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ASIEN/244: Kambodscha - Zwangsräumungen, Korruption und das Erbe der Roten Khmer (ai journal)


amnesty journal 10/11/2009 - Das Magazin für die Menschenrechte

"Man darf Menschen nicht einfach ins Nirgendwo schicken"


Zehntausende haben in den vergangenen Jahren allein in Phnom Penh durch illegale Zwangsräumungen ihr Zuhause verloren. Die meisten leben nun ohne Entschädigung auf Brachflächen weit außerhalb der Stadt. Im Oktober 2008 machte sich eine Delegation des Menschenrechtsausschusses des Deutschen Bundestags selbst ein Bild vor Ort. Ein Gespräch mit Delegationsmitglied Angelika Graf, SPD, über Zwangsräumungen, Korruption und das Erbe der Roten Khmer.


FRAGE: Sie besuchten während ihrer Delegationsreise unter anderem das Umsiedlungsprojekt Andong. Dorthin brachten die Behörden Bewohner aus Phnom Penh, deren Häuser und Wohnungen zwangsgeräumt wurden. Unter welchen Bedingungen müssen die Menschen dort leben?

ANGELIKA GRAF: Die Zustände sind erschütternd. Andong liegt ungefähr 20 Kilometer von Phnom Penh entfernt, mitten im Nirgendwo. Die notdürftig zusammengeflickten Hütten stehen in der prallen Sonne. Es gibt keinen Strom, ebenso wenig wie sauberes Wasser oder ein Abwassersystem. Wir sahen vor allem sehr viele junge Frauen, die offensichtlich krank waren. Viele Kinder litten unter Dengue-Fieber oder anderen schweren Krankheiten. Die Männer waren unterwegs, um irgendwo in der Nähe Geld zu verdienen, was schwierig ist, da Andong eben sehr abgelegen liegt. Es ist nicht möglich, trockenen Fußes durch die Siedlung zu kommen. Nicht nur wegen des Schlamms, sondern auch wegen des Mülls und der Fäkalien. Dass die Bewohner unter solch katastrophalen Bedingungen erkranken, ist nicht verwunderlich.

FRAGE: Aber selbst an diesem trostlosen Ort sind sie nicht davor geschützt, erneut vertrieben zu werden.

ANGELIKA GRAF: Ja, Andong ist alles andere als eine sichere Bleibe. Es kann durchaus sein, dass auch diese Siedlung irgendwann zwangsgeräumt wird. Das kambodschanische Gesetz besagt zwar, dass niemandem der Grund und Boden genommen werden darf, wenn er dort mindestens fünf Jahre gelebt hat. Doch dieses Recht haben die Behörden schon bei den Jahre andauernden Zwangsräumungen in Phnom Penh missachtet. Und die Menschen in Andong könnten sich auf diesen Rechtsanspruch ohnehin nicht berufen, da sie ja erst vor kurzem dorthin gebracht wurden.

FRAGE: Was haben sie Ihnen über die Zwangsräumungen berichtet?

ANGELIKA GRAF: Viele wurden, wenn überhaupt, nur sehr kurzfristig über die angesetzte Räumung informiert und hatten daher keine Möglichkeit, sich zu wehren und Beschwerde einzureichen. Die Betroffenen schilderten uns, dass man ihnen mittags gesagt hatte: "Ihr könnt eure Sachen packen", und abends wurden sie auf einen Laster gepfercht und weggefahren. Ein Bewohner Andongs erzählte uns, dass Kinder ihre Mutter schnell von der Arbeit holen mussten, damit sie wenigstens noch ein paar Sachen packen konnten, bevor sie ihre Behausung_ verlassen mussten.

FRAGE: Wie reagierten Vertreter der kambodschanischen Regierung, als Sie das Thema Zwangsräumungen ansprachen?

ANGELIKA GRAF: Einige unserer Gesprächspartner waren sich der Problematik durchaus bewusst. Allerdings behaupteten sie, dass Zwangsumsiedlungen wegen des Aufbaus der Stadt und des gesamten Landes eben unvermeidlich seien. Wir haben lange mit ihnen darüber diskutiert und gefordert, dass den Betroffenen wenigstens vernünftige Wohnverhältnisse angeboten und angemessene Entschädigungen gezahlt werden müssen. Es kann nicht sein, dass man Menschen ohne Strom und Wasser einfach ins Nirgendwo schickt.

FRAGE: Seit dem Ende der Terrorherrschaft der Roten Khmer verzeichnet Kambodscha ein rasantes Wachstum. Wie kann man verhindern, dass dieser dringend benötigte Fortschritt nicht zu Lasten der Menschenrechte geht?

ANGELIKA GRAF: Ein nachhaltiger wirtschaftlicher Aufschwung, in dem Menschenrechte geachtet werden, setzt im Falle Kambodschas erst einmal geklärte Eigentumsverhältnisse voraus. Am wichtigsten ist es daher, dass das Katasterwesen wieder in Ordnung gebracht wird. Die Roten Khmer hatten alle Grundbucheinträge komplett zerstört. Vertreter deutscher Organisationen vor Ort berichteten uns, dass lediglich drei Mitarbeiter der Katasterämter das Regime überlebt hätten. Insofern sind die Zwangsräumungen auch ein Erbe der Roten Khmer. Die Behörden scheinen aber gewillt zu sein, die Eigentumsverhältnisse zu klären. Die Frage ist nur, ob es beim Aufbau eines neuen Grundbuch- und Katasterwesens gerecht zugeht, oder ob nur diejenigen Land zugesprochen bekommen, die gute Verbindungen haben. Ich habe den Eindruck gewonnen, dass die Strukturen noch nicht rechtsstaatlich sind. Es besteht daher die Gefahr, dass das Unrecht durch die Reformen manifestiert wird. Deutsche Entwicklungshelferinnen und -helfer sowie der deutsche Botschafter versuchen aber ihren Einfluss zu nutzen, um genau das zu verhindern.

FRAGE: Menschen werden häufig vertrieben, um Bauland für private Bauprojekte zu schaffen. Welche Verantwortung haben hier die Unternehmen?

ANGELIKA GRAF: Eine sehr große. Man sollte in Ländern wie Kambodscha viel öfter über unternehmerische Aktivitäten und Menschenrechtsverletzungen sprechen. Da gibt es oft einen direkten Zusammenhang. Es ist aber schwierig, in Kambodscha dagegen vorzugehen, weil dort Korruption eine große Rolle spielt. Wenn ein Investor eine bestimmte Fläche im Auge hat, und es wohnen dort ein paar - in seinen Augen lästige - Leute, dann schiebt er der Stadtverwaltung etwas Geld zu, und die Menschen sind schnell weg. Und das fällt auch gar nicht auf. Denn diejenigen, die vertrieben werden und fortan an Orten wie Andong leben müssen, waren vorher schon am unteren Rand der Gesellschaft, um den sich der Rest der Bevölkerung wenig kümmert. Sie sind arm, haben keine Lobby und können sich daher auch nicht wehren.

FRAGE: Die Weltbank und andere Entwicklungspartner forderten die kambodschanische Regierung im Juli auf, Zwangsräumungen zu stoppen und ein faires Verfahren zu entwickeln, um Landstreitigkeiten zu lösen. Könnte dieser Druck helfen?

ANGELIKA GRAF: Man muss zwei Dinge tun: Einerseits internationalen Druck aufbauen, andererseits aber auch Hilfe anbieten. Druck allein würde nicht helfen. Denn für den Aufbau rechtsstaatlicher Strukturen fehlt in Kambodscha eine vernünftige Grundlage, da fast jeder während der Diktatur entweder auf der Opfer- oder der Täterseite Verwandte oder Freunde hatte. Familienmitglieder haben sich teilweise gegenseitig umgebracht, auf fürchterliche Weise. Die Traumatisierungen sind unglaublich. Das ist Kambodschas eigentliches Hauptproblem. Bei solch einer Ausgangssituation kann kurzfristig keine normale Entwicklung stattfinden.


Interview: Daniel Kreuz

Angelika Graf
Die SPD-Politikerin aus Rosenheim ist seit 1994 Abgeordnete des Deutschen Bundestags. Sie ist u.a. Mitglied im Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe und für diese Themen auch stellvertretende Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion.


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Quelle:
amnesty journal, Oktober/November 2009, S. 30-31
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. November 2009