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REZENSION/365: Pierre Bourdieu - Die männliche Herrschaft (SB)


Pierre Bourdieu


Die männliche Herrschaft



Viel zu lange schon kümmern sich Männer um die Angelegenheiten von Frauen und sorgen für die Aufrechterhaltung der eigenen Vorrechte. Verändert hat sich allein die Art und Weise, nicht die grundsätzliche Frage der Fremdbestimmung der Frauen durch männlichen Einfluß. Der Soziologe Pierre Bourdieu, der sich die Veränderung des Verhältnisses der Geschlechter auf die Fahnen schreibt, paßt wunderbar in diese Tradition. Auch er versteht sich als zuständig und kompetent, die Interessen von Frauen zu vertreten. Gleichzeitig festigt er als würdiger Vertreter der wissenschaftlichen Zunft deren Terrain und macht deutlich, daß er seinen Lehrstuhl zu Recht besetzt. Die 'Bescheidenheit', mit der er sich in die Diskussion um den Befreiungskampf von Frauen einbringt, ist genauso Taktik wie seine Nebenbemerkung, er wage sich damit auf ein "von Frauen fast gänzlich monopolisiertes Gebiet". Er verrät damit sein Bemühen, verloren geglaubte Bereiche zurückzuerobern. Seine Ausführungen sind kaum relevant für den Kampf gegen "männliche Herrschaft" bzw. gegen Verhältnisse, deren Interessen er wahrt.

Ich habe mich erst nach langem Zögern und mit größter Behutsamkeit auf dieses äußerst schwierige und heute fast gänzlich von Frauen monopolisierte Gebiet gewagt. Ich tat es schließlich deshalb, weil ich den Eindruck hatte, meine von Distanz und Sympathie geprägte Beziehung könnte mir, auf die Ergebnisse der gewaltigen, von der feministischen Bewegung angeregten Arbeit und auf die Resultate meiner eigenen Forschung über die sozialen Ursachen und Wirkungen der symbolischen Herrschaft gestützt, eine Analyse ermöglichen, die sowohl der Forschung über die Lage der Frau oder, RELATIONALER* gefaßt, die Beziehungen zwischen den Geschlechtern als auch dem Handeln, das auf deren Veränderung zielt, eine andere Orientierung zu geben vermöchte.
(S. 197/198)

Einfach gesagt vertritt Bourdieu im vorliegenden Werk zwei Thesen:

- Der Unterschied (in all seinen Ausprägungen) zwischen den Geschlechtern ist gesellschaftlich konstruiert (menschheits- sowie individualgeschichtlich gesehen) und nicht natürlichen Ursprungs; er wird als naturhaft angesehen und erhält dadurch seine Legitimation.

- Diese gesellschaftliche Konstruktion ist so umfassend wirksam, daß sie von den Beteiligten eigentlich nicht durchschaut werden kann. Der Mann dominiert, die Frau richtet sich merklich und unmerklich in allen Regungen nach ihm aus.

Das gesellschaftliche Deutungsprinzip konstruiert den anatomischen Unterschied. Und dieser gesellschaftlich konstruierte Unterschied wird dann zu der als etwas Natürliches erscheinenden Grundlage und Bürgschaft der gesellschaftlichen Sichtweise, die ihn geschaffen hat. (S. 23)

Die Macht der männlichen Ordnung zeigt sich an dem Umstand, daß sie der Rechtfertigung nicht bedarf. Die androzentrische Sicht zwingt sich als neutral auf und muß sich nicht in legitimatorischen Diskursen artikulieren. Die soziale Ordnung funktioniert wie eine gigantische symbolische Maschine zur Ratifizierung der männlichen Herrschaft, auf der sie gründet:
(S. 21)

Dagegen gibt es, abgesehen davon, daß es sich damit um keine neue Erkenntnis handelt, erst einmal nichts einzuwenden. Daß der Autor bei seinen Überlegungen unreflektiert eine Art wahre Natur des Menschen zum Ausgangspunkt nimmt, sei hier nur kurz bemerkt. Während Bourdieu selbst einräumt, daß es sich bei der Erkenntnis, daß durch das Prinzip Herrschaft Untertanen konstruiert werden, um nichts Neues handelt, nimmt er sich eine aus seiner Sicht vollständigere Beschreibung der entsprechenden Mechanismen vor. Tatsächlich widmet er sich auch mit großer Umschweifigkeit der Darstellung und Analyse der von ihm ausgemachten Verhältnisse, ihren Ausformungen und ihrer Installation (Konstruktion). Mit diesem Verfahren zeigt sich dann auch das grundsätzliche Problem, das der Autor mit dem Objekt seiner Studien hat und gleichzeitig, warum seine Darstellungen entufern: Er bemüht sich um ein genaues Verständnis von Herrschafts- und Unterdrückungsmechanismen, doch drückt er sich um die Konsequenz aus seiner Forschung. Sein Instrument ist stumpf, weil er sich nicht über das opportune, also gesellschaftlich noch akzeptable, Maß hinaus in den Konflikt mit den Verhältnissen begibt und unmittelbar deren Ende anstrebt. Die Darlegung und Analyse allein greift die Grundlagen der auf Herrschaft gebauten sozialen Ordnung nicht an, sondern kann sogar dazu führen, daß diese sich umso fester etabliert.

Die heutige Sozialisation bzw. die Prägung des einzelnen Menschen zum gesellschaftlich gewünschten Subjekt schildert Bourdieu als historisch gewachsen und entsprechend tief verankert. Ihre Ursprünge verortet er vage in einem archaisch männlichen, mythisch-rituellen Umfeld und verharmlost dadurch mehr, als daß er zur Klärung beiträgt. Das Resultat dieser Sozialisation ist für ihn eine unausweichliche und zwingende Disposition:

Wenn die Frauen, die einer Sozialisationsarbeit unterworfen sind, welche auf ihre Herabsetzung und Verneinung zielt, eine Lehre negativer Tugenden wie Selbstverleugnung, Resignation und Schweigen durchmachen, sind die Männer gleichfalls Gefangene und auf versteckte Weise Opfer der herrschenden Vorstellung. Denn genau wie die weiblichen Dispositionen zur Unterwerfung sind auch die Dispositionen, die die Männer dazu bringen, die Herrschaft zu beanspruchen und auszuüben, nichts Naturwüchsiges.
(S. 90)

Der Autor legt dar, daß es ihm als Beteiligter und als Produkt dieser gesellschaftlichen Mechanismen unmöglich sei, als neutraler Beobachter zu fungieren. Statt sich jedoch unmittelbar dem Problem der eigenen Beteiligung zuzuwenden und sich ihr ausschließend zu widmen, bestätigt er sie und macht gleich zwei Schritte rückwärts: Zum einen befaßt er sich auf eine Weise mit der gesellschaftlichen Lage und Rolle von Frauen, die seine eigene Person sowie Position nicht einen Moment infragestellt. Der zweite Schritt zurück besteht in seinem angeblichen Kunstgriff, mit dem er sich noch einmal den Studien seiner frühen Jahre über die Gemeinschaft der Kabylen in Algerien zuwendet. Seiner Aussage nach beabsichtigt er, diese Gemeinschaft als eine Art Labor zu benutzen, als Mikrokosmos, in dem sich die gesellschaftlichen Mechanismen, denen die westliche Welt unterliegt, deutlicher zeigen. Mit diesem Ausweichmanöver entfernt er sich jedoch noch weiter von dem angeblichen Zweck seiner Betrachtungen, also der grundlegenden Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen, und sorgt dafür, daß seine Ausführungen ihm in keiner Richtung schaden. Weder als Mann, noch als führender Soziologe Frankreichs muß er wirklich Position gegen die soziale Ordnung beziehen, von der er profitiert. Auch das folgende Zitat kann über sein Interesse, die eigene gesellschaftliche Stellung nicht zu gefährden, nicht hinwegtäuschen. Wer würde diesem Mann schon ernsthaft unterstellen, er verlange von einer Frau das unten nahegelegte Verhalten?

Die den kabylischen Frauen auferlegte gefügige Haltung ist die Extremform dessen, wozu heute noch die Frauen in den Staaten wie in Europa angehalten werden. Sie läßt sich, wie häufig gezeigt wurde, in wenigen Geboten zusammenfassen: lächeln, die Augen niederschlagen, Unterbrechungen dulden usf.
(S. 53)

Nein, ein bißchen selbstbewußt und sexuell freizügig soll sie schon sein, die Frau von heute. Die Analyse seiner eigenen Bedürfnislage erspart sich der Autor, wie schon angemerkt und wie im folgenden noch deutlicher wird.

Die ethnologische Beschreibung einer sozialen Welt, die in Gänze um die männliche Herrschaft zentriert und so entlegen ist, daß sie der Objektivierung leichter zugänglich ist, funktioniert wie eine Art "Detektor" noch so schwacher Spuren und unzusammenhängender Bruchstücke der androzentrischen Weltsicht. Sie kann daher als Werkzeug einer historischen Archäologie des Unbewußten dienen, das zwar ursprünglich in einem ganz alten und archaischen Zustand unserer Gesellschaften konstruiert wurde, das aber gleichwohl in jedem von uns, Mann oder Frau, präsent ist. (Es handelt sich mithin um ein geschichtlich entstandenes Unbewußtes. Mit einer biologischen oder psychologischen Natur und in diese Natur eingeprägten Eigenschaften wie, der Psychoanalyse zufolge, dem Unterschiede zwischen den Geschlechtern hat es nichts zu tun, sehr wohl aber mit einer genuin geschichtlichen Konstruktionsarbeit, wie etwa der, die den Jungen von der Welt der Frau ablösen soll. Also kann es durch eine Veränderung seiner geschichtlichen Produktionsbedingungen selbst verändert werden.)
(S. 97)

Daß der Beobachter Bourdieu auch mit Hilfe eines solchen Kunstgriffes nicht unbeteiligt ist, zeigt sich beispielhaft in seinen uferlosen Ausführungen sowie seinem ausgeprägten Interesse an den kabylischen Begrifflichkeiten und deren Zuordnung zu den Kategorien männlich und weiblich bzw. an der entsprechenden Bewertung.

Die objektive "Absicht", den weiblichen Anteil am Männlichen zu verleugnen (eben desjenigen, den die Psychoanalyse Melanie Klein zufolge in einem dem Ritual entgegengesetzten Prozeß wiederherzustellen hätte), und die Bindungen an die Mutter, die Erde, das Feuchte, die Nacht, die Natur aufzuheben wird z.B. an den im Augenblick der sogenannten "Trennung im ENNAYER" (el âazla gennayer) vollzogenen Riten, wie dem ersten Haareschneiden der Jungen, manifest, wie auch an allen Zeremonien, die das Überschreiten der SCHWELLE zur Männerwelt markieren und die in der Beschneidung ihren krönenden Abschluß finden.
(S. 49/50)

Auch seine nachhaltige Orientierung an den im Westen gesellschaftlich akzeptierten Begrifflichkeiten, Denkschemata und Konzepten (seien es psychoanalytische Ansätze oder die altväterliche Sicht, die Frauen seien das klügere Geschlecht, wie in den von Bourdieu hochgelobten Ausführungen in Virginia Woolfs "Fahrt zum Leuchtturm") ist ein Zeichen dafür, daß Bourdieu seine Analysen wenig auf die eigene Person und das eigene soziale Umfeld bezieht. Im anderen Falle würde er seine Begrifflichkeiten etc. einer kritischen Hinterfragung unterziehen. Darüber können auch die dem Familien- und Berufsleben von Frauen im Westen gewidmeten Abschnitte nicht hinwegtäuschen, die von ihrer fortgesetzten Benachteiligung zeugen. Der Autor vertritt das durchschaubare Konzept, daß die Bewußtwerdung der Herrschaftsverhältnisse bzw. das genaue Studium der subtilen Mechanismen, mit denen diese aufrechterhalten werden, schon zu deren Beseitigung beiträgt, und weiß sich auf diese Weise im Hintergrund zu halten, wenn es an die Umsetzung geht. Mit seinem Vorschlag, die Verhältnisse an der von ihm festgestellten Wurzel - der Sozialisation in allen Bereichen - zu packen, und dem Verweis darauf, daß der bereits geprägte Mensch in den Verhältnissen festsitzt, verzichtet er darauf, sich sofort an Ort und Stelle neu auszurichten.

Daß der Autor so augenscheinlich nicht aus seiner Haut kann, sollte allerdings nicht zu dem Schluß veranlassen, daß dies nicht möglich ist. So fest und unauflöslich, wie man nach Bourdieus Konzept der Konstruktion des Menschen denken sollte, sind die gesellschaftlichen Strukturen nicht verankert. Noch gibt es die Widersprüche und das persönliche Unbehagen, die auch der Autor als Antrieb für den Widerstand ausmacht. Geschähe die Prägung bzw. Konstruktion des vergesellschafteten Menschen so ausschließlich, wie er es darstellt, könnte er seine Vorstellung von einem allmählichen Wandel der Sozialisation durch initiative, aufgeklärte Bürger nicht aufrechterhalten. Abgesehen davon, daß Bourdieu sich mit seinen Ausführungen nicht in die gefährliche Gesellschaft jener begibt, die den kapitalistischen Herrschaftsverhältnissen ausschließend gegenüberstehen, liefert er auch noch jenen, die von der bestehenden sozialen Ordnung profitieren, die Legitimation, denn aufgrund ihrer Vorprägung können sie nicht anders handeln als sie es tun.

Eine subversive politische Bewegung muß wirklich alle Herrschaftseffekte berücksichtigen, die über die objektive Komplizenschaft zwischen den (in den Männern wie den Frauen) inkorporierten Strukturen und den Strukturen der großen Institutionen ausgeübt werden, wo nicht nur die männliche Ordnung, sondern die gesamte gesellschaftliche Ordnung vollendet und reproduziert wird. (Angefangen beim Staat, der um den Gegensatz zwischen seiner männlichen "rechten Hand" und seiner weiblichen "linken Hand" zentriert ist, und der Schule, die für die effektive Reproduktion aller fundamentalen Interpretations- und Einteilungsprinzipien verantwortlich zeichnet und gleichfalls um homologe Gegensätze organisiert ist.) Nur eine derart umfassend ausgerichtete Bewegung kann, wenn auch sicherlich nur auf lange Sicht und durch die immanenten Widersprüche der Mechanismen oder Institutionen begünstigt, zum allmählichen Untergang der männlichen Herrschaft beitragen.
(S. 199/200)

Der Autor setzt auf den bewährt-bekannten Marsch durch die Institutionen, der, um nur das Beispiel der heute weitgehend gesellschaftlich integrierten Frauenbewegung zu nennen, dem Widerstand die Spitze bricht.

Pierre Bourdieu hat dieses Buch Ende der 90er Jahre verfaßt, zu einem Zeitpunkt, als der Befreiungskampf der Frauen bereits gesellschaftlich vereinnahmt war. Er kann als ein Vertreter jener fortschrittlichen Klasse Intellektueller gesehen werden, die als Vorreiter der kommenden gesellschaftlichen Entwicklung divergierende Gedanken gleichsam wie ein Filter aufsaugen und zum Wohle des Großen Ganzen entsprechend gereinigt zurückgeben. Was bei ihm zunächst als eine Reihe klärender Erkenntnisse anmutet, führt zurück in den großen Schoß der gesellschaftlichen Ordnung, der Bürgergesellschaft, in der Chancengleichheit gesetzlich verankert ist, die eigene Leistung zählt und in der jeder das Verständnis für den anderen aufbringt, der sich entfalten möchte. Nicht zufällig scheint Bourdieu die Liebe der Ausweg aus dem Dilemma des menschlichen Raubgefüges und des gesellschaftlichen Konfliktes zwischen Mann und Frau.

Einzig durch eine ständige und stets von neuem begonnene Arbeit kann der Kälte der Berechnung, der Gewalt und des Interesses "die verzauberte Insel" der Liebe entrissen werden, diese geschlossene und vollkommen autarke Welt, in der sich Wunder an Wunder reiht: das Wunder der Gewaltlosigkeit, das durch die Herstellung von Beziehungen ermöglicht wird, die auf völliger REZIPROZITÄT beruhen und Hingabe und Selbstüberantwortung erlauben; das der gegenseitigen Anerkennung, die es gestattet, sich, wie Sartre sagt, "in seinem Dasein gerechtfertigt", gerade in seinen kontingentesten oder negativsten Besonderheiten angenommen zu fühlen.
(S. 189)

Er greift damit auf die Lösung zurück, die Frauen, seit ihrer Verpflichtung zu Ehe und Monogamie, in Ketten hält. Er ruft zu Anpassung und Versöhnung auf, wo es zugunsten einer Entwicklung für den Menschen ohne Herren zu streiten gälte. Er liefert jenen Kräften Argumente, die den sozialen Befreiungskampf als einen Gegensatz zur Entwicklung menschlicher Nähe darzustellen suchen und die seit dem kurzen Einbruch in den 70ern wieder an Raum gewinnen. Parallel zu der angeblich erreichten größeren gesellschaftlichen Beteiligung und Gleichberechtigung von Frauen findet heute bereits die Rolle rückwärts statt. Angesichts der sich zuspitzenden wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse ist weniger die karrierebewußte Frau im Beruf gefragt, als jene, die sich ganz für ihre Familie stark macht und aufgrund ihrer mütterlichen Instinkte die Versorgung all jener übernimmt, deren öffentliche Betreuung für zunehmend unbezahlbar gilt, namentlich Kinder und alte Menschen.

Das wirklich interessante Thema, das allerdings die Kompetenz und die Intentionen des Autoren übersteigt, wäre, die Beteiligung von Frauenseite an (männlicher) Herrschaft zum Zwecke ihrer Beendigung auszuloten. Erste Anhaltspunkte, bei denen man allerdings nicht steckenbleiben sollte, ließen sich in seinen Ausführungen finden.

Die Frauen selbst wenden auf jeden Sachverhalt und insbesondere auf die Machtverhältnisse, in denen sie gefangen sind, Denkschemata an, die das Produkt der Inkorporierung dieser Machtverhältnisse sind und die in den Gegensätzen, auf denen die symbolische Ordnung basiert, ihren Ausdruck finden.
(S. 63)

Seine Aussage:

Die soziale Ordnung funktioniert wie eine gigantische
symbolische Maschine zur Ratifizierung der männlichen
Herrschaft, auf der sie gründet.
(S. 21)

wirkt wie ein Feigenblatt, solange er die Konsequenz scheut. Bourdieu konsequent weitergedacht hieße, daß die Beendung von Herrschaft die kompromißlose Zerschlagung jener "Maschine" Gesellschaft erfordern würde, die sich ihre Untertanen fortwährend nach ihrem Bedarf konstruiert, zugunsten einer Demokratie mit gesellschaftlicher Entscheidungsgewalt von unten nach oben, ohne Berücksichtigung kapitalistischer Interessen.


*


Bei einem Erfolgsautoren und ordentlichen Professor schreibt man in der Regel das Unvermögen dem Leser zu, wenn er den Ausführungen nicht zu folgen vermag. Bourdieu verlangt seinem Publikum ein außerordentliches Ausmaß an Interesse und Zuwendung ab. Sein sprunghafter Erzählstil kontrastiert mit der Unzahl schwieriger soziologischer Begriffe und Konzepte, die er verwendet und die eigentlich eine systematischere Vorgehensweise erfordert hätten. Die Kapitel sowie die Zwischentitel zeigen sich eher als Themenfelder, um die der Autor in weiten Wiederholungen kreist, als als Stationen eines roten Fadens, der sich durch das Werk zieht und gestützt durch Thesen und Ausführungen zum Fazit gelangt. Mit einer unübersichtlichen Fülle mutet er dem Leser zu, seine Position eher herauszuvermuten als deutlich zu lesen; dadurch wirkt er geschwätzig. Die Übergänge von den grundsätzlichen Überlegungen und Ausführungen des Autors zu jenen, die die kabylische Gesellschaft betreffen, sind kaum merklich. Das ist eine zusätzliche Schwäche.

Natürlich hängt das Schicksal des Lesers nicht allein vom Vermögen des Autoren ab, seine Überlegungen zu vermitteln. Auch die Leistung des Übersetzers, den die verschlungenen Sätze Bourdieus mit Sicherheit vor keine leichte Aufgabe gestellt haben, spielt eine nicht unwesentliche Rolle. Während zunächst der Eindruck entsteht, die Übersetzung holpere - manchmal ist der französische Satzbau zu spüren -, kann man sich doch über die Akribie freuen, mit der Jürgen Bolder den begrifflichen und gedanklichen Herausforderungen nachgegangen ist. Nichtsdestotrotz merkt man einigen Begriffen an, daß sie der Übersetzung und nicht dem deutschen Sprachgebrauch geschuldet sind.


*


Pierre Bourdieu wurde am 1. August 1930 in Denguin geboren und stammte aus einfachen bäuerlichen Verhältnissen. Er studierte an der École Normale Supérieure und der Sorbonne Philosophie. 1955 wurde er für drei Jahre zum Militärdienst nach Algerien einberufen und blieb dort weitere zwei Jahre als Assistent an der Universität von Algier. Von 1982-2001 lehrte er am Collège de France Soziologie und wurde damit zum führenden Soziologen Frankreichs. Bis 1998 wirkte er zusätzlich als Direktor des Centre de Sociologie Européenne an der École des Hautes Études. Er starb am 23. Januar 2002 in Paris im Alter von 71 an Krebs. Pierre Bourdieu gilt als herausragender Vertreter der zeitgenössischen Soziologie und ist gleichzeitig der weltweit meistzitierte französische Intellektuelle der Gegenwart.

* [im Buch kursiv gedruckte Passagen erscheinen hier in Versalien]

Herbst 2006


Pierre Bourdieu
Die männliche Herrschaft
aus dem Französischen von Jürgen Bolder
Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2005
211 Seiten, 19,90 Euro
ISBN 3-518-58435-9