Schattenblick →INFOPOOL →BUCH → SACHBUCH

REZENSION/504: Markus Breitscheidel - Abgezockt und totgepflegt (Altenpflege) (SB)


Markus Breitscheidel


Abgezockt und totgepflegt

Alltag in deutschen Pflegeheimen



Eine 86jährige ist bettlägerig. Sie wird an einem Freitagnachmittag aus dem Krankenhaus in ein Altenheim überwiesen. Sie selbst möchte schnell wieder zu Kräften kommen, um in ihre eigene Wohnung zurückkehren zu können. Der Altenheimaufenthalt jedoch wird ihr fast zum Verhängnis. Am Montag wird sie dort von einer Pflegerin in einem lebensbedrohlichen Zustand vorgefunden. Der nun alarmierte Notarzt schüttelt den Kopf, als er auf Nachfragen vernimmt, daß im Heim niemand gewußt hat, daß die alte Dame Diabetikerin ist. Sie wäre, bereits schwer unterzuckert, kurze Zeit später gestorben. Ein Einzelfall? Mitnichten. Ein "Fall", der durchaus exemplarisch belegt, wie es um den "Alltag in deutschen Pflegeheimen", so auch der Untertitel des bereits 2005 zu diesem nach wie vor aktuellen und deshalb hochbrisanten Thema erschienenen Buches des Investigativjournalisten Markus Breitscheidel "Abgezockt und totgepflegt", bestellt ist.

"Abgezockt und totgepflegt" klingt so brutal, menschenunwürdig und grausam, wie der Autor, der im Jahre 1998 seinen vorherigen Job als Verkaufsleiter eines Unternehmens für Spezialwerkzeuge kündigte, in der Rolle des ungelernten Pflegers die Verhältnisse in bundesdeutschen Pflegeheimen tatsächlich vorgefunden hat. Sein als "aufrüttelnder Insider- und Tatsachenbericht" von Günter Wallraff, dem Namenspatron eines solchen Undercover-Enthüllungsjournalismus und persönlichen Unterstützer des Autors, bezeichnetes Werk enthält die Schilderung seiner pflegerischen Tätigkeit in fünf zufällig ausgewählten Alten- und Pflegeheimen Deutschlands zwischen 1999 und 2001. Breitscheidel selbst erklärte in seinem Vorwort: "Die getroffenen Aussagen und Situationsbeschreibungen spiegeln somit nicht unbedingt die aktuellen Zustände und Strukturen in den genannten Altenheimen wider." (S. 17)

Im gesamten Bundesgebiet, in München, Hamburg, Köln, Mainz und Berlin, durchlebte oder vielmehr durchlitt Markus Breitscheidel den Alltag in Verwahranstalten unterschiedlichster Trägerschaft, die - von einer einzigen löblichen Ausnahme abgesehen - dem Anspruch, älteren und geschwächten Menschen ein würdiges Leben zu ermöglichen, nicht nur nicht gerecht wurden, sondern diesen systematisch aufs Gröbste verletzten. Tatsächlich ist der Umgang einer Gesellschaft mit älteren Menschen, die aufgrund ihres hohen Alters und/oder ihrer alters- oder krankheitsbedingten Einschränkungen im gesellschaftlichen Produktionsablauf nicht mehr verwertbar und daher nicht mehr von Interesse sind, ein Lackmustest ersten Grades, um Anspruch und Wirklichkeit eines angeblich an Menschenwürde und Sozialstaat gebundenen Gemeinwesens zu überprüfen und zu kontrastieren.

In Hinsicht auf die Verwahrung und, wie aus Breitscheidels Werk herauszulesen ist, mittel- bis langfristig sogar physischen Entsorgung von Menschen, die nicht mehr als produktive Faktoren, sondern ausschließlich als Kostenverursacher zu Buche schlagen, kommt dem Autor das Verdienst zu, mit weitverbreiteten Illusionen und Wunschvorstellungen aufgeräumt zu haben, auch wenn es sich bei seinem Buch, wie er selbst darlegt, um einen "subjektiven, Einschätzungen wiedergebenden Bericht" handelt, der seiner Auffassung nach "nicht in Gänze den objektiven Tatsachen entsprechen" kann, ihnen jedoch "sehr nahe" (S. 16) komme. Die Frage nach der Objektivierbarkeit seiner Schilderungen, bei denen die betreffenden Heime, nicht jedoch deren Mitarbeiter und Patienten namentlich genannt werden, kann jedoch vernachlässigt werden, zumal sie einem Legalismus, das heißt der Überantwortung des eigenen Schicksals an gesellschaftliche Institutionen, Vorschub leistet, obwohl die zuständigen Instanzen gerade auch in diesem Brennpunkt gesellschaftlich autorisierter Gewaltanwendung Teil des Problems und nicht der Lösung zu sein scheinen.

Eine solche Schlußfolgerung zieht der Autor in seinem Werk nicht, wenngleich aus seinen Fallbeispielen hervorgeht, daß die Heimaufsicht, die "alle stationären Einrichtungen in Deutschland einschließlich der Angebote betreuten Wohnens und der Hospize" (S. 130) zu kontrollieren hat, bei ihrer Tätigkeit die Interessen der Pflegeunternehmen und -institutionen wahrt zu Lasten der Menschen, die auf eben diese Hilfe angewiesen sind und aufgrund dieser existentiellen Abhängigkeit erst recht nicht in der Lage sind, ihre Interessen gegenüber den Einrichtungen sowie den staatlichen Institutionen durchzusetzen. Die mit der Einführung der Pflegeversicherung ermöglichte Privatisierung der Pflege hat entgegen der vorherigen Versprechungen dieses Dilemma nicht etwa zugunsten der pflegebedürftigen Menschen und ihrer Angehörigen verringert, sondern noch weiter zugespitzt. Breitscheidel stellt klar, daß das dreigliedrige Pflegestufenmodell, demzufolge die Pflegekassen für die Heimunterbringung umso mehr Finanzmittel zur Verfügung stellen, je höher die Pflegestufe ist, dazu geführt hat, daß die Heimleitungen bzw. ihre Träger ein finanzielles Interesse an der Verwahrlosung und zusätzlichen körperlichen Schädigung ihrer Bewohner haben.

In nicht einem Heim hat der Autor, wie er mehrfach betont, auch nur einen einzigen Fall erlebt, in dem ein zu pflegender Mensch auf eine niedrigere Pflegestufe zurückgestuft wurde, wie es bei guter Pflege, Versorgung und Unterbringung eigentlich zu erwarten gewesen wäre. Damit würde das Heim, wie Breitscheidel zutreffend darlegt, auf bares Geld verzichten. Menschen, die in ein Heim gebracht werden, geht es, oft schon nach sehr kurzer Zeit und mit zunehmender Tendenz, deutlich schlechter, und da es sich um Alten- und Pflegeheime handelt, in denen selbstverständlich keine gesunden und erwerbsfähigen Menschen untergebracht werden, gibt es in Medien und Öffentlichkeit weder ein Problembewußtsein noch hartnäckige Nachfragen, wenn es um die systematische Vernachlässigung und Un-Pflege der Heimbewohner geht.

Daß die tatsächlich geleistete Pflege minimalsten Anforderungen nicht genügt, stellt der Autor in seinem an Erlebnisreportagen erinnernden Schilderungen klar; sei es in Einzelfallberichten oder eher allgemein gehaltenen Textpassagen, in denen der Heimalltag aus der Sicht der Pflegekräfte beschrieben wird:

Mit immer mehr BewohnerInnen, häufigeren Krankmeldungen der Kolleginnen und der permanenten Unterbesetzung können wir nicht mal mehr die tägliche Pflege und Versorgung übernehmen. Nicht mal "satt und sauber" - was für ein Skandal! Die BewohnerInnen bekommen nicht zu jeder Mahlzeit etwas zu essen und zu trinken, ihre Wunden werden nicht versorgt, sie werden viel zu selten umgelagert und gewaschen.
(S. 161)

"Was für ein Skandal!" Diese Kommentierung reproduziert den gesellschaftlichen Konsens, der zu diesem hochbrisanten Thema, sollte es denn doch einmal die Mauer des tabuisierenden Schweigens durch spektakuläre Einzeltragödien durchbrochen haben, einer Inangriffnahme oder auch nur Benennung des Problems entgegensteht. Dies deshalb, weil die Bewertung des allgemeinen Pflegenotstands, der, schlimmer noch, einer systematisch betriebenen "Entsorgung" der als unproduktiv selektierten und marginalisierten Kostenverursacher gleichkommt, als "Skandal" einen gutfunktionierenden und die vorgehaltenen Versprechen erfüllenden Normalzustand voraussetzt. Nicht von ungefähr läßt der Autor seine fünf Pflegestationen mit der einzig positiven enden, so daß die Leser nach den vorherigen vier Horrorheimen nicht in blanke Angst oder schiere Verzweiflung gestürzt werden, sondern emotional aufgefangen werden durch eine Fallstudie, die sich in diesem Kontrast wie das Paradies auf Erden ausnimmt.

Bei dem Positivbeispiel soll es sich um eines von rund einhundert Häusern in ganz Deutschland handeln, die von einem Zusammenschluß privater Altenheim-Betreiber unterhalten werden und in dem in dem Bereich des Betreuten Wohnens gewinnorientiert und in dem der Pflege kostendeckend gearbeitet wird. Breitscheidel sollte an anderer Stelle dazu erklären, daß gerade dieses Heim ein wichtiges Beispiel sei, weil es zeige, daß "humane Pflege möglich und finanzierbar" [1] sei. Die monatlichen Kosten liegen für die Bewohner, Breitscheidels Angaben zufolge, "zwischen 2250 und 3250 Euro für Zimmer mit rund 25 Quadratmetern" (S. 173). Allerdings können auch "wenige kleinere Zimmer und die Doppelzimmer zu niedrigeren Mieten bewohnt werden". Eine "insgesamt einladende Atmosphäre hat ihren Preis", erklärt der Autor, ohne den darin enthaltenen Widerspruch zu den Ergebnissen seiner eigenen Arbeit auch nur zu erkennen oder zu problematisieren.

Zu den Verdiensten seiner Arbeit gehört nämlich, mit der Illusion, ein teures Heim würde, wenn auch nur für die wenigen Glücklichen, die die erhebliche Differenz zu den von den Pflegekassen übernommenen Kosten aus eigener Tasche aufbringen können, das Pflegeversprechen einlösen, aufgeräumt zu haben. Folgender Ausspruch einer Pflegekraft eines anderen Heimes, mag er nun aus dem Gedächtnis protokolliert oder auf der Basis der gemachten Erfahrungen des Autors fiktiv in Szene gesetzt worden sein, bringt dies auf den Punkt (S. 162):

"Mensch, das kann doch nicht wahr sein, die bezahlen hier 3000 Euro im Monat und müssen Angst haben zu verhungern. Weil das Geld für Personal gespart wird, können wir nicht mal eine Notversorgung garantieren. Das ist einfach unglaublich!"

"Unglaublich" ist die Schilderung solcher Zustände allein für all diejenigen, die sich, aus welchen Gründen auch immer, mit der in der Tat beängstigenden Realität nicht konfrontieren wollen. Aus Sicht offizieller Stellen wie auch aller beteiligten Institutionen und Pflegeunternehmen liegt die Interessenlage einer systematisch betriebenen Desinformationspolitik auf der Hand; doch auch das Gros der von einer Altenpflege, die keine ist, betroffenen und bedrohten Menschen neigt aus wenn auch nachvollziehbaren Gründen dazu, an der Perspektive eines wohlverdienten Lebensabends, der selbstverständlich im Ernstfall eine menschenwürdige Pflege und angemessene Unterbringung einschließt, festzuhalten. Mit seinem Buch "Abgezockt und totgepflegt" beteiligt sich der Autor, so paradox sich das anhören mag, da die Offenlegung der unsäglichen Pflegezustände Gegenstand und zentrales Thema seines Werkes ist, noch an der Aufrechterhaltung des Versprechens der Altenpflege oder, genereller ausgedrückt, der Erfüllung des Sozialstaatsversprechens.

Markus Breitscheidel befindet sich mit seinem Ansatz, der Beschreibung der katastrophalen Lebensbedingungen der in Pflegeheimen kasernierten Menschen einen echten Lichtblick hinzuzufügen, in prominenter Gesellschaft. Der CDU-Sozialpolitiker Norbert Blüm, der sich in den 1990er Jahren für die Einführung der Pflegeversicherung zur, wie es damals hieß, finanziellen Entlastung, stark machte, und damit als einer der Initiatoren der dadurch noch verschärften und keineswegs entlasteten Misere Adressat kritischer Nachfragen und konfrontativer Argumente sein könnte, vertritt in einem auf Breitscheidels eigener "Undercover"-Internetseite veröffentlichten Interview in diesem Punkt genau dieselbe Position [2]:

Man muss natürlich acht geben, dass die Leute nicht in Angst und Schrecken versetzt werden, so als wäre es ihr Todesurteil, wenn sie in ein Heim müssen. Dieser Lebensabschnitt ist ohnehin mit Ängsten und Unsicherheit verbunden. Wenn man jetzt darstellt, jedes Pflegeheim sei eine Ansammlung von Verbrechern, dann sollte man sich mal in eine 80-jährige versetzen, die im Heim lebt. Das ist ein gefährlicher Balanceakt. Man muss die Skandale aufdecken, aber man muss den Leuten ebenso sagen, dass es auch gute Heime gibt.

Mit dieser Haltung befördert Breitscheidel, ob willentlich und wissentlich oder nicht, den grausamen Sozialkampf, der der herrschenden Gesellschaftsordnung ohnehin immanent ist und keineswegs "nur" den Pflegebereich betrifft. Wer das Buch mit Interesse und wachsendem Entsetzen gelesen hat und bereit ist, die darin zum Ausdruck gebrachten Schilderungen als in ihrem Kern zutreffend zu akzeptieren, wird versucht sein, am Ende für sich und die eigenen Angehörigen die vermeintlich naheliegendste Schlußfolgerung, nämlich die erwähnten Ausnahmeheime mit dem erfüllten Pflegeversprechen ausfindig zu machen und am besten, so sie denn tatsächlich finanzierbar sind, was für sehr viele Bundesbürger mit Sicherheit nicht der Fall sein wird, schon einmal die Anmeldeformulare auszufüllen. Die Rücksichtnahme, die ein Norbert Blüm gegenüber Heimbewohnern einfordert, denen er die Schockerkenntnis, womöglich in einer potentiell tödlichen Umgebung zu leben, ersparen möchte, ist an Zynismus kaum zu überbieten, da die heimbedingte Lebensgefahr damit verschleiert, ihr Fortbestand somit begünstigt wird.

Dem Anspruch des investigativen Journalismus wird der Autor ohnehin nur in einem stark eingeschränkten Verständnis gerecht, denn keineswegs enthüllt das Buch "Abgezockt und totgepflegt" Verhältnisse und Zustände, die bis zum Zeitpunkt seines Erscheinens (2005) hätten geheimgehalten werden können. So ging beispielsweise der Sozialverband Deutschland schon im August 2003 mit der schockierenden Mitteilung an die Öffentlichkeit, daß in deutschen Altenheimen jährlich mindestens zehntausend Menschen vorzeitig durch mangelnde Versorgung und Pflege sterben. "Es handelt sich um die größte soziale und humane Katastrophe seit dem Zweiten Weltkrieg", hatte die Referentin für Gesundheits- und Pflegepolitik beim Sozialverband in Berlin, Gabriele Hesseken, seinerzeit erklärt [3]. Die Zahl der rund 10.000 durch Pflege getöteten Menschen jährlich beruhte auf einer Hochrechnung des Rechtsmedizinischen Instituts der Universität Hannover. Wie der Sozialverband Deutschland desweiteren berichtete, ergaben Untersuchungen der Medizinischen Dienste der Krankenkassen, daß mehr als die Hälfte der Heimbewohner mangel-, fehl- oder unterernährt sei. Ein Drittel der künstlich ernährten Menschen, so Hesseken, würde dennoch verhungern. Die Zahl der freiheitsentziehenden Maßnahmen, die in bundesdeutschen Heimen Tag für Tag gegen die Bewohner eingesetzt werden, wurden bereits 2003 auf 400.000 geschätzt.

Von einem tatsächlichen Aufklärungsbedarf über mörderische Pflege kann insofern kaum die Rede sein. Die Pressemitteilung des Sozialverbands Deutschland soll von Mitarbeitern der Wohlfahrtsverbände mit den Worten kommentiert worden sein: "Es hat sich scheint's immer noch nicht rumgesprochen, dass man in Altenheimen stirbt." [3] Gleichwohl sorgte "Abgezockt und totgepflegt" bei seinem Erscheinen im September 2005 für einiges Aufsehen und bescherte dem Autoren Einladungen in Fernsehsendungen. In der Sachbuchliste des Spiegel erklomm das Buch im Oktober 2005 Platz 3, und so konnten Negativreaktionen seitens der Institutionen und Interessenvereinigungen, denen er mit diesem Bericht in die Parade fuhr, nicht ausbleiben. Im Deutschen Ärzteblatt vom 14. Oktober 2005 wurde zwar zugestanden, daß Breitscheidels Kritik "zum Teil berechtigt sein" mag, doch wurde versucht, seine Beschreibungen als "subjektive Momentaufnahmen, oftmals oberflächlich und undifferenziert", in ihrer Aussagekraft zu entschärfen. Mit dem Argument, es sei schwer zu glauben, daß der Autor "als neutraler Beobachter in den Heimen unterwegs war", wurde dieser persönlich zu diskreditieren gesucht, was natürlich ebensowenig die Kernaussage seines Buches berührt.

Die Kritik an Breitscheidel trifft nicht deshalb ins Leere, weil sein Buch überragende Qualitäten hätte, sondern weil der Autor die Schärfe seiner Kritik selbst zurücknimmt und am Ende eine "runde Ecke" zu machen bereit ist. Sein Buch endet mit zahlreichen "Forderungen und Lösungsvorschlägen", beginnend damit, die Fusion der Kranken- und Pflegeversicherung ebenso vorzuschlagen wie die Abschaffung des bestehenden Pflegestufenmodells, um dieses durch eine nach individuellen Bedürfnissen ausgerichtete Abrechnung zu ersetzen, all dies gekoppelt mit verstärkten Kontrollmechanismen und Pflegekräften, die sich trauen, den Mund aufzumachen. All diesen Lösungsvorschlägen ist gemein, das Problem als durch Reformen lösbar darzustellen, ohne auch nur den Versuch zu unternehmen, die im Buch durch den Mund einer ausländischen Pflegekraft aufgeworfene Frage, wie es denn möglich sein kann, daß ein reiches Land wie Deutschland so mit seinen alten und pflegebedürftigen Menschen umgeht, zu beantworten.

Unterstrichen wird die Einbindung der vorgebrachten Kritik zurück in die Gefilde und Untiefen eines Sozialsystems und seiner gesellschaftlichen Wurzeln, die kritisch zu benennen der nächstfolgende Schritt hätte werden können, durch ein Interview mit Prof. Dr. Dr. Klaus Dörner zu dem Thema "Das ganze Land ohne Heime - eine Utopie?" Dörner gilt als Mitinitiator der Reformbewegung in der Psychiatrie und hat sich in seiner Eigenschaft als Mitglied der Arbeitsgemeinschaft Menschen in Heimen, die sich für die Einrichtung einer Enquete-Bundestagskommission der Heime einsetzt, auch in Hinsicht auf den Pflegebereich einen Namen gemacht. Seine Forderung nach einer Abschaffung nicht nur psychiatrischer Anstalten, sondern auch aller Altenheime, mutet vielleicht progressiv an, enthält jedoch im Kern die Befürwortung eines noch weiter fortgesetzten Abbaus des Sozialstaats. So erklärt Dörner (S. 213):

Es ist das bekannteste Faktum überhaupt, dass ein bestimmter Prozentsatz der Alten, der ins Heim kommt, an der Heimverlegung stirbt. Es ist das Heim selbst, das die Menschen tötet, weitgehend unabhängig von der Anzahl und der noch so engagierten Arbeit der Pflegekräfte. Denn die Verheimung von Menschen ist eine menschentötende Veranstaltung. Das hat noch nie jemand bestritten. Daher darf es Heime nur geben, solange es keine Alternativen gibt, die die Persönlichkeitsrechte weniger einschränken. Die aber gibt es heute.

Bei diesen Alternativen handelt es sich um die Idee der praktizierten Nachbarschaftshilfe, worunter sich die Forderung nach unentgeltlich zu leistender Pflegearbeit verbirgt. Für das Problem, daß Gemeinden und Behörden ambulante Pflege- und Wohnplätze in ausreichender Zahl nicht finanzieren können, wirft Dörner seinen Ruf als (psychiatrie-) kritischer Wissenschaftler in die Waagschale, um Vorschläge zu unterbreiten, die aus dem Munde von Sozialpolitikern sofort Proteste hervorgerufen hätten. "In Zeiten, in denen unser Geld allein nicht mehr reicht, um Profis möglichst viel Helfen übernehmen zu lassen ... kann man sich nur noch Gedanken darüber machen, wie weit wir Bürger unsere Zeit zum Helfen unbezahlt und wie weit gegen Bezahlung geben wollen." (S. 212) In Zeiten eines Hartz-IV-Mangelregimes kann seine Anregung, "wir" könnten uns mit "relativ einfachen Pflegeleistungen", die wir "zu uns zurückholen", einen sozialen Zuverdienst verschaffen, "zumal wir auf dem Arbeitsmarkt sowieso nicht mehr genug Einnahmen erzielen können" (S. 213) nur als kontraproduktiv für die Entfaltung einer gegen die fortgesetzte und alle Bereiche der gesellschaftlichen Existenz durchdringende Entwürdigung und Entrechtung des Menschen sowie den gezielten Abbau sogar seiner materiellen Lebensbedingungen gerichteten Gegenposition bezeichnet werden.

Von der Befeuerung eines solchen kritischen Potentials ist auch Markus Breitscheidel weit entfernt. Seinem erfolgreichen Debütwerk folgte mit "Gesund gepflegt statt abgezockt" ein Nachfolgebuch zu "Abgezockt und totgepflegt", das die darin bereits angelegte Lösungsmixtur ausbaut, erweitert und verfestigt, so daß die eiskalten Schauer, die den Lesern bei Breitscheidels erstem Pflegebuch noch über den Rücken laufen können, längst weggetupft werden. Wie könnte ein investigativer Enthüllungsautor wie Breitscheidel, der mit wohlwollender Anerkennung Wallraffs im Pflegebereich "gewallrafft" hat, in seinem Folgewerk von "Wege[n] zur würdigen Altenbetreuung" schreiben, wenn es "Neue Wege zur würdigen Altenbetreuung" nicht auch tatsächlich gäbe? Bezeichnenderweise zeigen in diesem Buch, wie Breitscheidels eigener Website zu entnehmen ist [4], "persönliche Berichte, Interviews mit Experten und praktische Empfehlungen, was Sie bereits heute für Ihre Eltern und für sich selbst tun können". Rette sich, wer kann, lautet somit das Credo eines vermeintlichen Enthüllungsjournalisten, der unterm Strich gesehen lediglich dazu beiträgt, erzwungene Einsichten in das vermeintlich Unabwendbare zu befördern.

Anmerkungen

[1] Grausamkeiten und Burnout im Pflegealltag, Verdeckte Recherche in Heimen: Autor berichtet über Dauerqual für Patienten und Personal, von Bettina Markmeyer, Evangelischer Pressedienst, epd sozial 36/2005,
http://www.epd.de/sozial/sozial_index_37052.html

[2] Interview mit Norbert Blüm, von Markus Breitscheidel, auf dessen Internetseite "Markus Breitscheidel Undercover", ohne Datumsangabe,
http://www.markusbreitscheidel.de/index.php?option=com_content&view=article&id=62:norbertbluem&catid=34:interview&Itemid=37

[3] Altenheime: Barbarische Zustände, von Hanne Schweitzer, 27.8.2003,
http://www.altersdiskriminierung.de/themen/artikel.php?id=482

[4] http://www.markusbreitscheidel.de/index.php?option=com_content&view=article&id= 48&Itemid=53

23. Februar 2010


Markus Breitscheidel
Abgezockt und totgepflegt
Alltag in deutschen Pflegeheimen
Mit einem Vorwort von Günter Wallraff
2. Auflage 2005
Econ, Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
ISBN-13: 978-3-430-11572-8
ISBN-10: 3-430-11572-8