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REZENSION/455: Karl-Eduard von Schnitzler - Frühe Denkanstösse (SB)


Karl-Eduard von Schnitzler

Frühe Denkanstösse
Fundsachen aus dem Archiv Erste Rundfunkkommentare 1944-1947 (über BBC London und NWDR Köln)

Zusammengestellt von Heinz Grote


Als man Karl-Eduard von Schnitzler am 19. Oktober 2001 zu Grabe trug, fühlten sich zahllose deutsche Journalisten berufen, zu einer letzten Generalabrechnung mit dem alten Intimfeind auszuholen, um ihn sodann endgültig dem Vergessen zu überantworten. Einst hatte er jeden Montagabend in seiner Sendung "Der schwarze Kanal" im DDR-Fernsehen mit scharfer Zunge Front gegen den kapitalistischen Westen gemacht, wo sich erzkonservative Schlachtrösser wie Matthias Walden und Gerhard Löwenthal abmühten, das verbale Trommelfeuer zu erwidern. Schnitzlers Polemiken waren Legende, wobei man westlicherseits einen solchen Begriff natürlich nie in den Mund genommen hätte, handelte es sich doch per Definition um Ostpropaganda, Hetzkampagnen und Verleumdungen. Von der erhabenen Kanzel freiheitlich demokratischer Grundordnung verkündet, ersparte dieser Bannspruch seinen Widersachern nicht zuletzt, ihn in der Sache zu widerlegen, wenn er Sendungen von ARD und ZDF konterkarierte oder Mißstände in Westdeutschland aufs Korn nahm.

Schnitzler war jahrzehntelang im wortwörtlichen Sinn ein rotes Tuch für die schreibende Zunft der Bundesrepublik, die ihn wahlweise als Demagogen diffamierte, der das Denken des ostdeutschen Volkes vergifte, oder höhnte, die Fernsehzuschauer wechselten geschlossen das Programm, sobald seine Sendung begann. Daß diese Behauptungen einander widersprachen, störte seine Kritiker nicht, war doch im Kalten Krieg jedes Mittel recht, die nur mit der Kneifzange von Anführungsstrichen angefaßte DDR zur minderwertigen Ausgabe nachkriegsdeutscher Geschichte herabzuwürdigen. Wer Schnitzler nie gesehen oder gelesen hat, was für die jüngere Generation wohl durch die Bank und selbst für die ältere bundesrepublikanische zum überwiegenden Teil gelten dürfte, kennt ihn wenn überhaupt nur dem Namen nach als Unperson.

Was mit inquisitorischem Eifer zum Tabu versiegelt wird, setzt jedoch zwangsläufig jenen Reiz des Verbotenen in die Welt, der widerspenstige Geister Witterung aufnehmen läßt. Zumindest mag sich der eine oder andere fragen, was so brisant an diesem schwarzen Kanalarbeiter gewesen sein mag, daß die westdeutsche Hand wie von selbst drei Kreuze schlug, wenn seine Stimme im Äther herüberdrang.

Wer war Karl-Eduard von Schnitzler? Läßt man seine Lebensgeschichte in ihren markantesten Schritten Revue passieren, sticht eines ins Auge: Mehr als einmal hat er das Privileg seiner Herkunft und die Gelegenheit wohlfeiler Rückkehr ins vielversprechende Lager der Botmäßigkeit ausgeschlagen. Er ist zeitlebens seinen Überzeugungen treu geblieben, und als man den ostdeutschen Gesellschaftsentwurf in die Knie gezwungen und zu Makulatur erklärt hatte, war das für ihn erst recht kein Grund, um seines Seelenheils willen abzuschwören wie so viele andere.

Obgleich aus einem großbürgerlichen Elternhaus stammend, schloß er sich als 14jähriger der sozialistischen Arbeiterjugend an. Seit jungen Jahren ein Antifaschist, brach er sein Medizinstudium ab, um nicht einer nationalsozialistischen Studentenorganisation beitreten zu müssen. Als Soldat an verschiedenen Kriegsschauplätzen kämpfend und verwundet, warf man ihn wegen seiner Kontakte zur Resistance in Paris ins Zuchthaus, aus dem er währemd eines Bombenangriffs entkam. Nach der Landung alliierter Truppen in der Normandie rettete er kanadische Soldaten vor der Erschießung durch die SS. In britischer Gefangenschaft rief er in Rundfunkkommentaren der BBC seine Landsleute zum Sturz der faschistischen Regierung und Beendigung des Krieges auf.

Als er sich ab Herbst 1945 beim NWDR in Hamburg und in Köln, wo er Leiter der politischen Abteilung und zeitweise Intendant des Senders war, nicht kritiklos den Siegern andiente, geriet er zunehmend in Konflikt mit der britischen Besatzungsmacht, die ihm im November 1947 den Laufpaß gab. Wie andere konsequente Antifaschisten gehörte auch er zu den ersten Opfern des beginnenden Kalten Krieges, da er die Rückkehr der alten Seilschaften in Führungspositionen anprangerte und damit dem neugeschmiedeten Pakt gegen die Sowjetunion in die Parade fuhr. Konsequenterweise führte ihn sein Weg in den Osten, wo er seine Überzeugungen auch weiterhin kommunizieren konnte.

Aus seiner Zeit beim Gefangenensender der BBC in London und der nachfolgenden Schaffensperiode beim NWDR in Köln stammen die im vorliegenden Band wiedergegebenen Kommentare und kurzen Vorträge, die ein beeindruckendes historisches Zeugnis einer weithin unterdrückten Sicht auf die deutsche Geschichte darstellen und zugleich einen aufschlußreichen Einblick in die Denk- und Arbeitsweise dieses bemerkenswerten Journalisten gewähren. Nichts von dem, was später in Gestalt zweier konkurrierender Gesellschaftsentwürfe Gestalt annehmen sollte, war damals so zwangsläufig festgelegt, wie es uns heute erscheinen mag. Es war eine Zeit großer Leiden und Not, doch nicht zuletzt auch ein Ringen um die künftige Entwicklung nach dem Untergang der alten Ordnung. Was Márta Rafael-von Schnitzler aus dem Archiv ihres verstorbenen Mannes zur Verfügung gestellt und Heinz Grote als langjähriger Weggefährte und Arbeitskollege Schnitzlers editiert und eingeführt hat, liest sich spannend wie ein historischer Roman und anregend wie eine scharfsichtige gesellschaftspolitische Analyse.

In einem Rundfunkvortrag der Nachkriegszeit ging Schnitzler der Frage nach, ob es noch Arm und Reich in Deutschland gebe. Vielfach sei ja zu hören, die Niederlage habe in der Not alle gleichgemacht. Schaue man sich aber in einer beliebigen deutschen Großstadt um, biete sich ein gänzlich anderes Bild:

Noch nie traten die sozialen Gegensätze so stark bei uns hervor wie heute. Über dem Lokal mit dem Millionen-Umsatz erfriert der Greis; Arbeiterfrauen verkaufen an Besitzende die Butter ihrer Kinder, um Geld zum Leben zu haben, um eben diese Kinder am Leben zu erhalten; Fabrikarbeiterinnen verdienen im Monat gerade so viel, wie ein Besitzender täglich für zehn Zigaretten ausgibt. Während die Schicht der Neureichen und die Besitzenden - Überbleibsel einer vergangenen Epoche - den idealen Nährboden bilden für die Entstehung einer neuen Clique von Revanchepolitikern, die in der Hoffnung auf "bessere Zeiten" durchzuhalten versuchen, werden die Massen der Demokratie entfremdet, verlieren den Glauben an den Fortschritt und an die Zukunft und werden bereit, sich neuen Heilslehren und Verführern anzuschließen.
(S. 181)

Damals mahnte Schnitzler als Gebot der Stunde an, eine gesellschaftliche Entwicklung anzustreben, die solchen Zuständen Abhilfe schafft und Verhältnisse herbeiführt, in denen jeder sein Auskommen findet und frei von Not, Zwang und Ausbeutung leben kann. Dieses Zitat mag verdeutlichen, welcher Art die Kommentare Schnitzlers waren. Er machte es sich in seiner journalistischen Arbeit zur Aufgabe, auf Grundlage fundierter Kenntnisse komplexe Zusammenhänge eng am aktuellen Geschehen und für alle verständlich auf den Punkt zu bringen. Man muß seine Auffassungen nicht in jeder Hinsicht teilen, zumal ja manches aus heutiger Sicht im Kontext der Entwicklung deutlicher zu erkennen ist, um ihm doch ein persönliches Engagement und einen beruflichen Ethos zu attestieren, den zu beherzigen man politischen Kommentatoren nur empfehlen kann.

Was Schnitzler vor 60 Jahren als nachkriegsdeutsche Lagebeschreibung pointiert herausgearbeitet und gegeißelt hat, läßt überdies bestürzende Parellelen zur Misere gegenwärtiger Verelendung weiter Teile der Bevölkerung und der unerträglichen Umverteilung der Besitzstände von unten nach oben erkennen. Menschen, die von ihrer Arbeit nicht leben können, und Kinder, die hungern, künden vom Niedergang rosiger Zukunftsversprechen und dem unbarmherzigen Diktat der Parole, gefälligst den Gürtel enger zu schnallen.

Wie Karl-Eduard von Schnitzler einmal sarkastisch angemerkt hat, habe man vierzig Jahre langweiligen Unterricht in Kapitalismus hinter sich und durchlebe nun das Praktikum. Damit lag er nicht falsch, denn als die Bananen verzehrt und die Blütenträume der Wende verflogen waren, als schließlich Katzenjammer Einzug hielt, mag mancher wiedervereinigte Neubundesbürger allzu spät erkannt haben, daß alles womöglich noch schlimmer kommt, als es der Schnitzler immer erklärt hat.

29. September 2008


Karl-Eduard von Schnitzler
Frühe Denkanstösse
Fundsachen aus dem Archiv
NORA Verlagsgemeinschaft Dyck & Westerheide, Berlin 2008
204 Seiten
ISBN 978-3-86557-142-7