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BUCHBESPRECHUNG/139: Henning Scherf - Grau ist bunt. Was im Alter möglich ist (SB)


Henning Scherf


Grau ist bunt

Was im Alter möglich ist



Vor sieben Jahren hat Henning Scherf gemeinsam mit Uta von Schrenk ein Buch vorgelegt, das heute gerade so aktuell ist wie damals. Der bekannte Bremer Alt-Bürgermeister, der ein Jahr zuvor seine politischen Ämter niedergelegt hatte, um in "Rente" zu gehen, erzählt hier frisch von der Leber weg - das Buch ist aus Interviews entstanden - anhand seiner persönlichen und seiner Familiengeschichte, wie er zum Alter und zum Altwerden steht. Fast im nebenherein entwickelt er die Vision eines Gemeinwesens, in dem die Älteren nicht den Versorgungsnotfall, sondern eine unverzichtbar gewordene, tragende Säule darstellen. Für ihn hat der 'klassische Ruhestand' ausgedient. Er plädiert dafür, sich als alter Mensch für andere einzusetzen und ist selbst ein Beispiel für gesellschaftliches Engagement, gepaart mit Diskussionsbereitschaft und kreatürlicher Neugier. Seine laut eigener Aussage in langen Jahren der Auseinandersetzung entstandenen Überlegungen und Konzepte lassen keine gesellschaftliche Gruppe aus.

In einem Rundumschlag setzt er sich für mehr soziales Miteinander und eine lebendige Kultur gegenseitiger Unterstützung in Stadtteilen und in den Wohnsilos ein und benennt einige Beispiele aus Bremen. Aus seiner Zeit als Sozialsenator berichtet er, wie das Landeskrankenhaus als Verwahrstation zugunsten einer kommunalen Psychiatrie aufgelöst wurde, die alle geistig Behinderten und psychisch Kranken in selbstverwalteten Wohngemeinschaften unterbrachte. Alle behinderten Kinder gingen heute in Bremen in Regelkindergärten. Von dem Beispiel autistischer Kinder, die mit Erwachsenen nicht kommunizieren, aber dort mit anderen Kindern lachen und spielen können, spinnt er den Faden weiter zu Demenzkranken, denen man vielleicht in ähnlicher Weise aus der Isolation helfen könne, wenn man sie mit anderen Menschen zusammenbringe. Ausdrücklich stellt er sich gerade angesichts des zunehmend als Katastrophe an die Wand gemalten demographischen Wandels gegen Vereinzelung und eine aufgrund von Wirtschaftlichkeitsvorgaben immer unmenschlicher werdende Pflegemaschinerie, die er auch aus eigener Anschauung kennt. Er propagiert den Systemwechsel zur Förderung der Selbständigkeit alter Menschen und zu einer Hilfe zur Selbsthilfe. Das Problem der wachsenden Zahl alter Menschen könne man nur lösen, indem man es in die Mitte der Gesellschaft hole und jeder seinen Teil dazu beitrage.

Leider wird das Alter überwiegend als Angst- und Panikthema vermittelt. Doch mit diesem Endzeitjammer über die alternde Republik, mit diesen Schreckensbildern von Massen an pflegebedürftigen Greisen, die mit ihren Rollstühlen uns alle in Bedrängnis bringen, muss Schluss sein! Ich möchte gern über die Chancen reden, die ein Leben nach der Berufstätigkeit eröffnet. Ich möchte darüber reden, was alles im Alter möglich ist. Ich möchte Menschen Mut machen und sie hinterm Ofen hervorlocken. [S. 7-8]

Zwei Schlüsselerlebnisse stehen gleich am Beginn seiner Berichte. Zeit seines Lebens hatte die Mutter seiner Mutter mit im Haushalt gelebt, war dort eine unverzichtbare Stütze gewesen, der Mittelpunkt der Familie und ein Segen für die Enkel. Sie starb umsorgt im Kreis der Familie, ein für Henning Scherf - wie er schildert - sehr nachhaltiges und noch heute motivierendes Erlebnis. Dem 'Elend des Alters' hingegen sei er Ende der 80er Jahre begegnet, als er auf seinem Weg nach Nicaragua eine Nacht in Miami verbracht habe: alte Menschen, die sich einen gesicherten Lebensabend im Hotel und am Strand leisten konnten - untätig, bei gähnender Langeweile, tagaus tagein mit dem immer gleichen Tagesablauf und denselben Gesichtern - und am Ende auf einem Campingstuhl am Highway den Autos hinterhersahen und auf das nächste Ereignis warteten. So verbrachten sie den Rest ihres Lebens.

Daß dies ein Greuel für den damals wie heute sehr umtriebigen Menschen Scherf darstellte, ist kein Wunder. Zu diesem Zeitpunkt hatten er, seine Frau und einige Freunde schon angefangen, tiefer übers Älter- und Altwerden nachzudenken und darüber, wie sie ihr weiteres Leben verbringen wollten. Nach langen Diskussionen und einem Findungs- und Lernprozeß hätte sich dann eine Gruppe zusammengetan, um nicht, wie anfangs geplant, in enger Gemeinschaft zu wohnen, aber doch in einem gemeinsamen Haus. Dieses war zwar als Mehrgenerationenhaus angedacht, zur Zeit der Entstehung des Buches aber eher eine Art offener Altersruhesitz mit jüngeren Mitmietern, gemeinsamen Absprachen und Unternehmungen. Über das ganze Buch hinweg vermittelt der Ex-Politiker den Eindruck sehr offener, intensiver und anhaltender Diskussionen in seiner "WG" über das Zusammenleben, gegenseitige Hilfe und Pflege, das Älterwerden, Krankheit, Sterben und Tod. Hier kommen, in dem Buch zitiert, durchaus verschiedene Ansichten zu Wort, die gleichwertig nebeneinanderstehen.

Als SPD-Mitglied bezeichnet sich Henning Scherf selbst als Linker und positioniert sich eindeutig gegen Schröders Agenda 2010 und Hartz IV. Er vertritt einen Umbau der sozialen Sicherungssysteme zum Erhalt des Sozialstaates, eine andere Arbeitskultur und eine längere Lebensarbeitszeit (je nach Vermögen) sowie eine jedem zustehende Grundsicherung. Eine Finanzierung über das Steueraufkommen hält er bei Einführung einer Vermögenssteuer, die reinvestiertes Kapital ausnimmt, sowie bei verlängerter Lebensarbeitszeit für möglich. Ganz offensichtlich ist er der Überzeugung, daß gesellschaftliche Probleme und Interessengegensätze durch hartnäckiges Engagement, Überzeugungsarbeit und eine entsprechend motivierte Politik im Einvernehmen mit der Wirtschaft zu lösen sind. Hier könnte man ihm eine gewisse Zwecknaivität unterstellen, gerade wenn er auch wirtschaftliche Not aus der eigenen Familiengeschichte kennt. Vermittelt er doch den Eindruck des arrivierten, von allen - das Alter einmal abgesehen - Sorgen freigestellten Menschen, der über genügend Ressourcen und natürlich mittlerweile auch die Entscheidungsfreiheit über seine Zeit verfügt, um ganz seinen Interessen und dem selbstgewählten gesellschaftlichen Engagement nachgehen zu können. Daß dieses anderen zugute kommen soll, vermittelt er glaubhaft. Daß er sich Menschen, die sich in dieser Gesellschaft nicht wiederfinden oder an ihr scheitern mußten, vielleicht eher mit wohltätigem Interesse nähert, könnte nachdenklich machen.

Es wäre allzu bequem, seine Vision als gutgemeint und unrealistisch zu verwerfen, denn gern wird als blauäugig diffamiert, was andere Wege sucht, als dem wirtschaftlichen Profit zu dienen. Ob man mit der Rückverlagerung sozialer Verantwortlichkeiten in den Privatbereich eine neue Art der Notgemeinschaft propagiert, die Staat und Wirtschaft auf Kosten der Schwächeren in der Gesellschaft weiter entlasten soll, wäre dennoch eine ernstlich zu stellende Frage. Denn so könnten soziale Not und Unzufriedenheit gedämpft und Unwuchten geglättet werden, ohne daß sich nachhaltig an den bestehenden gesellschaftlichen Verteilungsverhältnissen etwas ändert.

Henning Scherf war mit "Grau ist bunt" seinerzeit auf Lesereise mit über 400 Veranstaltungen. Das Buch wurde 2011 als Taschenbuch neu herausgegeben und erscheint 2014 in der 6. Auflage. Eine Reihe weiterer Bücher zum Thema, seine Reise durch Pflegeeinrichtungen und sein Engagement in den Medien zeigen, daß er um Ideen nicht verlegen sein Thema weiterverfolgt. Das Buch ist zum Einstieg auf jeden Fall zu empfehlen. Es ist lebendig, für jeden verständlich und nachvollziehbar geschrieben. Henning Scherf vertritt seine Sache gut. Fast könnte man darüber vergessen, daß es ein Problem gibt...

22. März 2014


Henning Scherf
mit Uta von Schrenk
Grau ist bunt
Was im Alter möglich ist
Herder Verlag, Freiburg im Breisgau 2011
Taschenbuch
Großdruck
279 Seiten
ISBN 978-3-451-06374-9