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REZENSION/063: Dufresne, Mieses - Lehrbuch des Schachspiels (Schach) (SB)


Dufresne, Mieses


Lehrbuch des Schachspiels



Fehlen sollte der "Kleine Dufresne", wie das erste große deutsche Standardwerk der Schachliteratur liebevoll bezeichnet wird, in keinem Bücherregal eines Novizen des Königlichen Spiels. Sein Fehlen würde eine empfindliche Lücke aufzeigen, sowohl, was das Durch- leuchten der Hintergründe anbelangt, die dazu geführt haben, daß das Schachspiel heutzutage wohl die populärste und alle kulturellen und gesellschaftlichen Schranken vorurteilsfrei niederreißende Verkörperung dessen darstellt, was den denkenden Menschen in seinem Wunsche nach Geselligkeit und gleichzeitiger Aus- schöpfung seiner kreativen Talente ausmacht, als auch in dem Punkte des rein fachbezogenen Wissens.

Die geschickte Aufgliederung in vier große Kern- abschnitte, jede für sich tiefgreifend erfaßt, trägt vorbildlichen Charakter und macht es dem Lernenden leicht, das Schachspiel als die Aufeinanderfolge eines stringent entwickelten Gedankens zu verstehen.

Die Heranführung an die Regeln ist einfach gehalten, ohne Raum für Mißverständnisse offenzulassen. Fein ausgewogen erweist sich auch der auf das Wesent- liche abgestimmte Eröffnungsteil, in Begleitung mit einer reichhaltigen Auswahl erlesener Partien aus der frühen und jüngsten Großmeisterpraxis wird das Ganze zu einem auf Befähigung ausgerichteten Lernschritt erweitert. Den Autoren ist es zudem in dankenswerter Weise gelungen, die Randbemerkungen zu den einzelnen Zügen frei zu halten vom Urwald ausufernder Neben- varianten. Man liest und wird nicht erschlagen, und findet so für sich selber die Zeit und den Raum für eigene Überlegungen, eine unverzichtbare Voraussetzung für jeden Heranreifenden in dieser Kunst, soll er nicht zu einem Automaten oder 'Variantenschlucker' degradie- ren. Das Gebot von der Einfachheit in allen Denk- schritten findet leider in vielen Werken nicht den erforderlichen Vorrang und wird oftmals dominiert vom mentalen Streß, alles bis ins Kleinste, Leidigste, selten zu einem wirklich klaren Resultat Führende durchrechnen zu wollen. Den Abschluß des Lehrbuchs bildet dann die Endspiellehre, wo in Grundzügen die wichtigsten Elemente dieser Partiephase anschaulich erläutert werden.

Dennoch nimmt man den 'Kleinen Dufresne' nicht wie ein Nachschlagewerk zur Hand. Zu schnöde und auch verschwendet wäre diese Mühe. Wer sich mit den letzten Fragen dieser oder jener Eröffnung auseinandersetzen möchte, sollte eher zu einer Enzyklopädie greifen. Was dies Lehrbuch von Dufresne und Mieses zu etwas ganz besonders Wertvollem macht, ist, daß hier kompakt, bündig und aufschlußreich eine ganze Ideengeschichte des Schachspiels ausgerollt wird. Man erhält Einblicke in einen langen und wandlungsfähigen Werdeprozeß, der mit dem ersten Internationalen Turnier anläßlich der Weltausstellung 1851 in London begonnen hatte und sich bis in unsere moderne Zeit erstreckt, nicht aufhört und nie aufhören wird, solange Menschen sich mit dem Schachspiel beschäftigen.

Wie jede Kunst lebt auch das Schachspiel vom Geist der Innovationen, von neuen Strategien und nicht nachlassenden Verbesserungen einzelner Pläne. Doch diese stehen nicht für sich allein im luftleeren Raum, sind keine Inspirationen aus dem Stegreif, sondern gründen sich wurzeltief im Erdreich all der Partien, die in der Vergangenheit gespielt wurden. Es gibt Knotenpunkte, Schwellen der Systematisierung, die nicht außer acht gelassen werden dürfen, oder, um mit dem Großmeister Savielly Tartakower zu sprechen: Am 'Baume der Schacherkenntnis' wachsen alle Früchte.

Nichts ist so tragisch, so lernhemmend wie die irrige Meinung, man bräuchte bloß die Partien der modernen Turnierpraxis zu studieren, um sich das "beste" Schach anzueignen.

Es ist der Vorzug dieses Buches vor allen anderen, daß eben dieser Gedanke der Entwicklungskontinuität in den Vordergrund gerückt wurde von seiner ersten Auflage an. Die Umstände, die 1881 im Verlag Philipp Reclam jun zu seinem Druck geführt hatten, waren die denkbar geeignetsten dafür.

Jean Dufresne, ein angesehener Berliner Schach- meister und Schüler des ersten 'inoffiziellen' Welt- meisters Adolf Anderssen, hatte alle Koryphäen seiner Zeit persönlich kennengelernt. Als Schachjournalist der frühen Stunde blickte er so auf einen großen Erfahrungs- schatz, als er die ersten Zeilen zu diesem Handbuch schrieb. In einer sprachlich sehr kompetenten Weise, durchmischt mit dem Kolorit und Elan jener Pionier- jahre, zeichnete Dufresne ein getreues Bild vom Stand der schachlichen Forschung, deckte das Mosaik der Ideen auf, hob die Konstrate der konvergierenden Spielauffas- sungen hervor und schuf damit das wohl erste authentische Gesamtwerk der Schachliteratur.

Die Bearbeitung des Lehrbuchs lag bis zu seinem Tode im Jahre 1893 und damit bis zur sechsten Auflage in seinen Händen. Ab 1901 übernahm dann Jacques Mieses, ein in Leipzig geborener Meister der Kunst, der viele Turniere gewann, die Durchsicht und Betreuung. Mieses setzte die von Dufresne begonnene Tradition mit aller Gewissenhaftigkeit fort und bereicherte dank seiner Fachkompetenz den theoretischen Teil um viele interessante Nuancen.

Der Leser und Lernende fühlt sich hineinversetzt in die frühe Schaffensperiode, er erkennt anhand der durchdacht installierten Balance zwischen alten und modernen Partien, wie sich Gedankengänge und Konzepte mehrerer Zeitepochen gegenseitig befruchteten, wie eines das andere stützte und den Grundstein dafür legte, daß das Schachspiel stets aus einer vitalen Quelle schöpfen konnte.

Dogmatik und schulmeisterliche Besserwisserei wird man in diesem Buch nicht antreffen, allenfalls die heilsame Aufforderung, vor keiner Lehrmeinung zurück- zuschrecken und den eigenen Zweifel, die eigene Forscherlust nutzbringend in den Streit einzuwerfen.


Dufresne/Mieses
Lehrbuch des Schachspiels
neu bearbeitet von R. Teschner
Philipp Reclam jun, Stuttgart 1996