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REZENSION/464: Raja Shehadeh - Streifzüge durch Palästina (SB)


Raja Shehadeh


Streifzüge durch Palästina

Notizen zu einer verschwindenden Landschaft



Hört man vom Land des drangsalierten palästinensischen Volkes, denkt man mit Grauen an das Freiluftgefängnis des Gazastreifens und das Bantustan des fragmentierten Westjordanlands. So wenig auf seiten Israels die Bereitschaft zu einem gleichberechtigten Zusammenleben in einem gemeinsamen Staat zu erkennen ist, so unvorstellbar scheint inzwischen ein lebensfähiges Staatsgebilde der Palästinenser. Die Katastrophe (Nakba) der massenhaften Vertreibung im Jahr 1948 samt der systematischen Auslöschung aller Siedlungsspuren der zu einem elenden Flüchtlingsdasein verdammten ursprünglichen Bewohner dieses Landstrichs mutet angesichts der aktuellen Einkesselung und Aushungerung der Palästinenser wie der Auftakt zu einem langgestreckten Feldzug der Okkupanten an, dessen Vollendung in Gestalt einer Vernichtung aller Überlebensmöglichkeiten der unterworfenen Bevölkerung wir heute Zeuge werden.

"Streifzüge durch Palästina" zum Gegenstand eines Buches zu machen, wie dies Raja Shehadeh getan hat, mag angesichts unablässiger Auseinandersetzungen unter dem Besatzungsregime befremdlich, ja nachgerade widersinnig erscheinen. Kann man von der uralten Kultur und den Schönheiten des Landes berichten, ohne zur Ausblendung und Verschleierung der Herrschaftsverhältnisse beizutragen, einen Reiseführer für betuchte und ignorante Touristen zu schreiben oder in weltfremder Flucht die unberührbare Idylle zu suchen? Der Autor war sich dieser Risiken durchaus bewußt und hat das Wagnis dennoch nicht gescheut, den eigenen Blick zu öffnen und seine Leser durch eine verschwindende Landschaft zu führen.

Als Palästinenser, der in Ramallah geboren wurde und dort als Anwalt arbeitet, unternimmt er Streifzüge durch seine Heimat, bei denen sich das einfühlsame Erleben und Beschreiben des Entdeckten mit zahlreichen menschlichen Begegnungen und seiner eigenen Lebensgeschichte zu einem leichtgewebten und um so eindringlicheren Begreifen zusammenfügt. Als Mitbegründer der unabhängigen Menschenrechtsorganisation Al Haq und Jurist, der seit Jahrzehnten um palästinensisches Land kämpft, sind ihm die Pläne und Strategien der Enteignung und Verdrängung aus leidvoller Erfahrung vertraut. So ist sein Wanderschritt leichtfüßig und beschwingt, da ihn hinter jeder Wegbiegung neue Erkundungen und Erkenntnisse erwarten, doch zugleich achtsam der allgegenwärtigen Einschnürung und Bedrohung bewußt, die ihm in Gestalt einer Sperre, eines Soldaten oder eines Siedlers unversehens den Pfad versperren kann.

In sechs Streifzügen dokumentiert der Autor die tiefgreifende Veränderung des Hochlands Palästinas binnen eines Vierteljahrhunderts, die eine seit Jahrtausenden kaum veränderten Landschaft, die seiner Meinung nach zu den Naturschönheiten der Welt zählte, in eine vielfach fragmentierte, durchgängig administrierte und rasant zubetonierte Region expandierender israelischer Siedlerpräsenz verwandelt hat. Als Raja Shehadeh 1978 zur ersten seiner hier beschriebenen Wanderungen aufbrach, hegte er keinen Zweifel daran, daß er eine Landschaft durchquerte, die über kurz oder lang verschwinden würde. Mit jedem der folgenden Streifzüge sah er sich fortgesetzten Einschränkungen seiner Bewegungsfreiheit und der wachsenden Furcht vor Erniedrigung oder Schlimmerem konfrontiert.

Was fühlt ein Mensch, der einen fremden Soldaten flehentlich bitten muß, ihm den Heimweg zu gestatten, der unversehens durch eine Ausgangssperre oder eine andere Verfügung blockiert worden ist? Wie ergeht es dem Wanderer, dem vergnügtes Umherschweifen fremd und unmöglich geworden ist, da seine Routenplanung immer kompliziertere Manöver inmitten verbotener Zonen erfordert, ohne ihm deshalb die Gewähr unbeschadeter Heimkehr zu bieten?

Die Hügellandschaft um Ramallah, die Wadis in der Wildnis um Jerusalem oder die traumhaft schönen Schluchten am Toten Meer, so berichtet der Autor, wurden im Laufe der Jahrhunderte von zahllosen Pilgern und Reisenden ebenso ignoriert wie die ansässige Bevölkerung. Die umfangreiche Reiseliteratur handelt nicht von Land und Leuten, wie sie tatsächlich waren, sondern spiegelt die politischen und religiösen Überzeugungen der Fremden wider, die das "Heilige Land" mit den Augen der Inbesitznahme wahrnahmen. William Thackerey malte 1846 eine unsagbar gräßliche und trostlose Region in den düstersten Farben aus, die nicht minder entsetzlich wie deren grausame und blutige Geschichte sei. Palästina komme in Sack und Asche daher, es sei trostlos und öde, schrieb Mark Twain 1869. Die westliche Sicht, wonach dieser Landstrich seit jeher ein Ort der Schrecken, Schuld und Strafe gewesen sei, lastet die Greueltaten der alten und neuen Kreuzfahrer deren Opfern an und erklärt deren Heimat zu einem ewigen Schlachtfeld, auf dem von Zivilisation und Kultur keine Spur zu finden sei.

Auf Schritt und Tritt stößt Raja Shehadeh bei seinen Wanderungen auf die Spuren bäuerlicher Besiedlung, die in kunstvollen Terrassen, Bewässerungsanlagen und Häusern aus Naturstein die natürlichen Gegebenheiten des Hügellandes genutzt und eine blühende Landwirtschaft hervorgebracht hat. Deren Erzeugnisse versorgten einst nicht nur die einheimische Bevölkerung, sondern wurden auch nach Europa verschifft. In einer seiner lebendigen Familiengeschichten schildert der Autor die Kunstfertigkeit eines älteren Verwandten als Steinmetz und Kleinbauer, dessen verlassenes Gehöft er auf einem seiner Streifzüge später zufällig wiederentdeckt. Nichts bleibt in diesem Buch trockene Theorie oder abstraktes Zahlenwerk, wie andererseits auch Heroisierung und plakative Parolen darin keinen Platz finden.

Mit Staunen brachte der Autor im Laufe der Zeit in Erfahrung, daß in Palästina buchstäblich jedes Element der Landschaft einen Namen und zumeist auch eine bestimmte Bedeutung hat. Dies zeugt nicht nur von einer jahrhundertelangen Besiedlung, sondern war auch der bäuerlichen Bevölkerung so vertraut, daß es in vielen Fällen keiner schriftlichen Unterlagen oder Grundbucheinträge bedurfte. Dies machte sich die israelische Verwaltung zunutze, um die Landrechte zahlloser palästinensischer Bauern in Frage zu stellen. Aus dem reichen Erfahrungsschatz seines juristischen Streits um palästinensischen Grundbesitz greift Shehadeh anschauliche Beispiele heraus, welche die Strategien der israelischen Raumordnungspläne verdeutlichen. Nachdem zahllose Palästinenser von ihrem Besitz vertrieben worden waren oder aus anderen Gründen ihr Land nicht mehr bestellen konnten, fiel dieses automatisch dem Staat zu und ging damit in jüdischen Besitz über.

So sind die geschilderten Streifzüge, obgleich sie die Vielfalt der Formen, Farben und Düfte für den Leser zum Leben erwecken, weit mehr als Beschreibungen einer Landschaft von erhabener Schönheit. Es geht zugleich um geraubtes Land und verwehrte Wege, um die wachsende Mühsal der Wahrnehmung verbriefter Rechte und deren fortgesetzte Beschneidung durch eine Administration, welche die palästinensische Bevölkerung auf immer engere Räume zusammenpfercht. Warum er denn zur Wahl gehen solle, fragt ein junger Straßenhändler, wenn er Ramallah schon seit fünf Jahren nicht mehr verlassen dürfe. So entwickeln sich die palästinensischen Enklaven schließlich zu Ghettos, wobei der Gazastreifen für Bewohner des Westjordanlands vollends unerreichbar geworden ist. Für einen Händler aus Ramallah sei es leichter, nach China zu reisen und von dort Gartenstühle zu importieren, als in das vierzig Autominuten entfernte Gaza zu fahren, wo solche Erzeugnisse massenhaft in Lagerhäusern verstauben, schildert der Autor die Gefangenschaft seiner Mitmenschen.

Geradezu zwangsläufig endet die letzte der sechs Wanderungen im Jahr 2006 an der großen Mauer, die zum Symbol des Apartheid-Regimes geworden ist. Da sie nicht der "Grünen Linie" zwischen Israel und dem Westjordanland folgt, sondern weiträumig israelische Siedlungen umfaßt, ist sie ihrerseits ein Instrument der Annexion. Vor allem aber vervollständigt sie ein System aus Siedlungsblöcken, deren Zufahrtstraßen ebenso wie die Kontrollposten und eine Vielzahl weiterer Einschränkungen und Schikanen das Land der Palästinenser zerschneiden und ihren Alltag zur Hölle machen.

In einer als Epilog präsentierten Wanderung schildert Raja Shehadeh seine unverhoffte Begegnung mit einem jungen israelischen Siedler, der in den Hügeln bei Ramallah aufgewachsen ist und sie folglich ebenso seine Heimat nennt wie der Autor. Dieser befaßt sich selbstkritisch mit der Frage, ob er nicht in bezug auf "die Siedler" womöglich eine nicht minder unzulässige Pauschalisisierung vornimmt und damit ein Feindbild desselben diskriminierenden Charakters schafft, wie dies die Gegenseite tut, wenn sie verächtlich von "den Arabern" spricht. Zweifellos ist die Welt dieses jungen Mannes auf Lügen gebaut, in deren Zentrum der klassische Gründungsmythos des Staates Israel steht, ein Volk ohne Land habe ein Land ohne Volk in Besitz genommen und erstmals zum Blühen gebracht. Vermutlich nimmt dieser Siedler die Geschichtsfälschung für bare Münze, wonach seit biblischen Zeiten eine ungebrochene Linie seiner jüdischer Vorfahren in diesem Land existiert hat, bis es zur Vertreibung durch die Römer gekommen sei. Doch selbst wenn dieser Siedler fundamentalen Irrtümern aufsitzt oder von der Drangsalierung seiner palästinensischen Nachbarn im nahen Ramallah nichts wissen will, könne man doch nicht behaupten, daß die Liebe des einen zu diesen Hügeln die des andern aufhebe. Was aber bedeute das für die Zukunft dieser beiden Menschen und vielleicht sogar der beiden Völker, fragt Raja Shehadeh.

Wie die Konfrontation zwischen dem 25jährigen bewaffneten Siedler und dem mehr als doppelt so alten palästinensischen Wanderer ausgeht, soll an dieser Stelle nicht verraten werden. Sich von der abschließenden Pointe des Autors überraschen zu lassen, sei dem Leser dieses rundum anregenden und aufschlußreichen Buches vorbehalten.

5. Dezember 2008


Raja Shehadeh
Streifzüge durch Palästina
Notizen zu einer verschwindenden Landschaft
Promedia Verlag, Wien 2008
184 S., 17,90 Euro
ISBN 978-3-85371-287-0