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REZENSION/519: Worldwatch Institute, Hg. - Zur Lage der Welt 2010 (SB)


Worldwatch Institute (Hg.)


Zur Lage der Welt 2010

Einfach besser leben - Nachhaltigkeit als neuer Lebensstil



Die zahlreichen in jüngster Zeit veröffentlichten Artikel und Bücher, in denen um eine andere gesellschaftliche Zukunft gerungen wird, stellen offenbar eine Reaktion auf die unübersehbare Krisenhaftigkeit dieser Epoche dar. Der düster heraufziehenden Entwicklung sollen Ideen für einen positiven Gesellschaftsentwurf entgegengesetzt werden. Sogar konservative und liberale Autorinnen und Autoren sprechen inzwischen vom Versagen der Finanzwirtschaft, mithin den Grenzen der Wachstumsapologetik, und fordern eine stärkere Beschränkung der Finanzmärkte. Décroissance, Entschleunigung, Förderung der Gemeingüter und, noch vor allem anderen, Nachhaltigkeit lauten die Zauberwörter, mit denen die Menschheit erstmals ihren destruktiven Einfluß auf die Überlebensvoraussetzungen im globalen Maßstab aufhalten und ins Gegenteil verkehren will. Ein gewaltiges Unterfangen, dessen Verwirklichung einen anderen Menschen erfordert.

Demgegenüber tragen Klimaveränderung, Ressourcenmangel - insbesondere beim Energieträger Erdöl -, Ausdehnung der Hungerregionen, nimmer endende bewaffnete Konflikte im größeren Mittleren Osten und eine militärische Aufrüstung der führenden Wirtschaftsmächte zu einer sich allmählich einschleichenden Endzeitstimmung vieler Menschen bei. Wenn vieles nicht hält, was bis dahin Halt versprochen hat, droht die Welt plötzlich aus den Fugen zu geraten, so die Befürchtung. Zu den schwer zu bestimmenden Kippunkten in der Klimaforschung, bei deren Überschreiten eine nicht zu stoppende weltweite Dynamik in Gang gesetzt wird, die erst auf einem gänzlich anderen Ordnungsniveau endet, kommt ein soziales Äquivalent hinzu, das ebenfalls nur zu ahnen ist. So lautet die Frage: An welchem sozialen "Kippunkt" wird ein großer Krieg zwischen den USA bzw. den NATO-Staaten und Rußland oder China um die weltweite Vorherrschaft ausgelöst, wie ihn manche Analysten in Washington, London, Paris oder Berlin schon vor Jahren als kaum vermeidbar bezeichnet haben?

Als Gegenbewegung zu den hier angedeuteten mannigfachen Bedrohungen bemühen sich Menschen schreibend, diskutierend, demonstrierend oder agitierend um eine andere Welt, in der weder die natürlichen Entwicklungen noch die sozialen Konflikte entufern. In diesen Kontext plaziert sich der oekom Verlag mit einem Buch, in dem "Nachhaltigkeit als neuer Lebensstil" der verbreiteten Wachstumsidee entgegengehalten wird. In "Zur Lage der Welt 2010 - Einfach besser leben" des US-amerikanischen Worldwatch Institutes kommen mehrere Dutzend Autorinnen und Autoren zu Wort, die in meist kurzen Abhandlungen unterschiedliche Aspekte und Konzepte einer gesellschaftlichen Zukunft beschreiben und ausgehend vom heutigen Ist-Zustand aufzeigen, was ihrer Meinung nach verändert werden müßte.

Wollte man einen gemeinsamen Nenner der naturgemäß höchst verschiedenartigen Ansätze, Analysen und Schlußfolgerungen bestimmen, so wäre es der, daß hier Hoffnung auf Verhaltensänderungen geweckt wird. Wenn nur viele Menschen die Vorschläge zu einem nachhaltigen Lebensstil befolgten und darüber hinaus andere Menschen dazu bewegten, das gleiche zu tun, ergäbe sich eine Massenbewegung, die sich irgendwann gesellschaftlich durchsetzen wird, lautet die mal ausgesprochene, mal unausgesprochene Botschaft der Mehrheit der Artikel.

Diese Grundidee besitzt durchaus Plausibilität. Würden alle Menschen in einer Umgebung leben, in der das Fahrrad das wichtigste Fortbewegungsmittel wäre (S. 196f), liefen die Bänder in den Autofabriken langsamer oder stünden still. Würden wiederum alle Autoproduzenten darauf achten, Fahrzeuge mit geringem Spritverbrauch herzustellen (S. 147f), schauten die Hersteller tonnenschwerer Luxuslimousinen in die Röhre. Würden Kinder bereits zu einem nachhaltigen Konsumverhalten erzogen (S. 102f), beeinflußte das den Lebensstil der nächsten Generationen. Zweifellos, Massenbewegungen können etwas bewirken.

Aber genügt das? Bleibt da nicht ein Unbehagen, daß die Welt sich selbst dann nicht entscheidend änderte, wenn die vielen guten Vorsätze verwirklicht wären? Die wenigsten der in dem vorliegenden Buch versammelten Autorinnen und Autoren versuchen, den Eindruck zu erwecken, daß eine gesellschaftliche Kurskorrektur leicht zu erreichen wäre, aber sie lassen sehr wohl die Ansicht durchblicken, als könnte die Menschheit es über bloße Verhaltensänderungen schaffen, sich aus den multiplen Krisen herauszuwinden - ungeachtet der Gegenkräfte! Es gibt jedoch einflußreiche Interessen, welche die Welt genau so haben wollen, wie sie ist, da sie im erheblichen Umfang davon profitieren. Diese durchaus namentlich festzumachenden Kräfte wissen ihre politische, wirtschaftliche und ideologische Hegemonie zu verteidigen, sonst wären sie in der konkurrenzgetriebenen Gesellschaft nicht dort angekommen, wo sie sind. Sie werden sich ihre Vorherrschaft durch keine noch so gut gemeinten Konzepte nehmen lassen. Von diesem maßgeblichen Hindernis für den beschworenen Paradigmenwechsel (u.a. S. 51) handelt das Buch nicht.

Mit den Vorschlägen zu einer Transformation des Lebensstils wird die anstehende fundamentale politische Auseinandersetzung vermieden. Insofern richtet sich das Worldwatch Institute (WWI), das für dieses Buch mit der Heinrich-Böll-Stiftung und Germanwatch zusammengearbeitet hat, vor allem an die Klientel der Mittelschicht, die über das Privileg eines gehobenen Lebensstils verfügt und sich folglich auch dessen Veränderung leisten kann. Je größer hingegen die ökonomische Enge, in der sich jemand befindet, desto weniger hat er oder sie überhaupt eine Wahl. Auch das wird in dem vorliegenden Buch vernachlässigt.

Ungeachtet dieser Anmerkungen verhilft "Einfach besser leben" zu einem gelungenen Einblick in den Fragenkomplex, mit dem sich mittlerweile eine weltweite, breitgefächerte Bewegung befaßt. Viele der Autorinnen und Autoren bemühen sich bei ihren Vorschlägen um einen tieferen Zugriff auf die gesellschaftsbestimmenden Prozesse und Schnittstellen für mögliche Veränderungen. So möchte der WWI-Mitarbeiter Gary Gardner "Religionen im Dienste der Nachhaltigkeit" einsetzen (S. 60f), da er diesen eine große Wirkmächtigkeit attestiert. Wohingegen der Umweltanwalt Cormac Cullinan, ehrenamtlicher wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Öffentliches Recht der Universität von Kapstadt, hofft, daß sich die "ökozentrischen Governance-Initiativen" (S. 209) sehr rasch ausbreiten, was wiederum "den Ansatz der Erd-Jurisprudenz" helfen würde. Ein Ansatz, der dazu paßt, daß vor kurzem mehrere zehntausend Teilnehmer des Klimagipfels in Bolivien unter dem Titel "Weltkonferenz der Völker über den Klimawandel und die Rechte der Mutter Erde" debattiert haben.

Robin Andersen, Professorin für Kommunikation und Medienstudien an der Fordham University in New York, und die Studentin Pamela Miller analysieren die Wirkmechanismen der Werbung und sprechen sich für das Bildungsziel "Medienkompetenz" aus, damit Menschen befähigt werden, bei der Suche nach zukunftsfähigen Kulturen "die Herausforderungen zu bewältigen" (S. 229). Wohingegen Jonathan Dawson vom schottischen Ökodorf Findhorn im abschließenden Kapitel über "Ökodörfer und Wertewandel" (S. 258ff) aus seiner Praxis herleitend eine "Entkoppelung von Wachstum und Wohlergehen" befürwortet.

Von den vielen konkreten Beispielen, die in dieser 300seitigen Aufsatzsammlung erwähnt werden, sei hier nur die Stadt Hasselt herausgegriffen. In dieser belgischen Stadt mit ihren 68.000 Einwohnern wurde der öffentliche Nahverkehr ab 1997 kostenlos angeboten. (S. 52f) Die Fahrgastzahlen stiegen zwischen 1996 und 2001 um mehr als 1000 Prozent an. Vierspurige Straßen konnten auf zweispurige zurückgebaut und Parkplätze in der Innenstadt reduziert werden. Dort machten die Einzelhändler einen größeren Umsatz, selbst die Zahl der Besucher der Krankenhäuser nahm zu. Die Lebensqualität stieg an. Inzwischen ist die Innenstadt stark verkehrsberuhigt.

Hasselt ist eines jener Beispiele, die der Autor Erik Assadourian in seinem längeren Aufsatz "Aufstieg und Fall unserer Konsumkultur" (S. 33 - 58) im Kontext von "drei universellen Zielen" positiv herausstreicht. Assadourian, der in seiner Rolle als Projektleiter des Worldwatch Institutes zu den sechs Oberkapiteln dieses Buchs jeweils kurze Einführungstexte geschrieben hat, räumt ein, daß sich die genaue Vorstellung dessen, was der von ihm propagierte Konsumverzicht sei, von Kultur zu Kultur unterscheide. Dennoch glaubt er, "drei einfache universelle Ziele" festmachen zu können: Erstens sollte Konsum, der unmittelbar "dem Wohlergehen" schade, "aktiv behindert" werden. Zweitens sollte privater Konsum von Gütern durch den öffentlichen ersetzt werden - hier führt er die kostenlose Benutzung des öffentlichen Verkehrssystems in Hasselt an. Und drittens müßten lebensnotwendige Güter so konstruiert werden, daß sie eine lange Lebensdauer haben.

So verständlich Assadourians Anliegen auch ist, für die breitgefächerte "Nachhaltigkeits-Bewegung" universelle Ziele festlegen zu wollen, kann es nicht ohne Widerspruch bleiben, wenn er dazu auffordert, Konsumverzicht "aktiv" zu behindern, sofern dies dem "Wohlergehen" diene. Hier nimmt er die Rolle des Richters ein, der für andere entscheidet, was ihnen wohltut und was nicht. Eine solche Einstellung weckt nicht zu Unrecht Befürchtungen, daß der allerorten propagierte Green New Deal einem Ökofaschismus vorangeht, in dem unter dem Vorwand vermeintlicher Sachzwänge wie dem des Ressourcenmangels oder der globalen Bedrohung durch den Klimawandel administrative Zuteilungen von Genuß- wie auch Grundversorgungsmitteln vorgenommen werden - mit womöglich grausamster Konsequenz für diejenigen, denen eine ausreichende Versorgung versagt wird.

Diese Befürchtung ist insofern nicht übertrieben, als daß der Klimagipfel von Kopenhagen im Dezember 2009, bei dem faktisch Fragen der Weltführerschaft, des Ressourcenverbrauchs und technologischen Vorsprungs im Mittelpunkt standen, gescheitert ist. Wissenschaftlichen Prognosen zufolge werden möglicherweise Hunderte Millionen Menschen zusätzlich in Existenznot geworfen und viele von ihnen umkommen, wenn sich die Staatengemeinschaft auf keine drastische Reduzierung von Treibhausgasemissionen einigt. Das nicht einmal ratifizierte, sondern nur zur Kenntnis genommene Schlußdokument "Copenhagen Accord" bleibt erstens unverbindlich und zweitens deutlich über der Forderung der vom Klimawandel besonders betroffenen Entwicklungsländer nach strengeren Emissionszielen.

Assadourian zählt "Tabakgenuss" zu den "aktiv" zu bekämpfenden, schädlichen Verhaltensweisen, die durch "besondere Strategien wie politische Steuerung von Verbraucherentscheidungen, sozialen Druck, Bildung und gesellschaftliches Marketing (...) zum Tabu werden" (S. 52) sollten. Was immer man den Tabakkonzernen anlasten kann, Kritiker des Rauchens ignorieren nicht zuletzt die kompensatorische Funktion des Tabakgenusses, der zweifellos dem Wohlergehen der Konsumenten dient. Ein Rauchverbot führte womöglich zu anderen kompensatorischen Verhaltensweisen oder Mechanismen, die sehr viel schädlicher sein können.

Wenn "Wohlergehen" ein universelles Ziel des Konsumverzichts sein soll, dann stehen diesem alle Formen von Verboten entgegen. Aber warum nicht grundsätzlich werden und sich fragen, was den Kompensationswunsch auslöst? Schon könnte man darauf kommen, daß das etwas mit entfremdeter Arbeit, zunehmendem Leistungsdruck und anderen gesundheitlich ruinösen Zwängen der akkumulationsgetriebenen Produktionsverhältnisse zu tun hat. Daß wenige Menschen von diesem System profitieren, andere hingegen die volle Wucht des Mangels abbekommen, kann jedenfalls mit Einschränkungen des Tabakgenusses nicht aus der Welt geschafft werden. In diesem Sinne: Einfach besser leben? Aber gern, vollkommen zwanglos.

6. Mai 2010


Worldwatch Institute (Hg.)
in Zusammenarbeit mit der Heinrich-Böll-Stiftung und Germanwatch
Zur Lage der Welt 2010
Einfach besser leben - Nachhaltigkeit als neuer Lebensstil
Mit Vorworten von Muhammad Yunus, Ralf Fücks und Klaus Milke sowie
Sonderbeiträgen von Gerhard de Haan und Germanwatch
Aus dem Englischen von Annette Bus, Thomas Pfeiffer, Kathrin Razum,
Jochen Schimmang und Heinz Tophinke
oekom Verlag, 1. Auflage München 2010
300 Seiten, 19,90 Euro
ISBN 978-3-86581-202-5