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REZENSION/534: Martin Dolzer - Der türkisch-kurdische Konflikt (SB)


Martin Dolzer


Der türkisch-kurdische Konflikt

Menschenrechte - Frieden - Demokratie in einem europäischen Land?



Mit seinem Buch "Der türkisch-kurdische Konflikt" hat der 1966 geborene Kieler Diplom-Soziologe und freie Journalist Martin Dolzer im Pahl-Rugenstein-Verlag ein Werk vorgelegt, dessen politische Brisanz und publizistische Notwendigkeit aus traurigem aktuellen Anlaß kaum größer sein könnte. Wie schon dem Untertitel zu entnehmen ist, hat der Autor, der als wissenschaftlicher Projektmitarbeiter für Menschenrechte in der Türkei bei dem früheren Bundestagsabgeordneten der Linkspartei und emeritierten Professor für öffentliches Recht, Norman Paech, intensiv mit dem türkisch-kurdischen Konflikt befaßt war und an Delegationsreisen in die kurdischen Gebiete teilgenommen hat, die Frage nach Menschenrechten, Frieden und Demokratie in einem europäischen Land in den Vordergrund gestellt.

Nichts von alledem ist in der Türkei anzutreffen. Die Geschichte der politischen Repression ist in der Türkischen Republik so alt wie die Republik selbst, und so stellt Dolzer nicht von ungefähr eine "Historische Skizze" über die Geschichte des Mittleren Ostens und Kurdistans, den Zerfall des Osmanischen Reiches und die Gründungsphase der Türkei, die Entwicklungen nach dem Zweiten Weltkrieg, die Militärputsche der Nachkriegszeit, das Wiederaufleben des kurdischen Widerstands und den Bürgerkrieg, die Friedensvorschläge Abdullah Öcalans sowie die Entwicklung der PKK und der kurdischen Parteien, ergänzt durch Exkurse mit geschichtlichen Betrachtungen unter Genderaspekten, über matriarchale Kulturen, die Verdrängung matrizentrischer durch patriarchale Gesellschaftsordnungen sowie Mythen und Hegemonialbildung an den Anfang seines Buches.

Dies ist nicht nur nützlich, sondern unverzichtbar, da der türkisch-kurdische Konflikt, was selbstverständlich für jeden aufgrund gegensätzlicher Interessen und einseitiger, von Hegemonialabsichten dominierten Einflußnahmen Dritter ungelösten und nahezu unlösbaren Konflikt gilt, nicht ohne Kenntnisse seines historischen Entstehungszusammenhanges verstanden werden kann. In dieser Hinsicht hat der Autor mit dem vorliegenden Buch offensive Pionierarbeit geleistet, da die fortgesetzte Unterdrückung der in der Türkei lebenden Kurden in den EU-Staaten sowie den USA ein Thema ist, bei dem diese vermeintlichen Streiter für die Durchsetzung der Menschenrechte Pause machen. Über die Situation der Kurden in der heutigen Türkei, die als, wenn auch ewiger, EU-Aufnahmekandidat und NATO-Mitglied fest in die westliche Staatengemeinschaft integriert ist, herrscht hierzulande nicht etwa nur ein Informationsdefizit vor, so als hätten Politik und Konzernmedien diese Region und ihre Menschen einfach nur "vergessen".

Martin Dolzer hat gleich in seiner Einleitung angedeutet, um nicht zu sagen klargestellt, daß es hier eine unheilige Allianz zwischen den westlichen Staaten und der Türkei zulasten der Kurden gibt, denn anders wäre kaum zu erklären, warum, wie der Autor schreibt, Europa und die USA "die Schuld an dem Konflikt weitgehend der kurdischen Seite zuweisen und auf die PKK projizieren" (S. 9). Mit diesem Buch möchte der Autor "einen Teil dazu beitragen, eine differenziertere Sichtweise in Bezug auf diesen Themenbereich zu eröffnen" (S. 9), was ihm in vollem Umfang gelungen ist. Dabei "krankt", wenn man dies überhaupt so sagen kann, sein Werk einzig und allein an dem hohen Tempo dieses sich in der jüngeren Vergangenheit zuspitzenden Konflikts, der inzwischen bereits wieder die Qualität eines, wenn auch unausgesprochenen und in der internationalen Medienwelt weitgehend ausgeblendeten Krieges angenommen hat.

So hat Dolzer in seiner Einleitung betont, daß er es notwendig findet, "die Friedensbemühungen der Guerilla und das Wirken der gemäßigten Parteien HEP/ÖZDEP/HADEP/DEHAP (die allesamt aufgrund von Verboten oder Verbotsverfahren aufgelöst wurden) sowie der DTP (...), die zur Zeit mit 21 PolitikerInnen im türkischen Parlament vertreten ist, wahrzunehmen." (S. 9/10) Die letztere Information ist inzwischen schon historisch überholt, worauf der Autor in seinem Nachwort selbst hinwies: "Nach Fertigstellung des Skripts verbot das türkische Verfassungsgericht am 11. Dezember 2009 die Demokratische Gesellschaftspartei (DTP)." (S. 165) Die aktuelle Situation hat inzwischen den letzten Stand seiner Berichterstattung auch noch überholt, endet sie doch damit, daß die PKK in diesem Frühjahr angekündigt hat, die Fortführung ihrer seit Jahren einseitig erklärten Waffenstillstände zu überdenken.

Dies ist inzwischen geschehen. Da der türkische Staat auch unter der AKP-Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan - auch dies geht aus Dolzers Schilderungen klar hervor - nicht davon abgelassen hat, einer Demokratisierung des Landes und, damit zwangsläufig verbunden, auch einer tatsächlichen Anerkennung der Kurden sowie ihrer Gleichstellung mit der türkischen Bevölkerung entgegenzuarbeiten. Die lange Geschichte der Militärputsche von 1960, 1971 und 1980 sowie der kalte Putsch von 1997 dienten stets dem Zweck, eine Demokratisierung oder gar Linksentwicklung des insgeheim bis heute durch die militärische Führung dominierten Staates ebenso zu verhindern wie eine Aufhebung der Unterdrückung des kurdischen Volkes. Zu den Verdiensten Dolzers, über die politische Lage in der Türkei durch detaillierte Informationen nicht nur zur Geschichte des Staates, sondern auch der Entwicklung der Parteien und außerparlamentarischen Bewegungen berichtet zu haben, gehört insbesondere auch die Benennung der Zusammenhänge, die zum Verständnis der heutigen Situation unabdingbar sind.

So führte er aus, daß Ministerpräsident Erdogan und der Generalstabschef des Militärs, Yasar Büyükanit, sich 2007 auf einem geheimen Treffen über die künftige Reformpolitik der Regierung verständigt haben. Dolzer zufolge hat die AKP-Regierung dem Militär schon damals "im Kampf gegen die PKK uneingeschränkte finanzielle und moralische Unterstützung zukommen lassen" (S. 58). Dies würde erklären, warum ungeachtet der moderaten Zugeständnisse, durch die Erdogan noch im vergangenen Sommer Hoffnungen auf eine bessere Zukunft der Kurden und eine Entschärfung des Konflikts geweckt hat, sich diese inzwischen, und zwar im Buchstabensinne des Wortes, zerschlagen haben.

Allen Interessierten, die gegenüber der auch in der Bundesrepublik vorherrschenden Lesart, derzufolge die PKK eine terroristische Organisation sei, wissen möchten, welche Vorstellungen Kurden in der Türkei über sich, ihr Leben und über ihre Zukunft haben und die der Frage nachgehen wollen, wie die Kurden selbst über die PKK und die übrigen, verbotenen Kurdenparteien denken, kann dieses Buch nur empfohlen werden. In seinem Nachwort ließ der Autor das Urteil des Europäischen Gerichtshofs, "der die Listung der PKK und des Kongra Gel auf der EU-Terrorliste 2007 als rechtswidrig zustande gekommen beurteilte" (S. 166/167), nicht unerwähnt, worüber im Rahmen der EU, aber auch innerhalb Deutschlands, wie auch insgesamt über den stillen Krieg in den Kurdengebieten der Türkei (und auch des Irak) viel zu wenig kontrovers diskutiert wird.

9. Juli 2010


Martin Dolzer
Der türkisch-kurdische Konflikt
Menschenrechte - Frieden - Demokratie in einem europäischen Land?
Pahl-Rugenstein Verlag, 2010
201 Seiten
ISBN 978-3-89144-429-0