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FRAGEN/001: Juristische Aufarbeitung der argentinischen Militärjunta (ai journal)


amnesty journal 10/11/2011 - Das Magazin für die Menschenrechte

"Wir stehen erst am Anfang"

Ein Gespräch mit Wolfgang Kaleck, Anwalt und Völkerrechtsexperte, über die juristische Aufarbeitung der argentinischen Militärjunta und die Fortschritte im Kampf gegen Straflosigkeit.

Interview von Anton Landgraf


FRAGE: Freuen Sie sich, dass Muammar al-Gaddafi demnächst vor dem Internationalen Strafgerichtshof stehen könnte?

WOLFGANG KALECK: Natürlich kann man sich darüber freuen, dass mit Gaddafi jemand angeklagt ist, der zweifelsohne für Menschenrechtsverletzungen verantwortlich ist. Man muss aber auch fragen: Warum nur Gaddafi? Warum nicht andere? Im Moment scheint sich die internationale Strafjustiz im Wesentlichen gegen Staatsangehörige besiegter Staaten zu richten. Dennoch ist es wichtig, dass jemand wie Gaddafi vor Gericht gestellt wird. Denn damit wird der Internationale Strafgerichtshof gestärkt und es wird eine Eigendynamik in Gang gesetzt, die hoffentlich auch jene treffen wird, die jetzt noch nicht vor Gericht gebracht werden können.

FRAGE: Sollte man in Bürgerkriegsländern wie Libyen nicht zuerst versuchen, die Gegenwart zu befrieden, bevor man beginnt, sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen?

WOLFGANG KALECK: Über diesen falschen Gegensatz Frieden versus Gerechtigkeit hat man zum Beispiel auch in Spanien nach dem Ende der Ära Franco und in Argentinien nach dem Ende der Militärdiktatur diskutiert. Doch die Leichen im Keller von Gesellschaften verseuchen das ganze Gebäude. Langfristig gibt es keine Alternative zu einer Vergangenheitsaufarbeitung, die zumindest auch juristische Anteile hat. Darauf haben die Opfer von Menschenrechtsverletzungen, aber auch die Gesellschaften ein Anrecht. Und die Staaten sind dazu verpflichtet. Kurzfristig sieht es möglicherweise anders aus. Im Einzelfall kann man Verhandlungslösungen befürworten, die im Zweifelsfall Menschenleben retten können, wie etwa im Falle des ehemaligen Präsidenten von Liberia, Charles Taylor, der unbehelligt nach Nigeria ausreisen konnte. Das hat zu diesem Zeitpunkt womöglich weiteres Blutvergießen in Liberia verhindert. Ein paar Jahre später musste er sich dann aber vor dem Spezialtribunal in Sierra Leone verantworten.

FRAGE: Demnächst steht in Argentinien der ehemalige General Jorge Videla vor Gericht. Die Diktatur liegt mittlerweile über 30 Jahre zurück, Videla ist jetzt 86 Jahre alt. Welchen Sinn ergibt da noch ein Strafverfahren?

WOLFGANG KALECK: Das ist eine Frage, die wir uns in jedem einzelnen Fall stellen müssen: Menschenrechtler unterstützen diese Verfahren schon fast zu gedankenlos, weil in ihnen das Böse so klar zu identifizieren und zu personalisieren ist. Dabei muss es uns vor allem um das systematische Unrecht gehen: Wir müssen verstehen, wie es überhaupt zu Menschenrechtsverletzungen kommen konnte. Welche ökonomischen, sozialen und politischen Ursachen lagen der Militärdiktatur zugrunde? Wer war in welcher Weise daran beteiligt? Diese Fragen sind natürlich schwierig in einem Strafprozess zu behandeln, wo es um die Schuld von Einzelpersonen geht. Das ist zwar auch richtig, weil die Anführer mehr individuelle Schuld auf sich geladen haben als die einfachen Mitläufer. Aber es ist eben auch nicht alles.

FRAGE: Welche Bedeutung hat der Prozess für die Gesellschaft?

WOLFGANG KALECK: Zunächst ist er vor allem für die unmittelbaren Folteropfer und ihre Angehörigen von Bedeutung. Dieser Kreis umfasst in Argentinien bereits mehrere hunderttausend Personen. Man darf dabei nicht vergessen, dass Folter noch über Jahre und Jahrzehnte Auswirkungen auf die Betroffenen hat, auch auf ihre Familien und ihr soziales Umfeld. In diesen Prozessen findet eine Aufarbeitung statt, und zwar auch von den gesellschaftlichen Traumata.

Die Rechtfertigung für Diktatur und Unterdrückung bricht zusammen, wenn man sich damit kritisch auseinandersetzt. In Argentinien erklärten zum Beispiel die Militärs, dass sie das Land gegen den Weltkommunismus und den Terrorismus verteidigen mussten. Es existierte zwar tatsächlich eine Stadtguerilla, sie war aber bereits vor der Diktatur militärisch besiegt und stellte allenfalls noch eine polizeiliche Bedrohung dar. Wer aber wurde inhaftiert und in die Folterlager gesteckt? Alle, die den Militärs auch nur irgendwie kritisch gegenüberstanden: Studenten, Journalisten, Rechtsanwälte und vor allen Betriebsräte. Das muss erst einmal festgestellt werden: Rund zwei Drittel der Personen, die in einem der blutigsten Lager, dem Campo de Mayo, inhaftiert wurden, waren einfache Gewerkschafter, die sich für betriebliche Rechte eingesetzt haben. Deswegen sind sie brutal gefoltert worden. Selbst schwangere Frauen, Kinder, alte Leute und Behinderte sind gefoltert worden. Die Behauptung, man habe sich gegen den Kommunismus oder den Terrorismus verteidigt, ist also eine Lüge.

Solche Fakten müssen im Gerichtssaal festgestellt werden. Mit diesem Material können anschließend Journalisten und Künstler arbeiten, aber auch Historiker. Das ist enorm wichtig für eine gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der Diktatur. Und nicht zuletzt ist dieser Prozess auch hilfreich für die Zukunft, um ähnliche Entwicklungen zu vermeiden.

FRAGE: Kann eine solche Aufarbeitung nicht auch zum Beispiel eine Wahrheitskommission leisten, wie etwa in Südafrika nach dem Ende der Apartheid?

WOLFGANG KALECK: Im Gerichtssaal würdigt eine dafür bestimmte staatliche Instanz nach vorher bestimmten und vorhersehbaren Regeln der Strafprozessordnung Fakten, Aussagen, persönliche Betrachtungen und kommt zu einer Bewertung, einem Urteil. Für die Betroffenen ist es wichtig, dass eine staatliche Behörde sich damit auseinandersetzt und feststellt: Ja, es war Mord, es war Folter durch einen Unrechtsapparat. Wahrheitskommissionen sind zu wenig, sie haben keine derart hohen Beweisstandards wie bei Gericht. Sie nehmen die Aussagen beider Seiten oft nur entgegen.

FRAGE: Wenn diese Aufarbeitung in den Gerichtssälen so wichtig ist, warum wurde in Argentinien nicht früher damit begonnen?

WOLFGANG KALECK: Juristen und Menschenrechtsorganisationen machen sich oft nicht klar, dass es um politische Auseinandersetzungen geht. Es gibt natürlich Machtinteressen, diese Vergangenheit unter Verschluss zu halten. Die argentinische Militärdiktatur hat beispielsweise ein bestimmtes ökonomisches und gesellschaftliches Modell durchgesetzt, das teilweise noch heute in Kraft ist. Die Militärdiktatur aufzuarbeiten heißt auch, dieses ökonomische und gesellschaftliche System in Frage zu stellen, um zu einer wirklich partizipativen Demokratie zu kommen. Das ist natürlich für die Eliten, die so einen gesellschaftlichen Einschnitt unbeschadet überstanden haben, gefährlich.

So war es auch in Deutschland nach dem Ende des Nationalsozialismus. Es gab zwar die Nürnberger Prozesse. Doch schon kurz darauf wurden auf einmal Amnestien erlassen, weil man die gesellschaftlichen Eliten brauchte, um Westdeutschland als Bollwerk gegen den Kommunismus auszubauen. Deswegen hat es auch so lange gedauert, bis wieder etwas in Gang kam, bis NS-Verbrecher verfolgt und anklagt wurden. Und auch diese Anstrengungen waren ja noch unzureichend. Das ist ein gutes Beispiel dafür, was heute in vielen Ländern stattfindet. Darüber muss man sich im Klaren sein. Das heißt, der Kampf gegen Straflosigkeit ist kein isolierter Kampf, kein rein juristischer Streit, der ausschließlich in juristischen Entscheidungen endet.

FRAGE: Videla ist einer von mehreren ehemaligen Diktatoren, die sich derzeit vor Gericht verantworten müssen. Erleben wir einen historischen Fortschritt im Kampf gegen die Straflosigkeit?

WOLFGANG KALECK: Immerhin kann man die Menschenrechte nicht mehr negieren. Das gilt nicht nur für die westlichen Länder, sondern für viele Teile der Welt. Die Anti-Folter-Konvention haben inzwischen über 140 Staaten unterschrieben. Das liegt auch daran, dass sich internationale Institutionen wie die UNO, der Europarat, die EU, die Afrikanische Union oder der Interamerikanische Gerichtshof regelmäßig mit Menschenrechtsverletzungen beschäftigen, Anzeigen entgegennehmen, ermitteln, Berichte herausgeben. Die Menschenrechtsorganisationen arbeiten komplementär dazu. Eine Menschenrechtsverletzung, egal wo sie auch geschehen mag, bleibt heute nicht lange verborgen. Das war früher anders. Mittlerweile werden die Menschenrechtsstandards als solche nur noch selten negiert. So haben die USA nach 9/11 versucht, das Folterverbot und den Schutz der Genfer Konvention für Kriegsgefangene umzudefinieren. Das hat aber nicht ganz geklappt. Das heißt, wir haben es mit Standards zu tun, die sich zumindest diskursiv als relativ robust erweisen.

FRAGE: Dennoch geschahen gerade im "Kampf gegen den Terror" viele Menschenrechtsverletzungen, ohne dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen wurden.

WOLFGANG KALECK: Ja, aber man muss in größeren historischen Perioden denken. Vor zehn Jahren war es praktisch undenkbar, dass CIA-Agenten in Deutschland und Italien angeklagt werden oder dass Gerichte gegen den ehemaligen US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld zumindest ermitteln. Ich hoffe aber nicht, dass wir in zehn Jahren noch bei diesen eher symbolischen Aktionen verharren. Es reicht mir nicht aus, den ehemaligen US-Präsidenten George Bush, Rumsfeld oder den tschetschenischen Präsidenten Ramsan Kadyrow daran gehindert zu haben, nach Europa zu reisen. Aber ich wehre mich auch, alles nach Hopp oder Topp zu beurteilen. Bush und Kadyrow wurden nicht verurteilt, also geht doch alles weiter wie bisher. Nein, so sieht es nicht aus. Man muss die vielen kleinen Schritte sehen und man muss auch kleine Erfolge würdigen. Das heißt nicht, dass ich mich mit dem Erreichten zufrieden gebe. Es bedeutet vielmehr anzuerkennen, dass wir mit beschränkten Mitteln und als gesellschaftliche Minderheit etwas erreichen können. Wir wollen mehr erreichen, ganz bestimmt, aber wir haben ja auch gerade erst angefangen.

FRAGE: Wo sehen Sie die größten Erfolge in der Strafverfolgung?

WOLFGANG KALECK: Bei der Strafjustiz gibt es ein gravierendes Problem: Wir kommen immer zu spät, wir reagieren immer nur. Elisabeth Käsemann ist seit dreißig Jahren tot, sie wurde auf erbärmliche Art und Weise umgebracht. Da kommt einem das Wort Erfolg nur schwer über die Lippen. Aber wenn es so etwas wie einen Fortschritt in der Menschheitsgeschichte gibt, dann wissen wir ja auch, dass sich dieser Fortschritt nicht über Nacht einstellt.

FRAGE: Was muss geschehen, damit es weitere Fortschritte gibt?

WOLFGANG KALECK: Wir stehen an einem Scheideweg der Geschichte. Der Internationale Strafgerichtshof wird nächstes Jahr zehn Jahre alt. Eine Institution wie der Internationale Strafgerichtshof funktioniert nur, wenn die Weltgemeinschaft, also auch der stärker gewordene globale Süden, ihn auch akzeptiert. Das wird aber nur geschehen, wenn wirklich universelle Justiz herrscht: Egal, wo ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit geschieht, dieser Gerichtshof wird es untersuchen und letztlich auch sanktionieren. Die Frage ist, wie viel Zeit uns noch bleibt, um die internationale Strafjustiz so auszugestalten, dass übermorgen China, Indien, Brasilien oder andere Regionalmächte sagen: Es lohnt sich, dieses Projekt weiterzuführen. Fakt ist, dass im Moment vor allem bei den mächtigen westlichen Staaten die Philosophie vorherrscht: Es ist gut, diese Standards zu haben, aber wenn sie uns politisch oder ökonomisch schaden, dann brechen wir sie, weil wir stark genug sind. Der Westen muss aber zeigen, dass er bereit ist, diese Regeln auch auf sich selbst anzuwenden, selbst wenn es schmerzt. Dann gibt es vielleicht eine Chance, dass diese Regeln so glaubwürdig und legitim werden, dass die russische oder die chinesische Gesellschaft sagt: Ja, dieses Rechtssystem ist auch in unserem Interesse. Wenn der Westen aber so weitermacht wie bisher, dann steht der Bestand dieser Regeln in Frage.


Wolfgang Kaleck ist Fachanwalt für Strafrecht sowie Vorsitzender des Republikanischen Anwältinnen- und Anwältevereins (RAV) und Sprecher der "Koalition gegen die Straflosigkeit, Wahrheit und Gerechtigkeit für die deutschen Verschwundenen inentinien". Er ist außerdem Generalsekretär des European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) mit Sitz in Berlin.


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Quelle:
amnesty journal, Oktober/November 2011, S. 34 - 36
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. November 2011