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ASIEN/253: In Kasachstan ist Folter durch Polizisten an der Tagesordnung (ai journal)


amnesty journal 06/07/2010 - Das Magazin für die Menschenrechte

Drei Stunden vogelfrei
In Kasachstan ist Folter durch Polizisten an der Tagesordnung.
Dies dokumentiert ein aktueller Amnesty-Bericht.

Von Imke Dierßen


Im Oktober 2008 ging Dmitri Tian zu einer Polizeiwache in Kasachstans Hauptstadt Astana. Er war vorgeladen worden, um in einem Mordfall auszusagen. Doch statt als Zeuge befragt zu werden, musste er sich bis auf die Unterwäsche ausziehen. Dann schlugen ihn die Polizisten mit Knüppeln und gefüllten Plastikflaschen. Er sollte den Mord an einer Mutter und ihren drei Kindern gestehen.

Dmitri Tian ist kein Einzelfall. Die kasachische Regierung zeigt sich zwar im Kampf gegen Folter und Misshandlung bemüht. So billigte Präsident Nazarbaev im Mai 2009 einen Nationalen Aktionsplan für Menschenrechte. Trotzdem sind Folter und Misshandlung noch immer an der Tagesordnung, wie ein Ende März veröffentlichter Bericht von Amnesty International dokumentiert. Die Polizei foltert und misshandelt ihre Gefangenen vor allem direkt nach der Festnahme. Nach kasachischem Recht muss eine Festnahme erst nach drei Stunden registriert werden, in der Praxis geschieht dies häufig sogar noch später. Erst mit der offiziellen Eintragung hat der Festgenommene das Recht auf einen Anwalt oder die Möglichkeit, seiner Familie zu kontaktieren. Folter kann in Kasachstan jeden treffen. Islamische Extremisten oder die, die dafür gehalten werden, müssen ebenso fürchten, gefoltert zu werden, wie einfache Leute. Dadurch sollen Geständnisse für alle möglichen Verbrechen erpresst werden. Polizisten arbeiten nach einem inoffiziellen Punktesystem, in dem sie nach der Zahl der Delikte, die sie erfolgreich aufklären, bewertet werden.

Letzten Endes "gestand" auch Dmitri Tian unter den Schlägen, die Morde begangen zu haben. Im Juni 2009 wurde er zu einer 25-jährigen Haftstrafe verurteilt. Vor Gericht hat er stets bestritten, die Frau und ihre Kinder umgebracht zu haben. Er sagte auch aus, gefoltert worden zu sein. Doch der Richter schenkte den Vorwürfen keine Beachtung.

Die Verwertung von "Geständnissen", die unter Folter erlangt wurden, ist nicht nur ein Verstoß gegen das internationale Folterverbot. Auch das kasachische Recht sieht ein Verwertungsverbot für solche "Beweise" in Gerichtsverfahren vor. Aber entweder bleiben die Foltervorwürfe gänzlich unbeachtet oder der Richter lädt die beschuldigten Polizeibeamten vor. Streiten die Polizisten die Vorwürfe ab, folgt darauf oft keine weitere Untersuchung, und die "Geständnisse" des Beschuldigten gelten als zulässig.

Nie hätte Irina Tian geglaubt, dass jemand bezweifeln würde, dass ihr Ehemann gefoltert wurde. Weil sie wiederholt eine Untersuchung gefordert hat, wurde sie von der Polizei bedroht und muss nun um die Sicherheit ihrer vier Kinder fürchten. Auch ihre Arbeit hat sie verloren. Amnesty fordert die kasachische Regierung auf, Personen ab dem Moment ihrer Festnahme zu registrieren, und nicht erst nach drei Stunden. Zudem müssen unabhängige Beobachter uneingeschränkten Zugang zu allen Hafteinrichtungen erhalten, damit die Folter auf den Polizeiwachen ein Ende hat. Umso mehr, da Kasachstan 2010 den Vorsitz der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) innehat und sich daher auch einem der Hauptanliegen der OSZE verpflichtet fühlen sollte: dem Schutz der Menschenrechte.


Die Autorin ist Europa- und Zentralasien-Referentin der deutschen Amnesty-Sektion.


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Quelle:
amnesty journal, Juni/Juli 2010, S. 16
Herausgeber: amnesty international
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. Juni 2010