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REZENSION/679: Werner Seppmann - Kritik des Computers (SB)


Werner Seppmann


Kritik des Computers

Der Kapitalismus und die Digitalisierung des Sozialen



"Kritik des Computers" - in einer Zeit ausdifferenzierter Debatte und Kritik zur Allgegenwart informationstechnischer Systeme und zur Digitalisierung der Gesellschaft legt der Soziologe Werner Seppmann [1] mit dem Titel seines jüngsten Buches die Latte, die er zu überwinden gedenkt, zugleich hoch wie tief.

Hoch, weil Computer im Bewußtsein der Menschen, und sei es nur als numinose Apparatur einer futuristischen Gesellschaft, seit mehr als einem halben Jahrhundert präsent sind. Zudem wurden die prinzipiellen Grundlagen für das maschinelle Abarbeiten von in Algorithmen und Programmen komplex zusammengefaßten Rechenvorschriften bereits gelegt, als mit dem Menschen ein angeblich vernunftbegabtes Wesen die Bühne der Erdgeschichte betrat. Teilen und Zählen kann synonym gesetzt werden mit jeder Entwicklung, in der sich der Kontakt zwischen Menschen nicht nur über Berühren und Sprechen, sondern auch materielle Tausch- und Wechselverhältnisse vollzog. An "com-putare", so die lateinischen Herkunft des Wortes Computer, ist vor allem "putare" von Interesse, verweist es mit der Bedeutung "halten für" doch auf den Platzhalter, mit dem geschätzt und gerechnet werden kann. Der Vorgang des Rechnens mit Zahlen hebt die Dinge auf eine symbolische Ebene zwecks besserer Vergleich- und Verfügbarkeit. Ohne die Abstraktion des Zählens hätte es weder Fortschritte in der zivilisatorischen Entwicklung noch der Ausübung herrschaftlicher Gewalt gegeben. Eine Kritik des Computers impliziert notwendigerweise menschliche Entwicklungsschritte von so fundamentaler Art, daß der bloße Blick auf das technische Artefakt und seine Infrastruktur schlimmstenfalls mehr verhüllt als freilegt.

Tief, weil der Anspruch, rund 40 Jahre nach der Konstruktion der ersten PCs, mit denen aus Großrechneranlagen Heimcomputer wurden, über 25 Jahre nach Etablierung der Datenkommunikation im World Wide Web, das einem breiteren Publikum Zugang zum Internet verschaffte, und zehn Jahre nach Verkauf des ersten iPhones [2], das die Rechner vom Schreibtisch in die Hosentasche umziehen ließ, den Computer im Grundsatz zu kritisieren bedeutet, es mit der dominanten, immer mehr Bereiche des menschlichen Lebens und Wirtschaftens durchdringenden Produktionsweise aufzunehmen. Hier vom Besonderen auf das Allgemeine zu schließen läuft denn auch Gefahr, der bloßen Verallgemeinerung bis hin zur pauschalisierenden Verabsolutierung wohlfeiler Gemeinplätze zum Opfer zu fallen.

Die Affirmation des Gegebenen stößt bei Seppmann allerdings ebenso auf Widerspruch wie die Faszination am vermeintlich Neuen mikroelektronischer Attraktionen, der auch linke Computerfreunde erliegen. Wo immer der Autor den kulturellen, in binärer Rechnerlogik wurzelnden Reduktionismus auf die Spitze nimmt, und das tut er insbesondere bei der Arbeit am Begriff in Publizistik, Bildung und Wissenschaft, erinnert er daran, daß es sich dabei nicht allein um ein Resultat technischer Innovation handelt, sondern intellektuelle Einschränkung und Geschichtsvergessenheit in den strukturellen Voraussetzungen kapitalistischer Vergesellschaftung begründet liegen.

Diese Verluste an sprachlicher wie inhaltlicher Bemächtigung mögen zu dem von Seppmann festgestellten Fehlen eines "fundierten Bildes des Zusammenhangs von Computer und Gesellschaft" beigetragen haben. Für dessen Entwurf seien "der Blickwinkel der Kritik der politischen Ökonomie und die Aktivierung des methodischen Instrumentariums einer kritischen Gesellschaftstheorie ebenso unverzichtbar, wie eine die sozialen Entwicklungen und ökonomischen Prozesse, die ideologischen Reproduktionsmuster und zivilisatorischen Verwerfungserscheinungen gleichermaßen umfassende Funktionsanalyse des gegenwärtigen Kapitalismus" (S. 13).

Digitalisierung schützt vor Ausbeutung und Unterdrückung nicht

Auch wer das 2013 veröffentlichte Buch "Kapitalismuskritik und Sozialismuskonzeption. In welcher Gesellschaft leben wir?", auf das der marxistisch geschulte Sozialwissenschaftler und Philosoph anläßlich dieser Aufzählung kritikrelevanter topoi verweist, nicht gelesen hat, sollte mit dem vorliegenden Werk gut gerüstet sein, der Dialektik der gesellschaftlichen Wirklichkeit des Computers produktive Erkenntnisse abzugewinnen. "Der Kapitalismus und die Digitalisierung des Sozialen", so sein Untertitel, unterliegen wie alle gesellschaftlichen Prozesse Widerspruchskonstellationen, die Handhabe geben können, die jeder kritischen Analyse immanenten Gegenpositionen fruchtbar zu machen.

Insbesondere in der ersten Hälfte des Buches widmet sich der Autor kulturkritischen Anmerkungen zur Verwendung rechnergestützten Technik. Sie ist alles andere als neutral, wie die auch in linken Kreisen geübte Beschwichtigung glauben macht, nicht das Gerät als solches sei das Problem, sondern Art und Weise seiner Nutzung. Was schon an der Argumentation der National Rifle Association (NRA), die Schußwaffe werde erst in den Händen ihres jeweiligen Besitzers zum letzten Mittel der Selbstverteidigung oder zum verbrecherischen Mordwerkzeug, offenkundig nicht stimmt, ist auch in Sachen Computertechnologie verfehlt. Seppmann schließt eine emanzipatorische Nutzung des Computers nicht prinzipiell aus, klärt aber ausführlich über die formalen und strukturellen Einschränkungen einer reduktionistischen Maschinenlogik auf, die quantitativen Auswertungen Vorrang vor qualitativen Analysen gibt.

Natürlich entscheiden bei aller programmtechnisch zugestandenen Autonomie nicht die Algorithmen über Leben und Tod, sondern diejenigen, die sie in die Welt gesetzt haben und über sie verfügen. So, wie die Gleichsetzung von menschlicher und künstlicher Intelligenz zur Verwechslung mathematisch-elektronischer Schaltprozesse mit humaner Entscheidungsfreiheit führt, so üben die Normen und Verhaltenspräferenzen sozialer Netzwerke einen Konformitätsdruck auf ihre Nutzerinnen und Nutzer aus, den diese durch ihre Bereitschaft, ihre sozialen Bedürfnisse auf Plattformen wie Facebook zu befriedigen, selbst aufbauen. Für Seppmann wurde der "digitale Konformismus" zur "Epochensignatur" (S. 14) vor allem deshalb, weil sich die Menschen freiwillig den Programmen einer "Fremdsteuerung" (S. 34) unterwerfen, die mit den Methoden informationstechnischer Selbstbeobachtung und -evaluation eine Eigendynamik annimmt, in der der fremdnützige Charakter damit vorangetriebener Optimierungsprozesse kaum mehr auszumachen ist.

So nimmt der Computer erst durch seine Vernetzung den Charakter einer allgegenwärtigen Instanz panoptischer Fremdverfügung an. Deren Unsichtbarkeit ist nicht einmal eine zwingende Voraussetzung zur Internalisierung dadurch etablierter Sozialkontrolle, so bereitwillig unterwerfen sich viele Menschen der instrumentellen Vernunft der Maschinenintelligenz, so groß ist ihre Angst davor, auf dem Marktplatz der sozialen Netzwerke unsichtbar zu sein und das wirkliche Leben zu versäumen, wenn sie nicht Always On sind. Wer etwas Berichtenswertes In Real Life (IRL) erlebt hat, gibt dies auf den Kommunikationsplattformen tunlichst an, ansonsten wird selbstverständlich davon ausgegangen, daß es sich um virtuelles Erleben handelt, das in seinem Aufmerksamkeitspotential wiederum ins echte und wahre Leben umschlägt.

Die hochgradige Akzeptanz rechnergestützter Kontrollfunktionen ergibt sich nicht zuletzt aus dem Vergessen wesentlicher Fragen in der "phantasmatischen Konstruktion von Gegenwart", in der eine "systematische Auslöschung des Vergangenen" (S. 118) erfolgt, so Seppmann mit den Worten des von ihm mehrmals zitierten Kunst- und Kulturkritikers Jonathan Crary. An diesem schleichenden, aus sich selbst heraus nicht indizierbaren Verlust beteiligt ist ein Informationsbegriff, der die bloße Registrierung gleichrangig und unverknüpft angebotener Inhalte zur Grundlage einer Welterkenntnis erhebt, die in den diskursiven Kreisbewegungen der Nachrichtenproduktion und den Echokammern selbstreferentieller Communities verebbt. "Information oder Wissen?" (S. 70), "Mensch oder Maschine?" (S. 77) - unter Kapitelüberschriften wie diesen legt Seppmann die fundamentalen Täuschungen einer Technikgläubigkeit offen, deren affirmative Bereitschaft zur Selbstunterwerfung mit der unvollständigen Kritik eines Humanums korrespondiert, dessen Menschwerdung, teleologisch gesprochen, noch bevorsteht, weil man sich nicht einmal auf den Kommunismus als erstrebenswerte Gesellschaftsform einigen konnte.

Es bleibt mithin bei einem Kapitalismus, dem die Entfesselung der Produktivkräfte dem Goetheschen Zauberlehrling gleich außer Rand und Band geraten sind, so daß sie sich, wie Seppmann dem Buch mit einem Zitat von Karl Marx voranschickt, in "Destruktionskräfte" verwandelt haben. Der Autor ist tief genug von den Klassenkämpfen der Arbeiterbewegung geprägt, daß er sich nicht zu einer radikalökologischen Position der Wachstumskritik versteigt, sondern die zivilisatorische Bemächtigung der Naturkräfte als menschliche Errungenschaft hochhält. Das hält ihn nicht davon ab, den Versuch der "Entkopplung des kapitalistischen Wachstums vom Ressourcenverbrauch" als "Illusion" und einen "grünen Kapitalismus" mithin als "durchschaubare Propagandaformel" (S. 154) zu verwerfen, was die Option einer ökosozialistisch organisierten Gesellschaft übrigließe, die der Autor allerdings nicht explizit aufruft.

Die Digitalisierung der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft, soviel kann dem Buch allenthalben entnommen werden, beendet die Ausbeutung der lebendigen Arbeit nicht, sondern perfektioniert sie etwa durch einen informationstechnisch aufgerüsteten Taylorismus. Der Ausweg in die immaterielle Produktion scheitert an der Verkennung ihrer materiellen Voraussetzungen, die "Industrialisierung der Kopfarbeit" (S. 217) dokumentiert die Ausbeutungsverdichtung in den Jobmaschinen und an den Heimarbeitsplätzen der informellen Arbeitsmärkte und deregulierten Beschäftigungsverhältnisse. Da sich die Rationalisierung der Arbeit durch Roboter erst rechnet, wenn sie billiger als menschliche Arbeit zu realisieren ist, könnten die Verfechter eines ersatzlosen Wegfalls bisheriger Arbeit noch davon überrascht werden, daß die Etablierung eines noch tieferen Niveaus an Niedriglöhnen bis hin zur regelrechten Sklavenarbeit diesen Prozeß zumindest herauszögert. Die weltweite Existenz von Arbeitslöhnen unterhalb des Reproduktionsniveaus belegt die nach unten offene Skala als "Resilienz" positiv verklärter Formen gesellschaftlich verlangter Opferbereitschaft und individueller Leidenstoleranz. Seppmann jedenfalls unterschreibt die Prognose eines baldigen Endes der konventionellen Arbeitsgesellschaft durch die ersatzlose Wegrationalisierung der meisten Arbeitsplätze nicht, kann aber auch nicht ausschließen, daß eine langfristige Tendenz eben diesem Entwicklungspfad folgt.

Selber organisieren und bestimmen ... Sozialismus von unten

Um dem vorzugreifen, bedürfe es einer "neuen Offensive für eine radikale Arbeitszeitverkürzung" (S. 245). Mit dem sozialpartnerschaftlichen Primat der Gewerkschaften seien die drängenden Aufgaben jedenfalls nicht zu bewältigen. "Es muss thematisiert werden, daß der Kapitalismus nicht zukunftsfähig ist, seine Aufrechterhaltung mit Tendenzen eines weiteren sozialen Verfalls, zivilisatorischer Regressionen und der Ausdehnung von Zonen der Bedürftigkeit verbunden sein wird. Ohne einschneidende Veränderungen, von denen die Arbeitszeitverkürzung nur eine Facette ist, wird seiner antizivilisatorischen Dynamik nicht Einhalt geboten werden können". (S. 245)

Eine Absage erteilt Seppmann den "elektronisch determinierten Lenkungsmodellen" eines sogenannten Computer-Sozialismus unter anderem mit dem Argument, daß der wesentliche Grund realsozialistischen Scheiterns in der "mangelhaften Partizipation der Menschen an den gesellschaftlichen Lenkungsinstitutionen und ökonomischen Leitungsprozessen" ( S. 340 f.) begründet lag. Ein Modell direkter Demokratie, das sich nicht auf technische Vermittlungsstrukturen beschränke, sondern "Sprechen aus persönlichem Erleben und motiviert durch die eigenen Intentionen" möglich mache, funktioniere nur "im Modus des Agierens und nicht des bloßen Reagierens" (S. 341). Formen der "Mit- und Selbstbestimmung der unmittelbaren Produzenten" seien zwingende Voraussetzungen des gesellschaftlichen Produktions- und Reproduktionsprozesses, in dem die "Diskussion und Abstimmungen über die elementaren Grundlagen des Zusammenlebens" als "permanenter Prozess organisiert werden" müsse. Der Sozialismus werde als "technologisch 'überformter' ein weiteres mal nicht funktionieren" (S. 341), notwendig sei vielmehr eine "Organisation von Artikulations- und Entscheidungsprozessen der unmittelbaren Lebenszusammenhänge" (S. 342).

Vier "Kern- und Organisationsfragen solidarischer Vergesellschaftung" (S. 342) stehen am Schluß des finalen Kapitels "Computer-Kommunismus?". Werner Seppmann setzt sie den informationstechnisch beschleunigten und hochgerüsteten Formen staatlicher wie ökonomischer Verfügungsgewalt, die er zuvor gründlich und aus verschiedenen Blickwinkeln heraus seziert hat, entgegen. Hier könnten Brücken ins Lager der autonom und anarchistisch organisierten Linken geschlagen werden. Zeit dafür wäre es, denn der Marsch in die Barbarei ist längst im Gange und gibt mit immer lauter dröhnendem Stiefeltritt den Takt nationaler und sozialchauvinistischer Mobilisierung vor. Um was sonst als die Befreiung von den Suggestionen imperativer Anpassungs- und Unterwerfungsnormen und deren streitbare Widerlegung durch eine andere Gesellschaft und Wirklichkeit sollte es auch gehen?


Fußnoten:

[1] INTERVIEW/085: 21. Linke Literaturmesse - IT und die einstürzenden Versprechen ...    Werner Seppmann im Gespräch (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/d-brille/report/dbri0085.html

[2] KULTUR/1009: Zehn Jahre Smartphone - Auf den Weiden Digitaliens ... (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/sele1009.html

7. August 2017


Werner Seppmann
Kritik des Computers
Der Kapitalismus und die Digitalisierung des Sozialen
Mangroven Verlag, Kassel 2017
348 Seiten, 16,80 Euro
ISBN 978-3-94694-602-1


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