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REZENSION/437: Eric Hazan - Reise nach Palästina (SB)


Eric Hazan


Reise nach Palästina

Notizen aus Nablus, Kalkilia und Hebron



Im Sommer 2006 hat Eric Hazan die Städte Nablus, Kalkilia und Hebron im Westjordanland besucht. Aus dem Französischen übersetzt von Sophia Deeg und mit einem Vorwort von Michael Warschawski ist sein Reisebericht bei der Hamburger Edition Nautilus erschienen. Auf knapp hundert Seiten gewährt der Autor unter Verzicht auf Pathos und Polemik gerade durch seine nüchterne und dennoch zugewandte Schilderung einen erschütternden Einblick in die Lebensbedingungen der Palästinenser. Seine "Reise nach Palästina" ist ein sehr persönlicher Bericht, der beschreibt, was er sieht, und wiedergibt, was er hört. Er ist glaubwürdig, weil er weder ein Klagelied anstimmt, noch zur Verherrlichung neigt, sondern forschend Fragen und Zweifeln Raum gibt, um vorsichtige Schlüsse zu ziehen.

Dennoch beschränken sich seine Reiseskizzen nicht auf ein bloßes Stimmungsbild oder rein subjektive Eindrücke, läßt er sich doch von seinem deutlich erkennbaren Bemühen um kritische Distanz nicht daran hindern, voll Sympathie auf seine Gesprächspartner zuzugehen und ihre schlaglichtartigen Zeugnisse zu einem durchaus vielfältigen, aber zugleich konsistenten Gesamtbild zusammenzufügen. Auf diese Weise gewinnt der Leser rasch den Eindruck, keineswegs mit Fragmenten vorliebnehmen zu müssen, sondern im Gegenteil mehr und mehr Aspekte der Lebenswirklichkeit in den Palästinensergebieten in Erfahrung zu bringen.

Vieles sieht Hazan mit eigenen Augen, zeugen doch Soldaten und Kontrollposten, Mauern und Stacheldraht, Zerstörungen und Elendsquartiere von der ständigen Präsenz des israelischen Militärregimes. Mehr noch von den Einschränkungen und Belastungen, die die Besatzungspolitik den Palästinensern aufoktroyiert, künden freilich die Berichte seiner zahlreichen Gesprächspartner, die er ausführlich zu Wort kommen läßt. Er spricht mit einfachen Leuten und Amtsträgern, Angehörigen von Gefangenen und Hinterbliebenen, ehemaligen Häftlingen jeden Alters, Offiziellen der Fatah und Anhängern der Hamas, die er ausführlich zitiert und kritisch befragt. Ohne jede Herablassung und durchweg darauf bedacht, nicht aus fremder Sicht zu interpretieren, bewahrt sich der Autor ein Erstaunen, an dem er seine Leser teilhaben läßt.

Wie Michael Warschawski schon im Vorwort zu bedenken gibt, fasse der Begriff "Besatzung" die Verhältnisse in den Palästinensergebieten im Grunde nicht, da er einen vorläufigen und vorübergehenden Zustand nahelegt. Fast 40 Jahre nach dem Einmarsch der israelischen Armee sei jedoch kein Ende in Sicht, weshalb man treffender von einem System der Apartheid mit dauerhaft entwürdigenden Lebensbedingungen der Bewohner dieser Gebiete sprechen könne. Kolonisierung, Segregation und Rassismus hätten ein Verhältnis verfestigt und vertieft, das Hazan mit Bedacht nicht als "israelisch-palästinensischen Konflikt" charakterisiert, da diese Bezeichnung eine nicht vorhandene Symmetrie vortäuscht.

Viele seiner Gesprächspartner gehen davon aus, daß am Ende ein Zusammenleben von Israelis und Palästinensern der einzig vorstellbare Ausweg ist. Diese Hoffnung trägt der Erkenntnis Rechnung, daß die seit Jahren forcierte Strategie räumlicher Fragmentierung, weitgehender Entrechtung, ökonomischer Würgeschlingen und kultureller Verwüstung einen überlebensfähigen Palästinenserstaat längst obsolet gemacht hat. Wenngleich sich Hazan nicht anmaßt, einen Lösungsvorschlag zu präsentieren, den zu entwickeln allein Sache der unmittelbar beteiligten Völker sei, läßt sein Bericht doch die offiziell vorgehaltene Zweistaatenlösung eher als eine von israelischer Seite implementierte Farce denn als ernsthaft angestrebte und realistische Perspektive erscheinen.

Dabei belegt Hazan anhand zahlreicher Beispiele, daß der alltägliche Widerstand der Bevölkerung gegen die Kollektivbestrafung durch das militärische und administrative Regime keineswegs von Haß diktiert ist. So versichern ihm nicht wenige seiner Gesprächspartner, daß man früher mit den Israelis zusammengelebt hat und das auch künftig tun kann. Demnach haben die allgegenwärtigen Verhaftungen, Razzien, Feuerüberfälle, Sperranlagen, Schikanen und brutalen Übergriffe der jüdisch-orthodoxen Siedler weder tiefe Resignation noch blinden Rassismus hervorgebracht, wie man ihn den Palästinensern so oft unterstellt, um jegliche Zwangsmaßnahmen israelischer Herrschaftssicherung und Expansion zu rechtfertigen.

Der Autor machte im Mai und Juni 2006 Station in Nablus, Kalkilia und Hebron. Sein Besuch fand in einer vergleichsweise ruhigen Periode statt, da nicht mehr als ein halbes Dutzend palästinensische Jugendliche pro Woche von israelischen Soldaten erschossen wurden. Die internationalen Sanktionen gegen die demokratisch gewählte Regierung unter Führung der Hamas waren bereits angelaufen. Wie in den Gesprächen immer wieder deutlich wird, haben viele Palästinenser die Fatah für deren Unfähigkeit, Korruption und Kollaboration mit dem Feind abgestraft, während sie die Leistungen der Hamas zur Aufrechterhaltung sozialer Strukturen wohl zu würdigen wissen. So wird durchaus nachvollziehbar, welche Enttäuschungen mit der Fatah und welche Hoffnungen mit der Hamas verbunden waren.

Allen negativ vorgeprägten Erwartungen zum Trotz machen gerade die Vertreter der Hamas, mit denen der Autor spricht, den vernünftigsten Eindruck, und ihre Positionen erscheinen durchaus plausibel. So legt der Büroleiter eines Hamas-Delegierten in Hebron dar, daß man mit einem palästinensischen Staat in den Grenzen von 1967 durchaus einverstanden ist. Die Juden hätten das Recht, mit den Palästinensern in Frieden zu leben. Man werde Israel aber erst anerkennen, wenn die Annexion des halben Westjordanlands beendet sei.

In ihrer Zusammenschau lassen die Impressionen aus dem Westjordanland erkennen, daß die langfristige Strategie der israelischen Führung nicht darauf abzielt, jemals einen funktionsfähigen palästinensischen Nachbarstaat, geschweige denn ein Zusammenleben im Rahmen eines gemeinsamen wie auch immer ausgestalteten Staatswesens zu akzeptieren. Der Gazastreifen gleicht heute einem Freiluftgefängnis und das Westjordanland einem zerstückelten Bantustan, wobei in beiden Fällen die Bewohner systematisch an Arbeit, Bildung und einem menschenwürdigen Leben gehindert werden. Ohne Freizügigkeit, Erwerbsmöglichkeiten und Infrastruktur hängt ihr Überleben von israelischer Versorgung und ausländischen Hilfsgeldern ab, die man ihnen willkürlich versagt, um sie zur Unterwerfung zu zwingen. Das kann in der Konsequenz nur auf Verelendung bis hin zur physischen Vernichtung oder erneuter Vertreibung wohin auch immer hinauslaufen.

Wie Eric Hazans Reisebericht aber auch bezeugt, wurde das Ziel des kolonialistischen Repressionsregimes längst nicht erreicht. Der Autor begegnet einem unterdrückten, aber keinem gebrochenen Volk, und erlebt dabei Formen des alltäglichen Widerstands, die für die israelische Militärverwaltung kaum faßbar sind, weil sie zunehmend mit dem Kampf ums Überleben unter widrigsten Umständen verschmelzen.

Der 1936 in Paris geborene und vor allem durch sein Buch "Die Erfindung von Paris" bekannt gewordene Eric Hazan übernahm nach einer Karriere als Chirurg den elterlichen Verlag und baute ihn zu einem der führenden Kunstverlage aus. 1998 gründete er den Verlag "La Fabrique", in welchem er Bücher zu Fragen der Gesellschaft, der Politik, Zeitgeschichte und Philosophie veröffentlicht. Darunter finden sich so namhafte Autoren wie Walter Benjamin, Tanya Reinhart und Michael Warschawski, Robbespierre und Norman Finkelstein.

16. Mai 2008


Eric Hazan
Reise nach Palästina
Notizen aus Nablus, Kalkilia und Hebron
Edition Nautilus Hamburg 2008
96 Seiten, 10,- Euro
ISBN 978-3-89401-570-1