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REZENSION/257: Preiß - Von der Katjuscha zur Kursk (Rußlands Rüstung) (SB)


Frank Preiß


Von der Katjuscha zur Kursk

Die russische Rüstung



Seit dem Ende des Warschauer Pakts und der Auflösung der Sowjetunion machen die Streitkräfte Rußlands, die Nachfolger der ruhmreichen Roten Armee, vor allem mit negativen Schlagzeilen auf sich aufmerksam. Erinnert sei an den anscheinend nie endenwollenden Krieg in Tschetschenien, der rund 80.000 Menschen das Leben gekostet und die Teilrepublik gänzlich verwüstet hat, den Untergang des riesigen Atom-U-Bootkreuzers "Kursk" - Stolz der russischen Marine - im August 2000 in der Barentssee mit dem Verlust der gesamten Besatzung, das mit Betäubungsgas herbeigeführte Ende des Geiseldramas im Moskauer Dubrowka-Theater im Oktober 2002 mit dem Tod von 41 von 50 tschetschenischen Rebellen und 130 von 800 Zivilisten sowie an die Geiselnahme im letzten September im nordossetischen Beslan, die rund 30 Rebellen und 400 Zivilisten, die meisten von ihnen Frauen und Kinder, das Leben gekostet hat.

Angesichts solcher Horrorgeschichten, die dem im Westen gängigen Klischee von den angeblich unverhältnismäßig brutalen Herrschaftspraktiken des byzantinisch geführten Kremls entsprechen, könnte man auf die Idee kommen, die Russische Föderation wäre nicht überlebensfähig und deshalb dem Untergang geweiht. Daß Rußland allen wirtschaftlichen Problemen zum Trotz unter Präsident Wladimir Putin auf dem besten Weg ist, nach den Erosionsjahren unter Boris Jelzin erneut seine angestammte Position als eurasische Großmacht zu behaupten, wissen die wenigsten. Herausragende Komponenten der vom Ex- KGB-Offizier Putin eingeleiteten, umfassenden Stabilisierungsmaßnahmen stellen die Neustrukturierung der russischen Rüstungsindustrie und die Modernisierung der Streitkräfte des Landes dar. Mit "Von der Katjuscha zur Kursk - die russische Rüstung" liefert Frank Preiß einen hochinformativen Überblick über den aktuellen Stand dieses Prozesses sowie die Geschichte und Zukunftsperspektiven des "Militär-Industrie Komplexes" (MIK) Rußlands. Anders als man es im Westen vielleicht erwartet hätte, sehen letztere gar nicht so schlecht aus.

Für den 1957 geborenen Preiß, der Major der Nationalen Volksarmee war, von 1986 bis 1990 Philosophie an der militärpolitischen Akademie "W. I. Lenin" der sowjetischen Streitkräfte in Moskau studiert hatte und bis zur Auflösung der Deutschen Demokratischen Republik 1990 an der NVA-Hochschule in Berlin-Grünau gelehrt hat, ist seit den Tagen Peter des Großen das russische und dann das sowjetische Reich "immer ein Militärstaat gewesen". War die "staatssozialistische Modernisierungsdiktatur in der UdSSR eng mit der Militarisierung des Landes verwoben", so muß sich laut Preiß nun unter Putin die Russische Föderation "beim Versuch der restaurativen Erneuerung des Landes" diesem "janusköpfigen Erbe" stellen. Keine leichte Aufgabe, wenn man bedenkt, daß der MIK am Ende der Sowjetunion ein Drittel der Arbeitskräfte beschäftigte und die Hälfte der Gesamtwirtschaft kontrollierte.

Unter Michail Gorbatschow in den achtziger Jahren hat die sowjetische Führung in Moskau endlich eingesehen, daß der "monströse, ressourcenverschlingende" Rüstungswettlauf mit dem Westen nicht mehr zu verkraften war. Dazu Preiß:

So wurde beispielsweise bekannt, dass die UdSSR von 1978 bis 1987 viermal so viele Panzer und Geschütze und doppelt so viele Schützenpanzer wie die NATO-Staaten und Japan gemeinsam produziert hatte. Dabei erreichte ihr Bruttoinlandsprodukt etwa nur den siebenten Teil des BIP dieser Staaten. (S. 39)

Folglich setzte man in den neunziger Jahren in Rußland alles auf die Verschlankung des aufgeblähten Militärapparates und der dazugehörigen Zulieferbetriebe einschließlich der Konversion zur Produktion ziviler Güter. Dabei mußten die Russen manch böse Überraschung erleben, von denen die Schwierigkeiten beim industriellen Umstellungsprozeß vermutlich die am wenigsten schockierenden waren.

Vor allem die wiederholte, krasse Mißachtung russischer Sicherheitsinteressen durch die USA hat in Moskau tiefgehende Zweifel an der Ehrlichkeit des nach dem Fall der Berliner Mauer gemachten Partnerschaftsangebots des Westens ausgelöst. Die Osterweiterung der NATO, die eine grobe Verletzung des Zwei-plus-vier-Vertrags, in dessen Rahmen die Sowjetunion der Wiedervereinigung Deutschlands zugestimmt hatte, darstellt, die Zerschlagung des Vielvölkerstaates Jugoslawien, der völkerrechtlich illegale Kosovokrieg 1999 unter dem demokratischen US-Präsidenten Bill Clinton, der von seinem republikanischen Nachfolger George W. Bush beschlossene Austritt Washingtons aus dem ABM-Vertrag zwecks Erfüllung des Traums des Pentagons vom Nationalen Raketenabwehrsystem (NMD), die fadenscheinig begründete Eroberung und Besetzung Afghanistans und des Iraks durch die von den amerikanischen Streitkräften geführten Koalitionen, die Einrichtung von US-Militärbasen in den ehemaligen Sowjetrepubliken Zentralasiens sowie die jüngste Sicherheitsdoktrin der USA aus dem Jahr 2002, die ausdrücklich die Möglichkeit von Präventivkriegen sowie den Einsatz von Atomwaffen gegen eine Reihe sogenannter "Schurkenstaaten" sowie die Volksrepublik China und die Russische Föderation vorsieht - all das und mehr hat bei der Führungselite in Rußland einen ernüchternden Denkprozeß ausgelöst und ihr die Notwendigkeit des Erhalts der eigenen rüstungstechnologischen Infrastruktur vor Augen geführt.

In diesem Zusammenhang sind die militärtechnischen Ausführungen Frank Preiß' über den Verlauf des Kosovokriegs, den er in zwei Etappen, eine "Experimentalphase" und eine "Trainingsphase", einteilt, besonders aufschlußreich und tragen zum besseren Verständnis der modernen, satellitengestützten, auf geringstmögliche Feindberührung abzielenden Kriegsführung der Supermacht USA bei. Vor allem die der NATO gelungene Ausschaltung der aus der Sowjetära stammenden, jugoslawischen Luftabwehrsysteme soll für die militärische Führung der Russischen Föderation eine "Offenbarung" der unangenehmeren Art gewesen sein. Dazu schreibt Preiß:

Hauptziele der Angreifer waren schließlich die Zerstörung der staatlichen und militärischen Führung und der ökonomischen Infrastruktur, das Training der Truppen und Stäbe, die Erprobung neuer Kampfmittel und -methoden sowie die politische Signalwirkung an die Weltöffentlichkeit.
(...)
Durch die Mittel des funkelektronischen Kampfes wurde die Luftabwehr total niedergehalten. Erfolgte dennoch ein Abwehrstart, so bedeutete dies die unverzügliche Vernichtung des gesamten Komplexes. Ebenso wurde jede Funkstation, die im aktiven Regime arbeitete, sofort zerstört. Dabei handelten ... sowohl die Aufklärungs- als auch die Schlagmittel der USA aus einer Entfernung von hunderten gar tausenden Kilometern vom Kriegsschauplatz; für die Jugoslawen eben kontaktlos, nicht erkennbar und unerreichbar. (S. 208)

Wiewohl in den letzten beiden Jahren die unübersehbaren Schwierigkeiten der US-Streitkräfte bei der Aufstandsbekämpfung im Irak laut Preiß wieder zum Erstarken des Selbstbewußtseins der nach dem Kosovokrieg schockierten, russischen Militärführung beigetragen haben, ist man in Moskau nicht erst seit der Abkehr der Bush- Regierung von der multilateralen Konfliktverhütung im Rahmen der Vereinten Nationen zu der Einsicht gelangt, daß für Washington offensichtlich der Krieg wieder ein Mittel der Politik geworden ist. Die Führung in Moskau ist sich der Begehrlichkeiten der USA hinsichtlich des Öl- und Gasreichtums des Nahen Ostens und Zentralasiens sowie des für Rußland extrem bedrohlichen, offen erklärten Strebens des Pentagons nach globaler Militärherrschaft bewußt und hat deshalb in den letzten Jahren die Beziehungen zu den aufstrebenden Großmächten Indien und China ausgebaut.

Die enorme strategische Bedeutung der militärtechnologischen Zusammenarbeit Moskaus mit Peking und Neu-Delhi für die Außenpolitik und den MIK Rußlands erläutert Preiß in großer Detailfülle und Differenziertheit. Gerade der anhaltende Streit zwischen Brüssel und Washington über die Aufhebung des EU-Rüstungsembargos gegen China, die jüngste Entscheidung der Bush-Regierung zum Verkauf von zwei Dutzend Kampfflugzeugen vom Typ F-16 an Pakistan sowie das Werben der USA um Indien als strategischen Verbündeten zeugen von der Relevanz der Hintergrundinformationen, die das vorliegende Buch so empfehlenswert machen.

Wie Preiß zurecht feststellt, wäre es für Moskau ein "schwerer Rückschlag", sollte es Indien als rüstungstechnologischen Absatzmarkt an die USA verlieren. Gerade der Export an Neu-Delhi sichert das Überleben vieler russischer Rüstungsbetriebe und ermöglicht ihnen die Entwicklung modernster Waffensysteme. Nicht wenige Waffen aus russischer Produktion sind heute noch ihrem westlichen Pendant nicht nur ebenbürtig, sondern überlegen. Bestes Beispiel ist die russische Boden-Luft-Rakete S-300, welche die zu Unrecht viel berühmtere Patriot-Rakete völlig in den Schatten stellt. Gerade aus diesem Grund gilt der MIK Rußlands den Befürwortern einer globalen Pax Americana als gewichtiges Hindernis, das zu schwächen oder in irgendeiner Form unschädlich zu machen man gewillt ist.

Vor dem Hintergrund des Buhlens der USA um die Gunst des wirtschaftlich aufstrebenden Indiens sowie der nicht zufällig in letzter Zeit aufgekommenen Diskussion in den westlichen Medien um den vermeintlich "autoritären" Führungsstil Wladimir Putins beziehungsweise um die Wünschbarkeit einer wie auch immer farblich kodierten, "demokratischen Revolution" in Moskau, bietet das vorliegende Buch eine gelungene Einführung in die Welt der im Westen viel zu wenig bekannten russischen Rüstungsindustrie. Bedenkt man, wie erfolgreich sich die Fachbücher Tom Clancys über die verschiedenen Waffengattungen der US-Streitkräfte wie beispielsweise "Fighter Wing" in den letzten Jahren auch hierzulande verkauft haben, kann man Frank Preiß nur wünschen, daß sein Buch bei Militär- und Politikinteressierten ebenfalls ein breites Publikum findet.

5. April 2005


Frank Preiß
Von der Katjuscha zur Kursk
Die russische Rüstung
Kai Homilius Verlag, Berlin 2004
396 Seiten, 24,80 Euro
ISBN 3-89706-883-4