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REZENSION/577: metroZones (Hg.) - Urban Prayers (SB)


metroZones (Hg.)


Urban Prayers

Neue religiöse Bewegungen in der globalen Stadt



Vor weißem Hintergrund ein riesiges Megaphon mit der Aufschrift "Jesus is coming soon" in dunkelhäutiger, rollexbestückter Hand. Die Gestalt selbst wie die Androhung einer entpersonalisierenden Katharsis nur von der Brust abwärts abgebildet, kopf- und identitätslos, ein Prediger mit modernem Equipment, der, die schallverstärkte Botschaft düsterer Endzeitvisionen verkündigend, auf den Plan tritt, um die Menschen wieder auf jenen Gehorsam einzustimmen, der in der Dauerpräsenz des Gottes, der da heißt, ich bin, ich war, ich werde sein, keinen Widerspruch duldet.

So marktschreierisch der Ruf der Mission, der vom Umschlagbild ertönt, so bemüht um die differenzierte Darstellung "Neuer religiöser Bewegungen in der globalen Stadt" sind die Autorinnen und Autoren des vom Berliner Urbanisten-Kollektiv metroZone herausgegebenen Buches "Urban Prayer". Der interdisziplinär agierende Verein hat in den letzten Jahren wiederholt Literatur zu fachspezifischen Fragen um neue Entwicklungstendenzen in den Zentren und Peripherien der Welt veröffentlicht. So begreift sich die Forschungsgruppe selbst als Innovationsschnittstelle von Kunst, Wissenschaft und Politik mit dem Ziel, mittels avantgardistischer Veranstaltungen und Publikationen auf städtische Organisationsformen und soziale Bewegungen am Rande des Spektrums wissenschaftlicher Wahrnehmung und politischen Diskurses hinzuweisen.

Der jüngste Band ist dem Phänomen zunehmender Religiosität vor allem in den Armutsvierteln der Großstädte im globalen Süden gewidmet, um daraus Erkenntnisse zu urbanen Konflikten und Transformationen zu gewinnen. Dies auch vor dem Hintergrund, daß neue Religionsgemeinschaften sowie netzwerkartig organisierte Basisbewegungen weit über den Rahmen traditioneller Glaubens- und Selbsthilfepraktiken hinaus als politische Akteure auftreten und dabei nicht selten links-libertäre Gruppierungen und staatliche Einrichtungen der Wohlfahrt und öffentlichen Vorsorge ersetzen.

Das Buch geht den "Verbindungen zwischen lokalen, urbanen Entwicklungen und globalen Prozessen, die der Ausbreitung religiöser Bewegungen und Gemeinschaften sowohl im globalen Süden als auch im Norden Vorschub leisten" (S.8), nach und akzentuiert dabei die Frage, ob "der Niedergang säkularer Stadtbewegungen und ziviler Organisationen ... auch den Verfall emanzipativer politischer Kräfte in den Städten" zur Folge hat (S.9).

Anhand eines Querschnitts aus zehn ausgewählten Beiträgen von und Gesprächen mit Stadtforschern, Soziologen und Religionswissenschaftlern werden Forschungsansätze aus Afrika, Asien, Lateinamerika und Europa nuanciert und mit hohem Erkenntniswert vorgestellt. Das Buch zeigt dabei nicht nur die Verflechtung zwischen Stadt, Religion und Politik auf, sondern untersucht, ob es sich bei der "weltweit beobachtbaren Islamisierung im städtischen Raum, beim globalen Boom urbaner Pfingstkirchen und bei hindu-nationalistischen Bewegungen um strukturell vergleichbare Phänomene" (S.8) handelt.

Fragen mobilisieren allerdings auch Ängste: Wenn Moscheevereine, Pagoden und Hindu-Tempel die innerstädtische Architektur westlicher Metropolen verändern, bahnt sich damit auch ein Kulturkampf der Religionen auf dem Boden eines aufgeklärten abendländischen Säkularismus an? Oder werden lediglich Bedürfnisse abgedeckt, die im fortschreitenden Zerfall bürgerlicher Biographien gerade in Zeiten immer düsterer fühl- und erfahrbarer Wertverluste um so drängender in Erscheinung treten?

Die Grabenkämpfe verlaufen nach Ansicht der Autorinnen und Autoren allerdings nicht zwischen religiöser Erlösung und politischer Befreiung. Nicht der Widerstreit zwischen einem Leben schon vor oder erst nach dem Tod trennt den städtischen Raum noch scheint notwendig ein Rückfall in die Zeiten wertkonservativer Stagnation am Firmament drängender Überlebens- und ungestellter Machtfragen auf. Jürgen Habermas versöhnliches Diktum von der "postsäkularen Gesellschaft", die den Orientierungsnutzen in einer unübersichtlich gewordenen, technokratisch organisierten Welt, wie im Buch angedeutet, gerade in den Sinn-, Wahrheits- und Moralressourcen der Religionen ansiedelt, könnte Anziehungskraft und Erfolg religiöser Bewegungen und Gemeinschaften mit ihren neu kontextualisierten Identitäten rational nachvollziehbar machen, sofern tatsächlich ein "postkolonial inspiriertes und gegen die westliche Moderne gerichtetes Verständnis von Emanzipation oder Befreiung" (S.9) gegeben ist.

So sind es vor allem die Pfingstkirchen und der islamische Fundamentalismus, die nach Ansicht des Stadtforschers Mike Davis die Lücke nach dem Niedergang sozialrevolutionärer und antikolonialer Bewegungen seit den 1970er Jahren mit religiösen Inhalten und Perspektiven füllen. Davis bezieht sich dabei auf die Säkularisierungsthese, die vorrangig von europäischen Soziologen und Religionsforschern wie Max Weber und Émile Durkheim entwickelt wurde. Ihr zufolge ist das religiöse Bekenntnis, im Zuge wissenschaftlich-technisches Fortschritts aus dem öffentlichen Raum verdrängt, zur Privatsache geworden.

Der von Davis vorgenommene universelle Übertrag dieser These auf den Rest der Welt, anhand dessen er in seiner Studie "Planet of Slums" eine Renaissance der Religion insbesondere in den informellen Siedlungen der postindustriellen Megastädte der Dritten Welt postuliert, wird im Buch kritisch aufgegriffen. Die Glaubensvorstellungen in den urbanen Kulturen Lateinamerikas, Afrikas und Asiens wären einer säkularen Zäsur im Sinne Europas nie unterworfen worden. Trotz aller Missionsversuche seien eigentümliche Formen gelebter Religion und Glaubensarchaik in den Ablagerungen der jeweiligen kulturellen Identität erhalten geblieben. Zudem wird bestritten, daß Religion per se synonym für Rückständigkeit und Abkehr von emanzipatorischer Politik sei. Als Gegenbeispiel wird die Theologie der Befreiung angeführt, die vor mehr als 40 Jahren von Lateinamerika aus die militanten Kämpfe städtischer sozialer Bewegungen um eine Verbesserung der Infrastruktur und Legalisierung von Armensiedlungen im Widerstand gegen die Militärdiktaturen unterstützte und dabei aus Sicht eines linken Katholizismus Kapitalismuskritik und religiöse Praxis gegen Unterdrückung, Ausbeutung und Entfremdung miteinander in Einklang brachte.

So spricht sich der Stadtforscher Klaus Teschner in seinem Beitrag "Struggle as a Sacrament" gegen die übliche Trennung von Religion und Politik aus. Westlichen Intellektuellen lastet er Ignoranz gegenüber den komplexen Lebensrealitäten der städtischen Armen in Afrika und Lateinamerika an, da sie den Kampf um Zugang zu bebaubarem Land und trinkbarem Wasser oft unter das Stigma einer angeblich von Aberglauben und kultureller Kleingeisterei geprägten Slumkultur subsumierten.

Statt dessen versteht er Religion als "gemeinschaftliche Denktradition mit transzendentalem Bezug" (S.89) und verortet sie in der Geschichte menschlicher Gesellschaften "als Fundament zur Festlegung ethischer Prinzipien für die Alltagspraxis und für Konfliktfälle" (S.90). Seiner Auffassung nach besteht der grundsätzliche Fehler darin, Denkmuster, Bilder und Wertungen, die aus dem Säkularisierungsprozeß der europäischen Sozial- und Ideengeschichte stammen, auf die synkretistischen Rituale anderer Kulturen und ihre Spiritualität zu übertragen. Allzu oft werde dabei vergessen, daß der Glaube an eine Transzendenz und die Adressierung an eine jenseitige Erlösungsgerechtigkeit ein nachkoloniales Erbe christlicher Eroberungszüge darstellen, aber zugleich nur einen Aspekt im konglomeraten Selbstverständnis der Bevölkerungen des globalen Südens repräsentieren.

Das verstärkte Aufkommen religiöser Standpunkte im öffentlichen Diskurs ließe sich hingegen als gesellschaftliche Zentrierung konservativer Werte in der Diskussion um aktuelle Themenbereiche wie Migration, Atomkraft, Gentechnik oder die Legitimität von Kriegen begreifen. So sind es laut Teschner gerade die afrikanisch initiierten Kirchen, die den Brückenschlag zu progressiven sozialen Bewegungen leisten, aber nicht notwendig im Zeichen einer Wiederbelebung des Religiösen als vielmehr in Emanzipation von den etablierten und konservativen Kirchen, die vornehmlich seelsorgerische Aufgaben für ihre lukrative Klientel der Mittel- und Oberschichten erfüllen.

Teschner belegt dies mit zwei Beispielen aus Afrika. So bekämpft das katholische KUTOKA-Netzwerk in Kenia in Zusammenarbeit mit zivilen Protestgruppen Pläne zur Kahlschlagsanierung einer Armensiedlung. Ähnlich verhält es sich mit der "Bewegung der Hüttenbewohner" aus Südafrika, die sich als siedlungsweite Vernetzung streng demokratisch aufgebauter Basisorganisationen versteht, Widerstand gegen Zwangsumsiedlungen und die Verdrängung der Armen an den Stadtrand leistet und dabei die Grenzen ethnischer Herkunft, des Geschlechts oder der Religionszugehörigkeit aufzulösen beansprucht.

Teschner kommt denn auch zu dem Schluß, daß Religion "kein Hemmnis für ein emanzipatives soziales Engagement" sein muß und oft "zur Überwindung ethnischer Konflikte sowie zur Vertrauensbildung auf lokaler Ebene" (S.105) beiträgt. Allerdings gibt er zu bedenken, daß gesellschaftliche Veränderungen im Sinne der urban poor "nicht im Kampf gegen ihre Religionen und ihre spirituellen Lebenswelten geführt werden" (S.106) können.

In die gleiche Richtung argumentiert der argentinische Soziologe und Anthropologe Pablo Semán. In seinem Beitrag über das Verhältnis der Evangelikalen und insbesondere der Pfingstkirchen im Großraum Buenos Aires zur kulturellen Matrix der unterprivilegierten Stadtbevölkerung widerspricht auch er der gängigen These, daß Armut und existentielle Verzweiflung primäre Triebfedern für das weltweit beobachtbare Anwachsen des Pfingstkirchentums darstellen. Vielmehr hebt er deren Fähigkeit hervor, die "präexistierenden kulturellen Grundlagen" (S.44) einer Gesellschaft in ihrem Sinne zu mobilisieren und zu kombinieren. Der einheimischen Bevölkerung, die die Welt über Symbole wahrnimmt und darüber ihre Spiritualität praktiziert, losgelöst von Privileg, Motivation und Schichtzugehörigkeit genau das zu geben, wonach sie verlangt, ist Semán zufolge das Erfolgskonzept der Pfingstkirchen.

Im Zentrum stehe dabei die Doktrin von der Erfahrbarkeit der göttlichen Intervention im Alltag und der Kraft der persönlichen Begegnung mit dem Heiligen Geist. Gerade das Fehlen starrer klerikaler Strukturen habe es den Pfingstkirchlern ermöglicht, die "Kernelemente der von verschiedenen sozialen Gruppen praktizierten Religiösität mit ihrer eigenen Doktrin zusammenzubringen" (S.47). Dabei gestatte der hohe subjektive Erfahrungswert und die aufs Individuum rückgekoppelte Konventionalisierung religiöser Inhalte den Pfingstkirchen mehr als jeder anderen christlichen Strömung, die volkstümliche Sakralität vor allem der lateinamerikanischen Kulturen mit ihrem starken Alltagsbezug zu übernatürlichen Kräften und Instanzen mit dem Kerngedanken der pfingstkirchlichen Lehre vom Heiligen Geist in Übereinstimmung zu bringen.

Die Anthropologin Patricia Birman untersucht in ihrem Beitrag "Spiritueller Krieg und staatliche Gewalt" den Bedeutungswandel in den kulturellen und sozialen Identitäten der Favelas. Sie kommt dabei zu dem Ergebnis, daß der Aufstieg der Evangelikalen, nachdem sie bis gegen Ende des 20. Jahrhunderts nur geringen gesellschaftlichen Einfluß ausübten, vor allem mit einem Strategiewechsel einherging, demzufolge die Lebenswirklichkeiten der Armutsbevölkerung stärker in die rituellen Praktiken integriert wurden. Durch die Instrumentalisierung von Situationen der sozialen Stigmatisierung, der Gewalt und des Todes, "die an den innerstädtischen Rändern der Staatsgewalt alltäglich sind" (S.187), sei es den pfingstkirchlichen Pastoren gelungen, insbesondere die Mütter der von Bandenkriminalität und Polizeiwillkür bedrohten jungen Bewohner der Favelas verstärkt in die Missionsarbeit einzubinden.

Enrique Dussel gilt als Begründer der Philosophie der Befreiung, "die zunächst die Aufklärung und dann noch den Marxismus und auch die Demokratie assimiliert hat und daraus eine andere Art von Christentum entwickelte" (S.26/27). Ihm zufolge sei es die Befreiungstheologie gewesen, die aufgezeigt habe, wie man an die indigenen Kulturtraditionen anknüpfen und zugleich revolutionär sein könne. Wirklichkeitsrelevante Veränderungen im Sinne einer politischen Transformation seien niemals gegen die religiöse Vorstellungswelt der Menschen durchsetzbar, so Dussel.

In dem Interview, das Anne Huffschmid führte, erklärt er den Aufstieg der Evangelikalen in Lateinamerika und den Sturz der Befreiungstheologie ins Bedeutungslose damit, daß ihr ausgerechnet der Vatikan in den Rücken gefallen sei und Priester und Bischöfe eingesetzt habe, die keinerlei Verbindung mehr zur Bevölkerung besaßen. Die Evangelikalen indes verschwendeten Zeit und Fähigkeiten damit, trotz der Zivilisationskrise "noch tiefer in die bestehenden Strukturen hineinzugehen, jetzt aber mit mehr Disziplin und mit ein bisschen mehr Freude, um bessere Arbeiter in einer Fabrik zu sein oder besser im System mitspielen zu können" (S.32). Ungeachtet der desaströsen Weltlage und obschon die Pfingstkirchen in Verkennung des geschichtsträchtigen Charakters der Krise und ihrer Überwindung das Erbe der Befreiungstheologie verschleuderten, setzt Dussel nach wie vor auf den Konsens der Unterdrückten. Eine wirkmächtige Befreiung könne nur von jenen ausgehen, die ihre kreatürliche Ausweglosigkeit in allen Belangen ziviler Existenz begreifen und aus der menschlichen Protest- und Widerstandsgeschichte die letztgültige Konsequenz ziehen.

Dennoch bedürfe es der Lehrer und Vorbilder unter den Lebenden wie Toten, um die Schritte weiterzudenken, die beispielsweise mit der Marxschen Beschreibung der ökonomischen Kategorien nicht über die Kinderstube der Kritik hinausgewachsen seien, so Dussel. Für die Wirklichkeit der Welt und ihrer radikalen Veränderung sei es unterdessen unerheblich, ob man Befreiungstheologe, Katholik, Lutheraner, Methodist oder welcher Glaubensrichtung auch immer angehöre. In der Ausformung einer Theologie fänden sich alle im selben Haus der unbewältigten Fragen und Probleme ein.

Der Römischen Kirche hingegen lastet Dussel an, sich in theologische Sackgassen verrannt zu haben. Seiner Ansicht nach befindet sich die Kirche "in einer Phase der Dekadenz, da sie vom Vatikan in Besitz genommen wurde" (S.34/35). Nicht die sich überlebte prophetische, sondern eine politische Kirche, um sich für das zu öffnen, was nach der radikalen Transformation der modernen kapitalistischen Gesellschaft kommen werde, sei das Erfordernis der Zeit. Allerdings versteht sich Dussel explizit als Antipode zu intellektuellen Vordenkern wie Antonio Negri, Michael Hardt und John Holloway, wenn er fragt: "Warum sollte es nicht möglich sein, den Staat als Konstrukteur von Gottes Reich auf Erden zu denken?" (S.39) Im Sinne dieses stromlinienförmigen Denkens ist es folgerichtig, wenn Dussel die Entwicklung einer Theologie anmahnt, die nicht nur Kritik, sondern auch das Regieren ermöglicht.

Der iranische Soziologe Asef Bayet wendet sich in seinem Beitrag "Der Mythos der 'islamistischen Armen'" vehement gegen die stigmatisierende Sicht, Islamisten und städtische Armutsbevölkerung hätten sich aus strategischen Gründen miteinander verbündet. Historisch betrachtet sei der Islamismus vielmehr "eine Form der Selbstbehauptung insbesondere der Teile der aufstiegsorientierten Mittelschicht, die sich von der herrschenden Wirtschaft, Politik oder Kultur in den jeweiligen Gesellschaften marginalisiert und benachteiligt fühlten" (S.67). So wurde die Islamische Revolution im Iran im wesentlichen von der städtischen Bourgeoisie, von Studierenden, Regierungsangestellten, Händlern, Geschäftsinhabern und Industriearbeitern getragen. Sie habe sich als Ausdruck ihrer immanenten Frustations- und Enttäuschungserlebnisse gegen nationale Eliten, säkulare Regierungen und westliche Bündnispartner gerichtet, während der Einfluß islamischer Organisationen gerade zu Beginn der Sozialrevolte gegen das Schahregime verschwindend gering gewesen sei. Daß die Armenviertel im Zuge der nachrevolutionären Wirren als Rekrutierungsmilieu und soziale Basis für den an die Macht gelangten Klerus, der sich mit allen Mitteln gegen die liberalen Kräfte, die Reste des alten Regimes und vor allem marxistische Organisationen und kommunistische Parteien durchsetzte, an Bedeutung gewannen, war einzig dem Bemühen um die Konsolidierung ihrer Herrschaft geschuldet.

Als klerikale Alternative zu sozialistischen oder kapitalistischen Entwicklungsmodellen übte die Utopie einer islamischen Zivilgesellschaft eine gewisse Zugkraft auch auf die städtischen Armen aus, wobei der Pragmatismus der Subalternen zumindest kurzfristig in der nachrevolutionären Umbruchphase Nutzen aus der Konkurrenz zwischen dem regierenden Klerus und der politischen Linken ziehen konnte. Mit der Machtergreifung Ayatollah Khomeinis wurde das Verfallsdatum dieser temporären und provisorischen Allianz schließlich überschritten. Diese politische und ideologische Distanz zu den Armen unterscheidet den militanten Islamismus laut Bayet von der lateinamerikanischen Befreiungstheologie, die eine organischere Beziehung zu den unterprivilegierten Schichten entwickelt habe.

Aus seinen Untersuchungen zu den Entwicklungen in Ägypten und im Iran in den 80er und 90er Jahren kommt Bayet denn auch zu dem Schluß: "Weder haben radikale islamische Strömungen ein echtes politisches oder moralisches Interesse an den städtischen Armen gezeigt, noch haben die Slumbewohner/innen ein klares ideologisches Bekenntnis zum militanten Islamismus abgelegt." (S.68/69) Daß sich die ideologische Synthese von Gewalt und Armut im Habitus der sozial Marginalisierten so hartnäckig halte, habe damit zu tun, daß das in den Sozialwissenschaften für die afroamerikanischen innerstädtischen Ghettos mit ihrer hohen Kriminalitäts- und Gewaltrate entwickelte Slum-Konzept unreflektiert auf islamische Gesellschaften und deren zivile Entwicklungsprozesse übertragen werde. Diesem Erklärungskonstrukt zufolge sei die Gewalt Folge massenhaft verbreiteter Erwerbslosigkeit und zerrütteter Familienstrukturen, sogenannter Quartierseffekte, die die Armen von den Angeboten sozialer Lebensentfaltung und wertorientierter Normen abkoppele.

Bayet hingegen legt den Finger in die Wunde einer wissenschaftlichen Herangehensweise, in der sich das Interesse an der Regulation gesellschaftlicher Widersprüche unterhalb der Schwelle systemischer Veränderung Bahn bricht. Nicht primär die prekären Lebensverhältnisse der sozial Entwurzelten, als vielmehr die interessenbezogene Ambivalenz in den Modellen der Sozialwissenschaften zum Verständnis der vielfältigen Beziehungen sozialer Interaktivität in den urbanen Räumen trügen zum Interpretationsmuster einer im Sinne vorherrschender Leistungsethik unzureichenden Integration der Armen und daraus resultierend zu ihren anomischen Verhaltenweisen wie dem der latenten Gewaltbereitschaft bei.

Vor allem die Überdeterminierung der Kultur der städtischen Armen zur ursächlichen Gewaltbegründung und als Herleitung für die Unterstellung einer besonderen Anfälligkeit gegenüber islamistischen Parolen sei von stigmatisierendem Charakter, der auf eine moralische Abwertung aller Individuen im Umfeld informeller Lebenszusammenhänge hinausläuft. So besteht denn auch das übereinstimmende Merkmal vieler soziologischer Milieustudien darin, daß die Gewalt von den sie begründenden Verhältnissen der marktwirtschaftlicher Konkurrenz abstrahiert und einseitig zu Lasten der Armen adressiert wird. Im gesamtgesellschaftlichen Kontext wird Gewalt stets auf seinen verhandelbaren und damit justitiablen Anteil zurückgebrochen, der formal in Verstößen gegen die Normierung der jeweiligen Eigentumsordnung zum Ausdruck kommt.


Zwar verzeichnen die großen konfessionellen Kirchen des christlichen Bekenntnisses seit geraumer Zeit mehr Austritte als Taufen, ein Trend, der durch das Bekanntwerden zahlreicher Mißbrauchsfälle, begangen von Kirchenleuten an schutzbefohlenen Kindern und Jugendlichen, noch verstärkt wurde. Gleichzeitig treten in den letzten Jahren in den westlichen Industriestaaten wie im laizistischen Frankreich, den liberalen Niederlanden, aber vor allem in den USA vermehrt Proteste fundamentalistischer Bewegungen auf, die sich vornehmlich gegen sogenannte Abtreibungsärzte, die Liberalisierung gleichgeschlechtlicher Ehen oder die filmisch freizügige bis provokante Inszenierung christlicher Symbole und Heilsinhalte richten. Selbst in einem atheistischen Kernland wie Tschechien bekennen sich immer mehr Jugendliche zum christlich konservativen Wertekodex und geben sich in religiösen Massenveranstaltungen den Verheißungen missionierender Erweckungsprediger hin.

Der angebliche Sieg kapitalistischer Gesellschaften über die realsozialistische Staatenwelt hat zu einer allgemeinen Diskreditierung sozialemanzipatorischer Bewegungen geführt, selbst wenn diese in keiner Weise mit deren staatsautoritärer Konzeption konform gehen. Wer einem zum kompensatorischen Selbstzweck geronnenen Konsumismus nichts abgewinnen kann, wem die massenmediale Verführung zu abgeschmackt, die berufliche Karriere eine Falle sich endlos wiederholender Routinen und menschlicher Kontakt kein informationstechnischer Schaltvorgang ist, der sucht das originär und genuin Humane immer häufiger im Glauben. Einer der großen Erfolge antikommunistischer Indoktrination besteht darin, daß der Kampf um Befreiung von vielen Heranwachsenden in den westlichen Metropolengesellschaften nicht mehr als aktives Aufbegehren gegen herrschende Verhältnisse verstanden, sondern zugunsten der erlebnisgesättigten Subjektivität, die das emphatische Aufgehen in einer in dieser Welt wie jenseits von ihr stets mit dem herrschenden Wertekosmos kompatiblen Ordnung stimuliert, aufgegeben wird.

Die im Buch angeführten Beispiele dafür, daß von Religionen welcher messianischen Provenienz auch immer keine Gefahr für soziale Emanzipationsbestrebungen ausgehe, wirken bei zu großer Nähe zum postmodernen Leviathan wenig glaubwürdig. Wo Religion staatszentriert operiert, ist sie ein Herrschaftsmittel der Wahl und wird, wie etwa die Entwicklung in Ägypten zeigt, zur Befriedung ansonsten sozialrevolutionär zu überwindender Widersprüche vereinnahmt. Gerät die Rückbesinnung auf konservative Werte zu sehr in Widerspruch mit übergeordneten Modernisierungsprozessen, dann lassen sich neue Legalismen administrativer Gewalt finden, mit denen sich das angestrebte Transformationsziel doch noch erreichen läßt.

Der global prayer ist kein Kind der Zukunft, sondern ein Wächter der Vergangenheit, der das soziale Aufbegehren in eine für Herrschaftsinteressen letztlich ungefährliche Richtung lenkt. So haben sich die in angeblich unumkehrbare historische Entwicklungslogik gebannten Metropolen als individualistisch atomisierte und informationstechnisch prozessierte Arbeitsgesellschaften längst ihrer sozialen Basis entfremdet. Als Taufpatin der säkularen Zivilgesellschaft befriedet die Religion das aus den Rissen und Verwerfungen zwischen kapitalistischer Vergesellschaftung und humaner Emanzipation erwachsende Streitpotential mit Antworten und Hoffnungen, deren Schein nicht erfüllt, was der ihn webende Faden zu halten verspricht.

Das Vorhaben der Menschwerdung bedarf der religiösen Mystifikation nicht, ist das in gegenständlichen Widersprüchen Ungeborene doch ein materialistisches, mit Händen und Füßen greifbares Ansinnen. Als Domäne sie verwaltender Kleriker verkommt Spiritualität zum Elixier der Herrschaft, als kreatürliche, keiner Institution und Ideologie bedürfendes Anliegen kann sie Grenzen überschreiten.

metroZones (Hg.)

Urban Prayers

Neue religiöse Bewegungen in der globalen Stadt

Reihe metroZones Bd. 10

Verlag Assoziation A, Berlin/Hamburg 2011

280 Seiten, 20,00 Euro

ISBN 978-3-935936-78-1


2. Februar 2012