten Hotel- und Gastronomieketten, um die Metropole am Bosporus für ausländische Investoren attraktiver zu machen.

Eine Grünanlage oder ein paar altverwurzelte Bäume zu retten, ist zweifelsohne ein ernsthaftes Motiv. Dazu bedarf es jedoch weder einer ausgesprochenen Gentrifizierungskritik noch des Hinweises auf den drohenden Klimatod des Planeten. Überall auf der Welt, wo der Hunger transnational agierender Großkonzerne die Hand nach den letzten noch unverwerteten Ressourcen ausstreckt und diese mit den Funktionseliten der jeweiligen Länder gemeinsame Sache machen, setzen sich Menschen gegen die Zerstörung ihrer Lebenszusammenhänge zur Wehr. Die Masken sind verschieden, aber im Kern geht es dabei um denselben Kampf gegen Herrschaftsstrukturen, die die Menschen samt ihren Kulturen und Traditionen ihnen fremden und feindlich gesonnenen Interessen unterwerfen sollen.

Der breitschultrig getragene Widerstand gegen Erdogans neoliberale Kahlschlagpolitik hatte, daran kann kein Zweifel bestehen, Signalwirkung in der Türkei. Menschen aus allen Bevölkerungsschichten, die im Alltag sonst achtlos aneinander vorbeigingen, liefen ohne formale Absprache, parteiinternen Aufruf oder Twittermobilisierung zusammen, um einer Regierung, die sich als Usurpator über das Volk setzte und Gesetze zum Wohle ihrer Eliten und ausländischer Investoren erließ, mit Slogans wie "Hände weg von unserem Stadtteil, unserem Körper, unserem Wald" die Stirn zu bieten. Gezi war ein Aufschrei zum Nein, der insofern organisiert war, als Menschen ihre Zukunft in die eigenen Hände nahmen und nicht länger gewillt waren, die Würde ihrer Menschlichkeit einer ihr entgegengesetzten Staatsideologie aufzuopfern.

Daß diese Menschen in tage- und wochenlangen Kämpfen gegen Wasserwerfer, Tränengas und Polizeiknüppel der Staatsmacht im ausharrenden Widerstand trotzten, war mehr als ein Bekenntnis zur Opposition. Es war ein Störfall im Politreglement der herrschenden Klasse. Daß die Unterschiede zwischen jung und alt, Türken und Kurden, Sunniten, Schiiten und Aleviten, linken Revolutionären und republikanischen Kemalisten verblaßten, weil sie in Erdogan den Ausgangs- wie auch Zielpunkt ihrer Proteste erkannten, hat dem autoritären türkischen Staat deutlich vor Augen geführt, daß die altbewährten Strategien der sozialen Kontrolle, die Bevölkerung von widerständigen Bewegungen propagandistisch abzuspalten, nicht mehr hinreichend griffen. Der Keil, Türken gegen Kurden, Sunniten gegen Aleviten und Religiöse gegen Säkulare aufzuhetzen, wurde Erdogan regelrecht aus den Händen gerissen. Die Menschen in der Türkei haben die Erfahrung gemacht, daß Utopie kein bloßes Wunschbild und das Potential zur Veränderung kein Monopolanspruch der Parlamente und Parteien sein muß. Sie werden den Geschmack der Rebellion, des Aufstandes gegen Unrecht und ihnen aufgebürdete Krisen, auch in Zukunft auf der Zunge haben. Die Herrschenden können zwar gegen, aber nicht ohne das Volk regieren. In der Deklaration vom 1. Juni 2013 im Gezi-Park hieß es dazu: Heute sind wir alle neue Menschen.

Der Gezi-Park ist inzwischen geräumt worden, auf dem Taksim, dem traditionellen Platz der Maikundgebungen, haben Polizeikommandos mit rücksichtslosem Durchgreifen für Ruhe gesorgt, aber der Protest hat sich dadurch nur von der Straße weg auf selbstorganisierte Foren verlagert, die sich in den größeren Metropolen des Landes zuhauf gebildet haben. Allein in Istanbul gab es zeitweilig über 60 Foren, zu denen die Menschen allabendlich nach der Arbeit zusammenkamen, um ihre Zukunft in basisdemokratischer Eigenverantwortung selbst zu gestalten. Menschen, die miteinander sprechen oder, wenn nötig, gemeinsam auf den Barrikaden kämpfen, im anderen nicht den Konkurrenten, sondern den Mitstreiter in der gleichen Sache erkennen, dafür steht Solidarität.

Gezi war von daher keine reine Anti-AKP-Bewegung, sondern jener sprichwörtliche Tropfen, der das Faß zum Überlaufen brachte, einer seit Jahrzehnten von Regierungsseite unterdrückten Demokratieforderung. Die Gefahr, die allen Emanzipationsbewegungen am meisten droht, ist das Vergessen. Der Alltag legt sich in seiner ganzen Schwere wie ein erstickendes Tuch über die Flamme des Aufbegehrens, bis der Gezi-Aufstand in der Erinnerung nur mehr zu einem Rauchfaden in weiter Ferne verblaßt. Ein Mittel gegen das Vergessen ist das geschriebene Wort. Schriftsteller aller Couleur sind aufgerufen, ihren Beitrag zu leisten, um den Stand an revolutionärer Bewegung, der im Gezi-Park und auf dem Taksim wie auch in anderen Städten aus Protestfunken zu einem Sturm der Entrüstung entfacht wurde, der staatlichen Propaganda und Befriedungsstrategie entgegen in eine literarische Form zu gießen.

Diesem Anliegen widmet sich das Buch "Gezi - Eine literarische Anthologie", für die türkische Autorinnen und Autoren 21 einfühlsame bis skurrile, aber auf jeden Fall politisierende Kurzgeschichten, Essays und Gedichte, teils während, teils in den ersten Monaten nach den sturmbewegten Tagen von Gezi verfaßten. Bereichert wird das Buch von einer großen Auswahl in der Deutlichkeit ihrer Motive entwaffnend wirkender Fotografien, die Momentaufnahmen solidarischer Gegenwehr sowie Zeugnisse des Kampfes gegen Erdogans Repressionsregime einfingen. Im Verzeichnis finden sich so renommierte Schriftsteller wie der Romancier Burhan Sönmez, der Kultautor Murat Uyurkulak, der Fantasy-Spezialist Baris Müstecaplioglu oder der junge Satiriker Firat Budaci neben Autorinnen wie Nermin Yildirim, Gaye Boralioglu, Suzan Geridönmez als auch die Bestsellerautorin Ayse Kulin und die Grande Dame der türkischen politischen Literatur Oya Baydar.

Dabei wird die Frage, was Gezi bewirkt hat und welche Schatten dieser jungen Demokratiebewegung in der Türkei drohen, aus verschiedenen Perspektiven und Blickwinkeln erörtert. Nahezu allen Erzählungen gemeinsam ist das authentische Erleben einer Aufbruchstimmung, die als eigentliche Quintessenz dieses Volksaufstandes bestimmt wird. So beschreibt Gaye Boralioglu diesen Wandel zur Wehrhaftigkeit aus den Augen einer Schaufensterpuppe, die Tag für Tag miterlebt, wie dort draußen in der realen Welt etwas im Entstehen begriffen ist, das die Bestimmungen ihres eigenen Daseins sprengen könnte. Als Requisit der Konsumwelt steht sie in metaphorischer Eindrücklichkeit für den vereinzelten Menschen, der immer nur Zeuge ist und als Träger wechselnder Moden und Politiken nie ein freies selbstgestaltetes Leben führen wird. Als das Schaufenster und damit das gläserne Gefängnis ihrer Isolation bei einem Tumult zersplittert, erkennt sie: "Zwischen der Straße und mir liegt nur noch ein Schritt" (S.47).

In "Versprochen" deckt Baris Uygur mit kriminalistischer Spürnase die Korruption zwischen Politik und Wirtschaft auf, der eine ganze Jugend auf den Straßen geopfert wird. Nermin Yildirim erzählt aus dem "Gezi-Tagebuch einer Mutter", die ihre anfängliche Scheu und Ratlosigkeit abwirft, als sie ihrem rebellierenden Sohn zum Gezi-Park folgt und dabei erfährt, "es ist, als wäre Krieg ausgebrochen und alle Kinder wären zur Front unterwegs" (S.37). "Sind ein Garten und paar Bäume so viel Leid wert?" (S.51) läßt Baris Müstecaplioglu in der allegorisch-phantastischen Geschichte "Der Farbengarten" einen Schamanen fragen und erhält von einem Fabelwesen die Antwort, daß der Widerstand nötig sei, um dem Sultan zu zeigen, "dass er nicht mit unserem Leben, unseren Werten und Dingen, die uns lieb sind, spielen kann" (S.52).

Eine Anthologie verkörpert die Sichtweisen verschiedener Autorinnen und Autoren auf ein bestimmtes Thema. Aber kann von Literatur auch eine revolutionäre Kraft ausgehen, kann sie die Impulse einer Protest- und Gegenbewegung, wie sie sich im Juni-Aufstand beispielhaft für die Türkei äußerte, über den bloßen Lesekonsum hinaus in eine Widerstand mobilisierende, gesellschaftsverändernde Richtung lenken? Literatur dient nicht allein der Ästhetik. Sie kann ein Fenster öffnen, aber auch ein Tor verschließen. Am Anfang der kommunistischen Arbeiterbewegung stand ein Buch. So gesehen hat Literatur die Wirkung eines Multiplikators: Ein einzelner Mensch kann Millionen erreichen. Ohne den Buchdruck, der Ideen und Gedanken, aber auch Kritik an feudal-gesellschaftlichen Verhältnissen einer breiten Öffentlichkeit zugänglich machte, hätte es wahrscheinlich nie eine Reformation oder Aufklärung gegeben.

Geschichten sollen Mut machen gegen eine Wirklichkeit, die unveränderlich zu sein vorgibt. Gezi war ein praktisches Beispiel für das Gegenteil. Innerhalb weniger Tage hat sich der Fatalismus einer unterdrückten Gesellschaft zu einer Bewegung gewandelt, die den Menschen ein neues Selbstverständnis gab. Dies mit literarischen Mitteln weiterzuentwickeln, hilft nicht nur den Menschen in der Türkei. Die in deutscher Sprache vorliegende Anthologie kann auch der bundesrepublikanischen Gesellschaft mit all ihren Widersprüchen und Repressionstendenzen ein Moment der Rückbesinnung sein, um zu jenen alten Quellen zurückzufinden, als Worte, gleich, ob gesprochen oder geschrieben, eben jenen Geist kämpferischer Solidarität weckten.

15. Juli 2014


Sabine Adatepe (Hg.)
Gezi
Eine literarische Anthologie
binooki OHG, Berlin 2014
130 Seiten, 19,90 Euro
ISBN 978-3-943562-40-8