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REZENSION/628: P.M. - Kartoffeln und Computer (Politik) (SB)


P.M.


Kartoffeln und Computer

Märkte durch Gemeinschaften ersetzen



Der 1947 geborene Schweizer Autor und Philologe Hans Widmer war Außenstehenden bis zu seiner Pensionierung als Gymnasiallehrer vor zwei Jahren nur unter dem Pseudonym P.M. bekannt. Dieses geht auf seinen ersten Roman "Weltgeist Superstar" (1980) zurück und bezieht sich auf die damals häufigsten Initialen im Telefonbuch (Peter/Paul Meier/Müller). 1983 erschien seine anarchistische und antikapitalistische soziale Utopie "bolo'bolo", in der er zum Zusammenschluß gegen die "Planetare Arbeits-Maschine" aufruft und den Entwurf einer konkreten Wohn- und Lebensalternative vorlegt. Es folgte eine ganze Reihe von Romanen, Spielen und Sachbüchern, die sich meist mit entsprechenden Themen beschäftigen, darunter "Die Schrecken des Jahres 1000" (1996), "Subcoma" (2000), "AKIBA" (2008), "Neustart Schweiz" (2009) [1] und "Manetti lesen oder Vom guten Leben" (Edition Nautilus 2012) [2].

Seit jeher widmet er sich als Autor und Aktivist urbanistischen Themen. Er zog 1967 vom Thurgau ins Zürcher Arbeiterquartier Kreis 5, um an der Universität zu studieren. Nach den Opernhaus-Krawallen gehörte er zu den ersten Hausbesetzern der Stadt. Es drängte ihn, seine soziale Utopie auch konkret umzusetzen, und so gehörte er 1993 zu den Gründern des Vereins KraftWerk1. Während seine gleichnamige Schrift bald Beachtung in den Medien fand, stieß das Projekt, auf ehemaligen Industriearealen genossenschaftliche Wohnmodelle zu errichten, bei Politik und Immobilienbranche lange auf taube Ohren. 2001 gelang es schließlich, ein Grundstück mit drei Häuserblöcken zu erwerben, in denen heute 280 Menschen leben und Arbeitsplätze für Kleingewerbler vorhanden sind.

KraftWerk1, das als modellhaft für ökosoziale Stadtkommunen gilt, ist nicht die einzige Zürcher Siedlung, bei deren Konzeption "bolo'bolo" mehr oder weniger stark als Vorbild diente. Ähnlich funktionieren die Genossenschaften Karthago, Dreieck oder Kalkbreite. Das KraftWerk1 hat inzwischen expandiert, und in zwei Jahren soll ein doppelt so großer Ableger eröffnet werden. Wie Wegbegleiter und Mitstreiter hervorheben, habe P.M. die Zürcher Wohnbaudebatte seit den 1980er Jahren mitgeprägt.

Widmer, der mit seiner Partnerin in einer Vierzimmerwohnung der Genossenschaft KraftWerk1 lebt, stieß mit seinem Versuch, neue Ideen in dieses Projekt einzubringen, nicht immer auf Zustimmung. Viele Bewohner haben sich eingerichtet und streben keine Weiterentwicklung des Zusammenlebens an. Es gibt Arbeitsplätze für 50 Leute, hauptsächlich im Bereich Forschung und Architektur, nicht jedoch im Handwerk. Man müsse aufpassen, nicht in die Avantgarde-Falle zu tappen, und mache nur so viel, wie dies auch normale Leute tun, so Widmer [3]. Der als Zündfunke einer Sozialutopie konzipierte Entwurf, so scheint es, hat das nasse Pulver der herrschenden Verhältnisse nicht zur Explosion gebracht.

Das 2012 in der Reihe der Nautilus Flugschriften erschienene Buch "Kartoffeln und Computer" faßt unter Einbeziehung der Occupy-Bewegung in knapper Form noch einmal die Kernaussagen vorangegangener Überlegungen des Autors zusammen. Bei seiner Leitidee, auf dem Wege der "Commons", also Gemeingüter, das schrittweise Ende des Kapitalismus einzuläuten, geht P.M. von der weithin kolportierten Fehlannahme aus, daß genügend Ressourcen für alle auf dem Planeten vorhanden seien. Es komme auf ein umweltverträgliches System der sozial gerechten Verteilung an, das Genossenschaften durch eine gemeinschaftliche Nutzung von Dienstleistungen, kreative und kooperative Initiativen und eine angegliederte Landwirtschaft besser leisten könnten. Gemeinsamer Wohlstand werde in Zukunft zweierlei bedeuten: Zugang zu Land und Zugang zu Wissen - im Grunde gehe es also um Kartoffeln und Computer.

Die These des Autors, daß die Marktwirtschaft am Ende sei und selbst konservative Ökonomen nur noch eine schonende Abwicklung des Kapitalismus im Auge hätten, ignoriert dessen Fähigkeit, innovative Verwertungsmöglichkeiten zu erschließen. P.M. räumt zwar ein, daß nicht einfach eine Alternative an die Stelle des überlebten Systems treten könne, hält aber einen Wandel im Sinne eines integrativen demokratischen Prozesses für möglich, der ohne gewaltsame Konflikte auskommt. Man müsse eben auch den der "alten Welt" Verhafteten klarmachen, daß ihr Leben ohne Wachstum, Profitzwang und oligarchische Erpressung sicherer und glücklicher werde (S. 8).

In dieser Ausblendung fundamentaler gesellschaftlicher Widersprüche bricht sich die poststrukturalistische Leugnung identifizierbarer Herrschaftsinteressen Bahn, die ideologisch durch ein abstraktes und allumfassendes System ersetzt werden. Wenngleich die Kritik der "Planetaren Arbeits-Maschine" zahlreiche Aspekte der Arbeitsgesellschaft anschaulich illustriert, wird ihr doch ein eigenständiges Regime angedichtet, dem letztlich alle Akteure unterworfen seien. So geht die vorgebliche Metakritik sämtlicher zeitgenössischer Gesellschaftsentwürfe nahtlos in das regressive Postulat über, die zu schaffende "andere Welt" läge im Interesse aller, weshalb ein auf Einsicht gegründeter reibungsarmer Übergang möglich sei.

An die Stelle der vermiedenen Konfrontation mit dem konkreten Gegner und folglich auch der Bemächtigung in diesem Streit, tritt eine Nivellierung und Gleichsetzung unterschiedlicher historischer Gesellschaftsordnungen. Eine der zentralen Überlegungen in dem Werk "bolo'bolo" war denn auch, daß die Deindustrialisierung auf der Nordhemisphäre einen Rostgürtel aus verlassenen Industriebrachen hinterlassen hat. Dieses Erbe könne wieder urbanisiert werden, indem alternative Lebensformen diese Räume in Besitz nähmen und als Basis für eine Zivilisation jenseits der Arbeitsgesellschaft, jenseits der beiden Blöcke Kapitalismus und Sozialismus, nutzten.

Wie aus dem Hausbesetzer der Käufer von Wohnraum geworden ist, kehrt auch der Begriff "Inbesitznahme" in den Schoß unangefochtener Eigentumsverhältnisse zurück. Daher macht die postulierte Wende von unten, die immer mehr Lebensräume nach ihren Vorstellungen gestalten und so deren Funktionsfähigkeit und Überlegenheit unter Beweis stellen soll, bis das überkommene System obsolet wird, die Rechnung ohne die realen Gewaltverhältnisse.

Die vorgetragene Argumentationskette, wie auf Grundlage kleiner und überschaubarer Nachbarschaften die größeren Stadtteile und Kleinstädte zu organisieren seien, denen wiederum die demokratische Gestaltung der Großstädte und Regionen folgen soll, bis schließlich ein Patchwork von Territorien die Großnationen ersetzt, krankt denn auch an Auslassungen, Brüchen und Sprüngen. Während der Autor zunächst betont, daß die Commons als bewußt gegründete Gemeinschaften mit bestimmten unverzichtbaren Regeln verstanden werden müßten (S. 10), erklärt er wenige Seiten später, daß die Gesamtbevölkerung des Planeten eine kooperative Gemeinschaft sei, weil einfach alle dazugehörten (S. 12).

Die komplexe planetarische Wirtschaftsmaschine produziert letztendlich alle Güter, die wir zu Hause und in der Nachbarschaft verwenden. Sobald wir unseren alltäglichen Lebenswandel neu ausrichten, so dass wir ökologische und seelische Grenzen berücksichtigen (gesunde Biosphäre und Zufriedenheit), ergibt sich der Rest von selbst.
(S. 13)

Die wahlweise Bezugnahme auf eine weltumspannende "Wirtschaftsmaschine" als Feindbild auf der einen und Quelle aller benötigten Ressourcen auf der anderen Seite zeugt von einer Beliebigkeit der Argumente, die zwischen der Abkehr vom System und dessen Inanspruchnahme hin- und herspringt. Nur so läßt sich die Behauptung konstruieren, daß die Möglichkeit des "guten Lebens" für alle fast ein Selbstgänger sei, sobald man vielfältige und interaktive Nachbarschaften organisiere, die einen "hedonistischen Ausstieg aus dem Konsumismus" praktizierten (S. 14).

Von tendenzieller Selbstversorgung, nachhaltigem Ressourcengebrauch und Klimagerechtigkeit über kollektive Suffizienz und flexible Arbeitsteilung bis hin zu Relokalisierung, technischer Innovation und globaler Planung wie auch nicht zuletzt einer allgemein zugänglichen kreativen Sphäre führt der Autor die gesammelten Überlegungen aus gut dreißig Jahren an, wie eine wachstumsfreie Gesellschaft ohne Einbußen an Lebensqualität herbeizuführen sei:

Das Ersetzen der Märkte durch Gemeinschaften verschiedenster Funktion und verschiedenster territorialer Zugehörigkeit führt zu einer reinen Bedarfsproduktion, die keinen Kalkulationen von Preisen, Profiten und Renditen mehr untergeordnet ist. Was garantiert werden muss, ist lediglich das nachhaltige materielle Funktionieren dieses Systems: Es darf weder die Natur ruiniert noch dürfen die Menschen ausgebeutet werden. Es geht um eine nachhaltige Logistik.
(S. 50)

Wie der Verweis auf die Logistik zeigt, verortet der Autor in einer effektiveren Planung, bedarfsgerechten Versorgung und minimierten Verschwendung den Weg in eine nachhaltige Ökonomie. Warum das aber den Tausch, die Ware und die Märkte überwinden soll, erschließt sich dem Leser nicht. Wenn beispielsweise von einer betriebswirtschaftlichen Analyse die Rede ist, mit deren Hilfe die in den Gemeinschaften zu leistenden Sozialzeiten definiert und bemessen werden, später aber lokale Synergien und Gewöhnung eine Demonetarisierung und "reine De-facto-Ökonomie" (S. 46) herbeiführten, mutet das eher wie ein Wunschdenken und Jonglieren mit Begriffen, als ein nachvollziehbarer Entwurf des postulierten Übergangs an.

Einmal angenommen, es regte sich auf dem vorgeschlagenen Weg tatsächlich eine vielfältige Basisbewegung, die das Fundament der bestehenden Ordnung zu untergraben drohte, würde deren repressive Reaktion, ihren Bestand zu sichern, nicht ausbleiben. Wie der Autor anerkennt, sei es unvorstellbar, daß umfassende postkapitalistische Strukturen mit einer virulent kapitalistischen Großmacht wie den Vereinigten Staaten koexistieren könnten (S. 56). Folglich solle ein neuer Gesellschaftsvertrag jenseits von Wachstumsideologien sinnvollerweise in den USA seinen Anfang nehmen. Wenngleich Barack Obamas Green New Deal eine Mogelpackung sei, müsse man daraus eben einen tatsächlich partizipativen Prozeß machen:

Ein Green New Deal brächte den Staat, die Unternehmen und die Gewerkschaften an einen Tisch. Im Mittelpunkt des Deals stünde die ökologische und soziale Wiederherstellung der Vereinigten Staaten, also ein Umbau, der zu Commons, wie ich sie oben beschrieben habe, führt. Im Prinzip würden die Investitionen weg vom privaten Konsum zu Formen des kollektiven Konsums gelenkt - damit würde zumindest kurzfristig der normale Wirtschaftskreislauf nicht gestört.
(S. 58)

Dieser Zirkelschluß, daß man die herrschende Ordnung nicht stören dürfe, wenn man sie ändern wolle, wird wenig später noch expliziter formuliert:

Daher muss das Programm des Green New Deal die Form eines Kompromisses zwischen den Klassen annehmen: (kleine) Profite werden gemacht, anständige Löhne werden verdient, ein Green-Business-Kreislauf wird konstruiert. Es ist klar, dass wir (Arbeitnehmer, Landwirte usw.) die Kosten tragen, aber auf die Großzügigkeit der alten Oligarchen zu hoffen, wäre illusorisch. (...)
Der Green New Deal ist ein implizites Friedensangebot. Gesetze werden beachtet, und es gibt keine Enteignungen, es werden Äquivalente getauscht. Eigentum wird respektiert, solange es sich nicht selbst aufhebt (wie es in der gegenwärtigen Finanzkrise passiert).
(S. 62)

Warum sollten die "alten Oligarchen" freiwillig bereit sein, solche Zugeständnisse zu Lasten ihrer Profite zu machen oder gar schließlich "als ganz normale Menschen in die Bevölkerung absorbiert (zu) werden und glücklich (zu) leben bis ans Ende ihrer Tage" (S. 63)? Heftige Bürgerbewegungen müßten dafür sorgen, daß sie den Eindruck bekämen, daß sich das Alte nicht mehr lohnt und das Neue eigentlich gar nicht so schlimm aussieht. Die derzeitige Provokation der Lohnsenkungen und Rentenkürzungen könnte bald in sich zusammenfallen, wenn dem Kapitalismus die Leute davonliefen (S. 64).

Das alte Lied des Klassenkompromisses, der eine gerechtere Verteilung verspricht, um substantiellem Aufbegehren gegen das Verwertungsregime den Boden zu entziehen, so daß die nächsthöhere Stufe der Verfügung und Ausbeutung bruchlos greifen kann, wird hier mit einer neuen Strophe gesungen:

Solch ein kultureller Pluralismus wird unsere Überlebenschancen drastisch erhöhen und ganz nebenbei viel mehr Freude in unser Leben bringen. Die nötigen Investitionen sind minimal: Es kostet uns nur den Verzicht auf simple Weltbilder und liebgewonnene Überzeugungen.
(S. 73)

Auf ein psychologistisches Modell des bloßen Umdenkens reduziert, schrumpft mit der Definition des Problems auch der Kapitalismus zu einem Papiertiger - allerdings nur behelfs einer Sichtweise, die von kreativer Umgestaltung fabuliert, wo ihr der Sinn nach einem Arrangement mit den herrschenden Verhältnissen steht.


Fußnoten:

[1] http://www.schattenblick.de/infopool/buch/sachbuch/busar501.html

[2] http://www.schattenblick.de/infopool/buch/romane/buror131.html

[3] http://www.neues-deutschland.de/artikel/829129.flucht-aus-suburbia.html

26. Juni 2014


P.M.
Kartoffeln und Computer
Märkte durch Gemeinschaften ersetzen
Edition Nautilus, Hamburg 2012
80 Seiten, 6,90 Euro
ISBN 978-3-89401-767-5