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REZENSION/681: Karl H. Beine, Jeanne Turczynski - Tatort Krankenhaus (SB)


Karl H. Beine, Jeanne Turczynski


Tatort Krankenhaus

Wie ein kaputtes System Misshandlungen und Morde an Kranken fördert



Wer wünschte sich nicht im Falle der Erkrankung oder Pflegebedürftigkeit die bestmögliche Behandlung, Hilfe und Fürsorge in Klinikum oder Heim! Die Therapie soll kompetent, die Unterstützung umfänglich, die Information von Patienten und Angehörigen ausführlich und verständlich, die Pflege zugewandt und offen für Sorgen und Nöte sein. Soweit die Wunschvorstellung. Mit der Realität in deutschen Krankenhäusern und Heimen habe das leider wenig zu tun. Ärzte und Pflegekräfte agierten an der Belastungsgrenze, der Patient sei kaum noch Mensch mit Bedürfnissen, sondern Fallzahl und damit Wirtschaftsfaktor für die jeweilige Einrichtung. Es fehle an Zeit und Personal für eine angemessene und vor allem menschenwürdige Pflege. Die Folgen seien dramatisch: In diesen Institutionen sterben täglich Menschen nicht nur an einer tödlichen Krankheit oder Altersschwäche, sondern oftmals durch ärztliche Fehleinschätzungen, falsche Medikamente und Therapien oder überlastetes Personal, das Fehler macht oder notwendige Pflegemaßnahmen unterläßt. Es gebe aber noch einen weiteren, sehr erschreckenden Grund: In diesen Einrichtungen sterben Menschen, weil Mitarbeiter nachhelfen und töten. (S. 10)

Der Mediziner Karl H. Beine und die Wissenschaftsjournalistin Jeanne Turczynski haben mit ihrem Buch "Tatort Krankenhaus" die brisantesten, weil offenkundigsten Morde an Patienten zum Ausgangspunkt ihrer Kritik am deutschen Gesundheitssystem gemacht. Beide befassen sich seit geraumer Zeit mit dieser Problematik. Professor Dr. med. Karl H. Beine ist Chefarzt am St. Marien-Hospital Hamm und Professor für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Witten/Herdecke. Wie er in seiner Danksagung schreibt, habe er die Anregung zur Beschäftigung mit diesem abgründigen Thema vor 25 Jahren von Klaus Dörner bekommen, der damals Klinikchef in Gütersloh war. In dessen Haus habe sich eine Tötungsserie abgespielt, und Dörners (selbst)kritische Auseinandersetzung mit dieser Last sei für ihn Motivation und Auftrag zugleich gewesen. Seither hat sich Beine ausgiebig mit dieser Problematik befaßt und sowohl in Fachkreisen als auch für ein breiteres Publikum dazu publiziert. In einer Studie aus dem Herbst 2015 zu Tötungen in Krankenhäusern und Pflegeheimen hat er mehr als 5000 Mitarbeiter aus Gesundheitsberufen zur Gewalt in ihrem Arbeitsalltag befragt. Jeanne Turczynski ist seit 2006 Redakteurin für Wissenschaft und Bildungspolitik mit dem Schwerpunkt Medizin beim Bayerischen Rundfunk. Sie arbeitet seit über fünfzehn Jahren zu Themen wie Aids, Impfen und Verbreitung von Seuchen, befaßt sich also von Berufs wegen mit Ärzten und Krankenhäusern wie auch mit dem Versagen dieser Institutionen. Von besonderem Interesse sei für sie der Faktor Mensch in diesem Gefüge.

Allein im deutschen Sprachraum wurden seit 1970 zehn Tötungsserien in Kliniken und Heimen aufgedeckt, den rechtskräftig verurteilten Tätern 111 vollendete Tötungen nachgewiesen. Die Zahl der mutmaßlichen Tötungen beläuft sich auf mehr als 300. Alle Tötungsserien wurden verspätet aufgedeckt: Zum einen rechnet man in Klinik oder Heim nicht mit Mord und Totschlag, zum anderen gehört der Tod dort zum Alltag und fällt daher kaum auf. Vor allem aber war fast nirgendwo ein glaubwürdiger Aufklärungswille zu erkennen, da die betroffenen Einrichtungen offenbar einen massiven Imageschaden und wirtschaftliche Konsequenzen fürchteten. Alle zehn überführten Täter hatten pflegerische Berufe, keiner von ihnen wurde für schuldunfähig erklärt. Wenngleich ihre Profile einige Gemeinsamkeiten aufweisen, gibt es doch kein fallübergreifendes Erklärungsmuster. Der Kern des Problems ist nicht so sehr ein labiler Außenseiter, als vielmehr ein System, das solche und andere Tötungen begünstigt, so die Autoren. (S. 130/131)

Verabschiedet man sich von der abwiegelnden These, es handle sich um krasse Einzelfälle von Psychopathen, die ohnehin niemand aufhalten könne, drängt sich zwangsläufig die Frage auf, ob die juristisch erfaßten Fälle womöglich nur die Spitze eines Eisbergs sind. Die bereits erwähnte Untersuchung der Universität Witten-Herdecke läßt darauf schließen, daß die Zahl der Tötungsdelikte weit höher als bisher angenommen ist. Im Rahmen der bislang unveröffentlichten Studie wurde an jedes Krankenhaus und Pflegeheim in Deutschland auf postalischem und elektronischem Weg ein Fragebogen geschickt. 5055 Kranken-, Altenpfleger und Ärzte beteiligten sich an der Umfrage und beantworteten die entscheidenden Fragen: "Haben Sie selbst schon einmal aktiv das Leiden von Patienten beendet?" Oder auch: "Haben Sie in den vergangenen zwölf Monaten schon einmal von einem oder mehreren Fällen gehört, dass jemand das Leiden von Patienten aktiv beendet hat?"

Die Hälfte aller Befragten wußte von Fällen zu berichten, in denen Patienten oder Bewohner während eines Zeitraums von zwölf Monaten verbal angegangen oder beschimpft wurden. 3,8 Prozent der Beteiligten aus den pflegerischen Berufen (164 Personen) hatten davon gehört, daß innerhalb eines Jahres an ihrem Arbeitsplatz das Leben von Patienten aktiv beendet worden sei. Immerhin 1,5 Prozent (65 Personen) aus dem Bereich Pflege gaben an, das Leiden von Patienten selbst schon aktiv beendet zu haben, bei den Ärzten waren es 3,4 Prozent. Wenngleich es sich um keine repräsentative Studie handle, biete sie doch ausreichend Einblicke für eine qualifizierte Kalkulation, so die Autoren. Rechne man diese Zahlen auf die Gesamtheit aller in Deutschland tätigen Ärzte und Pflegekräfte in solchen Einrichtungen hoch, könnte es zwischen Oktober 2014 und Oktober 2015 zu insgesamt mehr als 21.000 Opfern gekommen sein. (S. 12/13)

Dieser Ansatz, ein sensibles Thema durchaus provozierend zur Sprache zu bringen, um die bislang weithin verschwiegene und ausgeblendete Problematik zu Gehör zu bringen, rief bei der Vorstellung des Buchs im Frühjahr heftige Gegenreaktionen auf den Plan. Angefangen vom Patientenbeauftragten der Bundesregierung über die Deutsche Krankenhausgesellschaft und Ärztekammern bis hin zur Deutschen Stiftung Patientenschutz zeigte man sich empört angesichts eines angeblich erhobenen Generalverdachts gegen eine ganze Berufsgruppe, der das Vertrauen untergrabe. Ein skandalisierender Umgang mit unrealistischen Zahlen befördere eine nicht zu verantwortende Panikmache.

Man kann durchaus geteilter Meinung sein, ob es sachdienlich oder im Gegenteil kontraproduktiv war, eine angreifbare Schätzung dieser Größenordnung ins Feld zu führen. Da die Einwände insbesondere um die Zahl mutmaßlicher Tötungen kreisten, trat die Kritik am Gesundheitssystem als solchem in den Hintergrund. Andererseits hätte das Buch unter Verzicht auf jegliche groben Klötze kaum dieselbe Aufmerksamkeit erregt. Die erboste Vorwurfslage, Turczynski und Beine hätten sich auf nicht zu rechtfertigende Weise in die Bezichtigung eines ganzen Berufsstandes verrannt, ruft denn doch den Verdacht auf den Plan, an dieser Stelle wiederhole sich dieselbe kritikresistente Verteidigung eben jenes Systems, das die monierten Mißstände bis hin zu gravierendsten Übergriffen auf Schutzbefohlene möglich macht.

Mit dem Anfang der 2000er Jahre etablierten System der Fallpauschalen oder DRGs (Diagnosis Related Groups) kam es zu einem Schub der Ökonomisierung im Gesundheitswesen, der die Verhältnisse in den Kliniken tiefgreifend veränderte. Einerseits wurde die Verweildauer im Krankenhaus erheblich und oftmals medizinisch unvertretbar gesenkt, andererseits werden in keinem OECD-Land so viele Menschen stationär behandelt wie in Deutschland. Die Kliniken bevorzugen, was Geld bringt: Operationen an Hüfte, Knie, Wirbelsäule oder am Herzen, Fußamputationen bei Diabetikern, künstliche Beatmung und Geburtshilfe per Kaiserschnitt, um nur einige Beispiele zu nennen. Nicht das aus medizinischer Sicht beste und für den Patienten förderlichste Vorgehen genießt Priorität, sondern das wirtschaftlich einträglichste. Der Case-Mix-Index (CMI), der Krankenhauspatienten nach ihrem ökonomischen Wert bemißt, muß stimmen. Das führe dazu, daß es letztlich kein Problem sei, medizinische Fehler zu machen, doch gebe es Ärger, wenn man wirtschaftlich nicht auf Linie bleibe, so die Autoren. (S. 62)

Ein weiterer gravierender Mangel des DRG-Systems besteht darin, daß der zur Behandlung einer Krankheit notwendige Pflegeanteil nicht abgebildet wird. Die durch das neue System unter Kostendruck geratenen Kliniken nahmen die meisten Einsparungen im Pflegebereich vor, der ein großer Kostenfaktor ist. Zehntausende Stellen wurden gestrichen, nur relativ wenige im Zuge unzulänglicher Reformen neu geschaffen. Zudem können vielerorts offene Stellen nicht besetzt werden, weil es inzwischen an Fachkräften fehlt. In den knapp 2000 deutschen Krankenhäusern fehlen derzeit rund 162.000 Mitarbeiter in der Pflege. Hinzu kommt die dramatische Entwicklung im Pflegebereich: In Deutschland sind aktuell 2,6 Millionen Menschen pflegebedürftig, 2030 könnten es bereits 3,4 Millionen sein. Ein Drittel dieser Menschen wird derzeit in Heimen und Krankenhäusern betreut, was diese Einrichtungen an den Rand der Belastbarkeit und nicht selten darüber hinaus treibt. (S. 69)

Die Leistungsverdichtung der Pflegekräfte nimmt zu, die doppelte Dokumentationspflicht steigert die Belastung, physische Anforderungen und psychischer Druck erhöhen den Streß. Die Folge sind ständige Überlastung bis hin zu Zusammenbrüchen, fehlende Kommunikation im Kollegenkreis, ein hoher Krankenstand, Unzufriedenheit, Frustration und die Flucht in Teilzeit oder Kündigung. Für die Patienten ist damit eine zwangsläufig schlechtere Versorgung bis hin zu Lebensgefahr verbunden. So haben Studien nachgewiesen, daß mit steigender Arbeitsbelastung der Pflegekräfte auch die Sterberate auf den Stationen steigt. Der AOK-Krankenhaus Report 2014 zum Thema Patientensicherheit kommt zu dem Schluß, daß es in fünf bis zehn Prozent der Fälle zu "unerwünschten Ereignissen" komme. In Deutschland sterben jedes Jahr etwa 19.000 Menschen durch Fehlbehandlungen im Krankenhaus. (S. 92) Zugleich erschwert die strikte Trennung von Medizin und Pflege einen übergreifenden Austausch und fördert die gegenseitige Bezichtigung. Fehler werden nicht eingestanden, im Alltag fehlen Zeit und Raum für eine adäquate Diskussionskultur. (S. 107)

Die Recherche der Tötungsserien in deutschen Krankenhäusern läßt wie ein Blick durch die Lupe existierende Fehlerketten im Kontext ökonomischer Zwänge und hoher Arbeitsbelastung deutlich hervortreten. So stellen die ausführlich vorgestellten Fälle wie der des "Todespflegers" Niels H., der über mehrere Jahre hinweg in zwei verschiedenen Krankenhäusern über 30 Menschen, womöglich sogar bis zu 200 Patienten, getötet haben soll, die eindrücklichsten und aufschlußreichsten Schwerpunkte des Buches dar. Wenngleich sich die jeweiligen Motive der Täter eng mit ihrer Person und dem privaten Umfeld verknüpfen lassen, sind die erschreckendsten Aspekte ihres Treibens doch fehlende Kontrollmechanismen, ignorierte Verdachtsmomente und das massive Mauern eines weiten Kreises letztlich Mitverantwortlicher in Kliniken, Behörden und Justiz. Weder der deutliche Anstieg von Sterbefällen in der Dienstzeit von Niels H. noch der enorme Verbrauch von Medikamenten, die er bei seinen Taten verwendete, fiel angeblich auf. (S. 49/50)

Die Behauptung, niemand habe etwas gewußt oder wenigstens geahnt, ist nicht haltbar. Als sich die Vorbehalte gegenüber dem als unheimlich empfundenen "Pechbringer" und "Unglücksraben" im Kollegenkreis häuften, unterbreitete ihm der zuständige Chefarzt ohne Angabe von Gründen die Alternative, entweder in den Hol- und Bringedienst degradiert zu werden oder einen Auflösungsvertrag samt einem guten Arbeitszeugnis zu erhalten. Niels H. zog letzteres vor, verließ das Klinikum Oldenburg und fand wenig später eine Stelle als Intensivpfleger in Delmenhorst, wo er weitere Morde verübte. Ohne den jahrelangen Kampf von insgesamt achtzig Opferangehörigen, die weitere Ermittlungen erzwangen, wäre es niemals zur weitreichenden Aufklärung und den drei Prozessen gekommen.

Die Geschichte von Niels H. zeige, daß ein Krankenhaus der ideale Ort sei, um Menschen zu töten. Der Tod sei dort weder für das Personal noch die Angehörigen etwas Besonderes, die Täter verfügten über optimale Zugänge, die Überlastung erlaube kaum Kontrollen im Kollegenkreis, oftmals nicht einmal einen regelmäßigen Austausch. Hinter solchen dramatischen Taten offenbare sich noch eine andere Tatsache: In einem System, in dem Patienten über Jahre hinweg unbemerkt getötet werden können, werden auch andere Fehler gemacht, so die Autoren. Sie können zwangsläufig nur von einer Dunkelziffer ausgehen, deren Höhe sich nicht präzise angeben läßt. Berücksichtigt man, wie viele mutmaßliche Mitwisser weggesehen, verschwiegen und vertuscht haben, die nie zur Verantwortung gezogen wurden, muß man mit Blick auf weniger spektakuläre Vorkommnisse im alltäglichen Betrieb der Kliniken und Heime Schlimmstes befürchten.

Daß es Turczynski und Beine beileibe nicht wie von Kritikern unterstellt um einen reißerisch präsentierten Generalverdacht ohne Rücksicht auf dessen Folgen geht, belegt auch ihr ausführliches Plädoyer für eine Systemkorrektur. Da bekannt sei, daß Kliniken mit hoher Rentabilität häufig unterdurchschnittliche Qualität ablieferten, werde es ohne eine tiefgreifende Kursänderung zwangsläufig zu einer weiteren Erosion der Versorgungsqualität kommen. Um den Menschen wieder ins Zentrum der Medizin zu rücken, dürfe man sich in einem ersten erforderlichen Schritt nicht länger an Fallzahlen und Liegetagen orientieren. Darauf aufbauend seien viele weitere Schritte notwendig, welche die Autoren in Gestalt von sieben Forderungen näher ausführen. Das Buch schließt mit einem Plädoyer für eine andere Medizin. Eine Gesundheitswirtschaft, deren Dienstleister sich ausschließlich an der Gewinnmaximierung orientierten und Kosten senkten, indem sie Mitarbeiter und Patienten ausbeuteten, müsse durch eine qualifizierte Versorgung ersetzt werden, in der der Mensch gesunden kann und nicht krank gemacht wird. Die Politik sei gefordert, neue Schwerpunkte zu setzen: Indem man die technologische Hochleistungsmedizin begrenze und die Einkünfte der Ober- und Chefärzte beschneide, ließen sich Investitionen in die Pflegekosten finanzieren. Geschehe das nicht, würden immer mehr Mitarbeiter und Patienten in diesem System kollabieren.

Ob eine qualifizierte Gesundheitsversorgung der gesamten Bevölkerung tatsächlich im Interesse aller beteiligten Akteure läge und die Politik demzufolge erreichbar für bloße Forderungen nach einer nicht länger profitgetriebenen Gesundheitswirtschaft sein müßte, darf allerdings bezweifelt werden. In einer Gesellschaft, in der die durchschnittliche Lebenserwartung zwischen armen und reichen Menschen bei Männern um mehr als zehn und bei Frauen um über acht Jahre differiert, herrschen offensichtlich fundamentale Widerspruchslagen vor, die einer tiefgreifenderen Analyse und Einschätzung der erforderlichen Handlungskonsequenzen bedürfen. Dessen ungeachtet ist "Tatort Krankenhaus" ein empfehlenswertes Sachbuch, das die Übergriffe auf Schutzbefohlene bis hin zu Tötungen in Kliniken und Heimen zur Sprache bringt, im Kontext des Gesundheitssystems diskutiert und somit der Tabuisierung dieses Szenarios zwischenmenschlichen Grauens offensiv entgegentritt.

16. August 2017


Karl H. Beine, Jeanne Turczynski
Tatort Krankenhaus
Wie ein kaputtes System Misshandlungen und Morde an Kranken fördert
Droemer Verlag, München 2017
256 Seiten, 19,99 Euro
ISBN 978-3-426-27688-4


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