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AKTION/402: Mantra für die Menschenrechte (ai journal)


amnesty journal 7-8/2007 - Das Magazin für die Menschenrechte

Mantra für die Menschenrechte
Es war eine andere Art des Reisens: Der 21-jährige Timo Müller radelte 21.000 Kilometer über drei Kontinente. Er trotzte Kälte und Krankheiten und verlor dabei nie sein Ziel aus den Augen: 21.000 Euro Spenden für ai zu sammeln.

Von Rebekka Rust


"Realistisch bleiben, das Unmögliche versuchen": Großspurig stützte sich Timo Müller auf einen Ausspruch von Ché Guevara und leitete daraus sein eigenes Mantra ab: 21.000 Kilometer Radfahren, 21.000 Euro sammeln - für ai. Die Menschenrechte bilden für ihn die "Grundpfeiler unseres Zusammenlebens". Ihnen widmete der Abiturient sein Projekt "cycling for human rights".

Neun Monate bereitete er sein Abenteuer vor, sprach mit Extremradlern, suchte Sponsoren für seine Ausrüstung. Viele Skeptiker glaubten, er sei völliger Selbstüberschätzung zum Opfer gefallen. "Sie meinten, ich hätte zu wenig Lebenserfahrung", erzählt der Sportler mit der markanten weißen Brille. Heute kokettiert er: "Ja, ich war ungestüm, unerfahren, blauäugig, naiv, unwissend. - Und habe es trotzdem geschafft."

Timo Müller kommt aus dem Dorf Wedesbüttel bei Braunschweig. Seine Lebensgeschichte liest sich nicht erst seit seiner jüngsten Unternehmung wie eine Parabel über jugendlichen Leichtsinn und grenzenlosen Optimismus: Im Alter von 15 Jahren lernte er Kung Fu in einem Kloster in China und war von da an "sein eigener Kolumbus". Mit 16 radelte er 2.100 Kilometer rund um Island, bestieg ohne Ausrüstung einen Gletscher, lief spontan einen Marathon in Reykjavik. Mit 17 reiste er nach Südostasien. "Andere Mütter hätten mich in den Keller gesperrt, um mich von meinem Vorhaben abzuhalten", sagt er. Nicht seine Mutter - die war schon einiges gewöhnt und ließ ihn ziehen. Während Pauschaltouristen ins Flugzeug steigen, um in luxuriösen Hotelanlagen in der Sonne zu braten, besteigt Müller am 1. April 2006 sein Fahrrad: Er radelt über drei Kontinente, durch 15 Länder, 426 Tage lang.

Polen. Es ist bitterkalt. Müller friert, fühlt sich einsam, verunsichert. "Erst da habe ich erkannt: das wird eine harte Reise." Besonders die Einsamkeit macht ihm zu schaffen. "Manchmal war mir so langweilig, dass ich mich sogar auf das Kaugummikauen konzentriert habe." Er fährt durch die baltischen Staaten, von dort nach Russland. Hinter Moskau beginnt die Einöde: 700 Kilometer durch Sibirien. Müller klammert sich an die Struktur eines Arbeitstages. Von 8 bis 18 Uhr muss er einhundert Kilometer zurücklegen. Jeden Tag.

Der junge Mann entwickelt eine liebevolle Beziehung zu seinem Drahtesel. Während des Interviews verspricht er sich und sagt "Freundin" statt "Fahrrad". "Ich habe das Rad in den Status einer Freundin erhoben, es behütet wie meinen Augapfel", sagt er daraufhin lachend. Die englische Marke des Fahrrads heißt übersetzt "Schwarze Freude". Timos "Schwarze Freude" wiegt 60 Kilo, inklusive Hausrat: Sommer- und Winterkleidung, Zelt, Schlafsack, Kochgeschirr.

Nach 4100 Kilometern erreicht der Menschenrechtler im Juni 2006 die Mongolei. Er ist fasziniert vom Nomadenleben der Mongolen, fühlt sich ihnen verbunden. "Wie sie hatte auch ich nur ein Zelt. Das war mein Zuhause." Pathetisch formuliert er: "Die Mongolei war mein persönlicher Weg ins Paradies." - Der allerdings endete dort, wo die Wüste Gobi begann. Seine Räder bleiben im Sand stecken, bei 40 Grad Hitze muss er Hunderte Kilometer schieben. Aber er erlebt auch wunderbare Momente völliger Stille, "die schönsten Augenblicke" seiner Tour.

China verkörpert im Gegensatz dazu die Abwesenheit von Ruhe. Müllers Stimme ist gereizt. Von den zehn am meisten verschmutzten Städten der Welt liegen fünf in China. "Durch alle musste ich fahren." Er spricht von schwarzem Schnee, und davon, dass die Hochhäuser im Smog verschwanden. "China ist ein Polizeistaat", fährt er fort. Mühsam muss er sich um Kontakt mit der Außenwelt bemühen. Die Behörden sperren seine Homepage und E-Mail-Adresse, weil dort der Begriff "Menschenrechte" zu lesen ist. Unzählige Male habe man ihn kontrolliert, mit Fragen gelöchert, ihn am Weiterfahren hindern wollen. Auch sein Zelt kann er in dem dicht besiedelten Land mit 1,3 Milliarden Menschen nicht aufschlagen. "Kaum hatte ich in ein Hotel eingecheckt, kam die Polizei, um mich zu befragen." Der Extremradler wird krank, hat 45 Tage "wasserfallartigen Durchfall". Pausenlos wird er angestarrt, wegen seiner Größe und wegen seiner Arm- und Beinhaare. "Einmal kam ein Junge mit einer Schere auf mich zu", erinnert sich Müller, der sich zunächst erschrak. Der Kleine hatte es aber nur auf seine Beinhaare abgesehen, die seine Mutter in eine Plastiktüte packte.

Überglücklich erreicht Müller die Länder Südostasiens, arbeitet mit den Mitarbeitern von ai in Bangkok. Ein Highlight dieser Zeit: Müller sammelt über 500 Briefe und Zeichnungen von Flüchtlingskindern aus Myanmar. Als "Botschafter für die Menschenrechte" überreicht er sie mit einer Forderung von ai nach mehr Rechten für die Kinder dem Vizepremierminister.

Müller schwärmt von den Menschen und der Gastfreundschaft, die er erlebt hat. In vielen Ländern sei es unmöglich gewesen, Geld auszugeben. Russische Mütter hätten ihre Betten für ihn geräumt und auf dem Fußboden geschlafen; oft habe man ihn so liebevoll behandelt, als sei er ein lang verschollener Sohn.

Australien ist die letzte Etappe seines Abenteuers. In Sydney steigt er Ende Mai ins Flugzeug nach Deutschland, radelt von Frankfurt die letzten 30 Kilometer nach Braunschweig. Doch kurz vor seinem Ziel geschieht das Unglück: Ein Autofahrer fährt den jungen Menschenrechtsaktivisten über den Haufen. Das Resultat: Doppelter Knochenbruch am Arm, Totalschaden am Hinterreifen.

"Ich habe keine Diktatoren in Angst und Schrecken versetzt, keine neuen Demokratien erschaffen", reflektiert Müller. Aber er ist stolz auf seinen Erfolg: Nach 21.000 Kilometern hat er 21.000 Euro für die Menschenrechtsarbeit von ai gesammelt. Sein Projekt nennt Müller "den Pilot zur Serie". Und mit "Serie" meint er nicht sein anstehendes Studium und nicht das Buch, das er schreiben wird. Sein Internettagebuch verrät es: Dort stehen Worte wie "Ironman und Sahara" und "Mount Everest und Antarktis." Was auch immer der 21-Jährige dort vorhat, seinen jugendlichen Leichtsinn und grenzenlosen Optimismus hat er noch lang nicht verloren.


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Timo Müller

Der Fahrer: Ein 21-jähriger Abiturient aus Wedesbüttel bei Braunschweig

Die Kampagne: cycling for human rights. www.cyclingforhumanrights.de

Die Idee: 21.000 Kilometer Radfahren, 21.000 Euro Spenden für amnesty international sammeln

Die Dauer: 426 Tage, 1.203 Stunden Fahrzeit

Der Weg: Über drei Kontinente, durch 15 Länder von Braunschweig nach Sydney

Die Bilanz: 45 Tage Durchfall, einmal Dengue-Fieber, nach 10.000 Kilometern zwei Platten im hinteren Mantel, ein Autounfall in Deutschland

Wie es weitergeht? Studieren, Buch schreiben, Vorträge halten, die nächsten Abenteuer planen, sich weiter für die Menschenrechte engagieren


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Quelle:
amnesty journal, Juli/August 2007, S. 22-23
Herausgeber: amnesty international
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Juli 2007