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REZENSION/459: Mike Davis - Planet der Slums (SB)


Mike Davis


Planet der Slums



Auf dem Planeten Erde leben inzwischen mehr Menschen in Städten als auf dem Land. Zudem hat die Zahl der Bewohner von Slums vor kurzem eine Milliarde erreicht. Forscher rechnen damit, daß die Entwicklung der Urbanisierung anhält und der größte Teil des künftigen Bevölkerungswachstums in Städten erfolgt. Dort, an den Rändern von Mega-Cities wie Lagos in Nigeria, Mumbai in Indien, Schanghai in China oder Rio de Janeiro in Brasilien, lassen sich Heerscharen von Menschen nieder. Weitgehend entkoppelt von der allgemeinen ökonomischen Entwicklung, halten sie sich notdürftig mit informellen Geschäften über Wasser, durchwühlen den Müll ihrer wohlhabenden Zeitgenossen nach eß- und anderen brauchbaren Dingen und betreiben dabei eine gründliche Form von Recycling, das der individualisierten Mülltrennung der westlichen Wohlstandsgesellschaften in nichts nachsteht.

In Slums mangelt es zumeist an einer grundlegenden Infrastruktur der Ver- und Entsorgung (Wasser, Nahrung, Energie sowie Hygieneeinrichtungen und Müllabfuhr). Die "fliegenden Toiletten" sind in dem größten Slum Afrikas, dem eine Million Einwohner zählenden Viertel Kibera bei Nairobi, bei jedermann gefürchtet. Es handelt sich um Plastikbeutel, gefüllt mit menschlichen Exkrementen, die im hohen Bogen aufs Nachbargrundstück oder auf die Straße fliegen - ein Sinnbild für die enormen Probleme dieser Siedlungsform.

Sollte eine Regierung tatsächlich einmal versuchen, Schritte zur Verbesserung der Lebensverhältnisse der Slumbewohner einzuleiten - was selten genug vorkommt -, indem sie eine Minimalversorgung mit Strom und Wasser bereitstellt, profitieren häufig wiederum nicht die Bewohner der Armensiedlung von den Investitionen, sondern bessergestellte Kreise, die sich die komfortableren Häuser in den Slums unter den Nagel reißen.

Von diesem Phänomen und zahlreichen weiteren Erscheinungsformen der Slums vor allem in Südamerika, Afrika und Asien weiß der Autor Mike Davis eindrücklich zu berichten. Dabei räumt er mit der irrtümlichen Vorstellung auf, das Leben in den Slums müsse wegen der ärmlichen Verhältnisse billig sein. Tatsächlich ist beispielsweise das in Flaschen und Kanistern transportierte Trinkwasser in den Elendsvierteln der tansanischen Metropole Daressalam teurer als das Wasser der ans öffentliche Leitungsnetz angeschlossenen Haushalte der Reichen.

Davis versäumt es nicht, den Finger auf die destruktiven Folgen der Strukturanpassungsprogramme von IWF und Weltbank zu legen, deren Stadtsanierungspläne reihenweise gescheitert sind (S. 80f). Auch verweist er auf die von diesen Finanzinstitutionen betriebene "landwirtschaftliche Deregulierung und Sparpolitik, die den Exodus überschüssiger landwirtschaftlicher Arbeitskräfte in die urbanen Slums selbst dann noch vorantrieben, als die Städte aufgehört hatten, als Jobmaschinen zu wirken" (S. 19). Nachdem Strukturwandel und Liberalisierung die lokalen sozialen Sicherungssysteme zerstört hatten, "wurden arme Bauern anfälliger für exogene Schocks wie Dürre, Inflation, steigende Zinsen oder fallende Warenpreise" (S. 20), stellt der Autor fest.

Insbesondere vor dem Hintergrund der aktuellen weltwirtschaftlichen Krise, der allgemeinen Verarmung und der Zunahme der Zahl der Hungernden sei auf Davis' Epilog verwiesen. Darin schneidet er das Thema urbane Kriegführung als Antwort auf das enorme Aufstandspotential der Massen an arbeitslosen und unterbeschäftigten Menschen an. Dazu paßt es, daß in den USA seit Anfang Oktober 2008 erstmals eine aktive, reguläre Kampftruppe auf heimischem Boden stationiert ist und daß die deutsche Bundesregierung eine Grundgesetzänderung vornehmen will, um Einsätze der Bundeswehr im Innern zu erleichtern.

Ungeachtet der Fingerzeige auf die Profiteure der Verarmung, weist das Buch Lücken in der Analyse des Phänomens Slum auf. Ursachen der Landflucht werden zwar angesprochen, bleiben aber unzureichend untersucht. Davis geht wenig auf das fundamental räuberische Verhältnis der Stadt gegenüber dem Land ein und fragt nicht tiefer nach, welchen Nutzen die Verstädterung schon vor über hundert Jahren für die aufkommenden Industriezentren und ihren Bedarf an billigen Arbeitskräften besaß. Gerade dabei wäre es interessant gewesen, die Frage zu erörtern, ob die Arbeitskräfte benötigt wurden, um die Industrialisierung voranzutreiben, oder ob nicht umgekehrt die Industrialisierung vorangetrieben wurde, um die Menschen besser denn je als Lohnsklaven unterwerfen zu können. Eine ausführlichere Behandlung solcher und weiterer Fragen zum Hintergrund der Stadtentwicklung, deren Wurzeln bis in die Zeit der antiken Sklavengesellschaften reichen, als Folge oder eben Mittel der Qualifizierung von Herrschaft wäre wünschenswert gewesen.

Davis beschreibt die Probleme der Menschen in den Slums und die zu erwartende Entwicklung in den nächsten Jahren und Jahrzehnten sehr ausführlich - fast 30 Seiten Anmerkungen und Quellenhinweise zeugen von einer umfangreichen Recherche -, doch ungeachtet manch interessanten Ansatzes hinterläßt das Werk über weite Strecken einen deskriptiven Eindruck. In seiner Danksagung schreibt Davis, daß dem Buch ein Artikel in der März/April-Ausgabe 2004 der New Left Review mit dem Titel "Planet of Slums" zugrunde liegt. Vielleicht ist es auf diese Art des Zustandekommens zurückzuführen, daß manche Kapitel beschreibend bleiben und einen roten Faden vermissen lassen. Man hätte sich von einem marxistischen Autor an der einen oder anderen Stelle gern etwas mehr Rot gewünscht ...

"Planet der Slums" zählt sicherlich zu Davis' besseren Büchern. Es bleibt jedoch deutlich hinter der ausgezeichneten Analyse "Die Geburt der Dritten Welt. Hungerkatastrophen und Massenvernichtung im imperialistischen Zeitalter" (2004) zurück. Darin und in anderen, vor allem älteren Werken hat Davis gezeigt, daß er durchaus die Fähigkeit besitzt, die Not und Leid produzierenden gesellschaftlichen Verhältnisse als Folge des grundlegenden Raubinteresses der vorherrschenden Kräfte zu demaskieren. Diesmal bleibt der Autor hinter seinen Möglichkeiten zurück. "Planet der Slums" kann nur die Vorarbeit gewesen sein, das eigentliche Buch zu diesem Thema muß noch geschrieben werden. Vielleicht geht der von Davis angekündigte Folgeband weiter in die Tiefe.

9. Oktober 2008


Mike Davis
Planet der Slums
Aus dem Englischen von Ingrid Scherf
Verlag Assoziation A, Berlin/Hamburg 2007
248 Seiten, 20 Euro
ISBN 978-3-935936-56-9