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REZENSION/617: David Cronin - Corporate Europe (EU-Politik) (SB)


David Cronin


Corporate Europe

How Big Business Sets Policies on Food, Climate and War



Während im Dezember 2013 in Kiew Zehntausende Menschen für eine engere Anbindung ihres Landes an die Europäische Union demonstrierten, gingen in Spanien, Portugal, Italien und Griechenland ebenfalls in großer Zahl Bürger auf die Straße, um gegen die brutale Haushaltskonsolidierungspolitik zu protestieren, die ihre Regierungen in Absprache mit der "Troika" aus Internationalem Währungsfonds, Europäischer Kommission (EK) und Europäischer Zentralbank (EZB) durchführten. Sollte es den Ukrainern jemals gelingen, sich aus der Umarmung mit dem slawischen Bruderstaat Rußland zu befreien, um sich Westeuropa zuzuwenden, werden sie aller Voraussicht nach feststellen, daß sie vom Regen in die Traufe gekommen sind. Schließlich ist kaum zu erwarten, daß die Verantwortlichen in Brüssel und Frankfurt eine andere Antwort auf die Probleme der überschuldeten Ukraine mit ihrer veralteten Kohle- und Stahlindustrie präsentieren werden als Privatisierung, Marktöffnung und Stellenabbau im öffentlichen Dienst.

In den 28 Mitgliedsstaaten der EU hat die rabiate Durchführung jener von den "Märkten" diktierten Maßnahmen zur angeblichen Bewältigung der Finanz- und Wirtschaftskrise die Augen der Bevölkerung geöffnet hinsichtlich des wahren Wesens "Europas" und dessen "Werten". Verband man früher das europäische "Projekt" mit Frieden, Reisefreiheit, Handelserleichterungen und interkulturellem Austausch, so sind es heute Massenarbeitslosigkeit, Bankenrettung, Militarisierung, die Zwangseinsetzung von Technokratenregierungen und der schleichende Abbau demokratischer Mitwirkung, die das Bild der EU in der öffentlichen Wahrnehmung prägen. All diese Negativphänomene weisen darauf hin, daß die EU zum reinem Vehikel der Förderung großer Kapitalinteressen verkommen ist. Möglicherweise war sie niemals etwas anderes, nur daß man es lange Zeit nicht wahrhaben wollte.

In seinem neuen Buch "Corporate Europe - How Big Business Sets Policies on Food, Climate and War" setzt sich David Cronin kritisch mit dem Europa der Konzerne auseinander. Im Brüsseler Wirrwarr der verschiedenen EU-Institutionen und Denkfabriken, diverser Politiker, Beamten sowie rund 20.000 Lobbyisten kennt sich der irische Journalist recht gut aus. Cronin lebt seit Jahren in der belgischen Hauptstadt. Fünf Jahre lang arbeitete er dort für die European Voice, eine englisch-sprachige Abonnement-Wochenzeitung - Auflage 20.000 -, die von der Verlagsgruppe um das britische Wirtschaftsmagazin Economist, das Sprachrohr der Globalisierung schlechthin, herausgegeben wird und sich mit dem Treiben der EU-Entscheidungsträger befaßt und sich gleichzeitig an sie richtet.

Statt weiterhin wohlwollende PR-Stücke über die EU und die mit ihr kooperierenden Konzerne zu verfassen, machte sich Cronin 2006 zum freien Journalisten, der das Politgeschäft in Brüssel skeptisch begleitet. Seitdem sind seine aufschlußreichen Artikel unter anderem im Guardian, bei der Irish Times, im Wall Street Journal Europe, der Irish Left Review, der Nachrichtenagentur Inter Press Service, der linken US-Zeitschrift Counterpunch, der Electronic Intifada und der Website EUobserver erschienen.

Cronin versteht sich jedoch nicht nur als Reporter, sondern auch als politischer Aktivist. Dies bekam Tony Blair im März 2010 zu spüren, als Cronin den ehemaligen Premierminister Großbritanniens unter Berufung auf das Jedermann-Recht bei einem Auftritt vor dem EU-Parlament in Brüssel wegen Verbrechen in Verbindung mit dem angloamerikanischen Einmarsch 2003 in den Irak festzunehmen versuchte. Die spektakuläre Aktion blieb für Blair zunächst folgenlos; Cronin wurde vom EU-Sicherheitspersonal auf ruppige Art aus dem Gebäude hinauskomplimentiert. Dennoch trug sie dazu bei, die Frage nach der Rechtmäßigkeit des von Blair und George W. Bush forcierten, gewaltsamen "Regimewechsels" in Bagdad samt Sturz Saddam Husseins am Leben zu erhalten. Ebenfalls 2010 erschien Cronins erstes Buch "Europe's Alliance With Israel - Aiding the Occupation" über das ganze Ausmaß der Unterstützung der EU und der europäischen Großmächte für den jüdischen Staat.

In den sieben Kapiteln seines neuen Buches untersucht Cronin, wie in Brüssel eine unheilige Allianz zwischen Großkapital und EU-Bürokratie Europa gemäß der neoliberalen Ökonomielehre zugunsten der Reichen und zuungunsten der einfachen Menschen umgestaltet. Unter "Wrecking the Welfare State" wird der Angriff auf den Wohlfahrtsstaat nachgezeichnet. "Bombarded by the bankers" behandelt den Umverteilungsprozeß von unten nach oben infolge der Austeritätspolitik und der damit einhergehenden Sparzwänge bei den öffentlichen Ausgaben. In "War is good for business" wird die Aufrüstung der EU zur global agierenden Weltmacht beleuchtet, was Cronin als "Nachäffen" der USA bezeichnet. In "How we live and diet" erfährt man unappetitliche Einzelheiten darüber, wie Globalkonzerne wie Monsanto, Diageo und Nestlé mit Blick auf die eigenen Gewinnmargen und ohne Rücksicht auf die Gesundheit der Verbraucher ihren Einfluß auf die EU-Lebensmittelgesetzgebung geltend machen. Bei "Smoke and mirrors" kommt die unermüdliche Lobbyarbeit der Tabakindustrie unter die Lupe, unter "Cheating on climate" werden die halbherzigen Bemühungen der EU, dem Klimawandel zu begegnen bzw. die schlimmsten Auswirkungen davon abzufedern, als zwangsläufige Folge der Rücksichtnahme auf die großen Energie- und Chemieunternehmen erläutert. Zu guter Letzt untersucht Cronin unter "The malign legacy of Peter Mandelson" den neokolonialistischen Ansatz, der die verschiedenen Handelsverträge der EU mit anderen Staaten und Wirtschaftsblöcken auszeichnet. Gerade das siebte Kapitel ist von höchster Aktualität, verhandeln gerade die EU, die USA und Kanada unter dem Namen Transatlantic Trade & Investment Partnership (TTIP) über die Schaffung einer riesigen Freihandelszone, in der künftig Unternehmen vor einem Geheimgericht gegen Nationalgesetze im Bereich Umweltschutz, Lebensmittelstandards, Medikamentenpreise u. v. m. klagen und sich vermutlich der Auflagen werden entledigen können.

Viele Menschen finden sich in der EU-Politik aufgrund der Kompliziertheit des institutionellen Aufbaus, der zahlreichen Sprachen und des niedrigen Bekanntheitsgrades des Brüsseler Politpersonals nicht zurecht und wenden sich deshalb von ihr ab. Das ist bedauerlich, denn die EU wird immer mächtiger und bedarf der vollen Aufmerksamkeit der europäischen Bürger. Mit seinem unterhaltsamen Schreibstil, bei dem der trockene Humor nicht zu kurz kommt, verschafft Cronin dem Leser einen weitgehenden Einblick in die wichtigsten Entwicklungen der EU der letzten Jahre und macht eine ganze Menge wichtiger Informationen verdaulich. So erfährt man zum Beispiel, daß das 2003 von der EU beschlossene System des Emissionshandels zur Reduzierung des Ausstoßes an Treibhausgasen auf ein Modell zurückgeht, das bereits seit 1999 firmenintern vom Ölmulti BP praktiziert wurde. Mit "Corporate Europe" hat David Cronin ein Buch geschrieben, für das auch der Titel "Was Sie schon immer über die EU wissen wollten, aber bisher nicht zu fragen wagten" gepaßt hätte. Die Anspielung auf einen ähnlich klingenden Filmklamauk Woody Allens ist keineswegs abfällig gemeint, denn ein besseres Buch über die EU - nicht nur für Einsteiger - dürfte man dieser Tage kaum finden.

19. Dezember 2013


David Cronin
Corporate Europe - How Big Business Sets Policies on Food, Climate and
War
Pluto Press, London, 2013
204 Seiten
ISBN: 978-0-7453-3332-8