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FRAGEN/013: "Menschen sehen gerne Gesichter" (ai journal)


amnesty journal 10/11/2012 - Das Magazin für die Menschenrechte

"Menschen sehen gerne Gesichter"

Ein Gespräch mit Wayne Minter. Er ist im Internationalen Sekretariat von Amnesty in London für den Bereich der audiovisuellen Medien verantwortlich.

Interview von Anton Landgraf und Ralf Rebmann



Frage: Gibt es ein Foto, das Ihnen besonders in Erinnerung geblieben ist?

Wayne Minter: Da gibt es viele, aber wenn ich eines auswählen müsste, könnte es Paula Allens Aufnahme der südkoreanischen "Trostfrauen" sein: Die Kamera ist auf die 78-jährige Gil Won Ok gerichtet, die vor der japanischen Botschaft in Seoul ein riesiges Mikrofon in der Hand hält. Sie fordert Gerechtigkeit und Entschädigung für die Verbrechen, die an den Frauen begangen wurden, die den japanischen Truppen im Zweiten Weltkrieg als Sexsklavinnen dienen mussten. Das Foto vereinigt viele Elemente einer klassischen Menschenrechtsdemonstration. Vor allem aber stellt es die Stereotypen Bilder über Frauenaktionen in Frage: Manche der Frauen auf dem Foto sind über 90 Jahre alt, viele von ihnen wurden in ihren Gemeinschaften und Familien geächtet. Sie führten ihren Kampf mit großem Einsatz und Würde, gegen eine Tradition, die Frauen immer noch als unsichtbar und ohne Stimme wahrnimmt, gegen eine mächtige und distanzierte Regierung, die entschlossen war, sie zu ignorieren. Die Aufnahme brachte ihren Kampf dem westlichen Publikum wirkungsvoll näher, und führte dazu, dass ihr Anliegen mehr Unterstützung erfuhr.

Frage: Warum sind Bilder so wichtig für die Arbeit von Amnesty International?

Wayne Minter: Bilder sind ungemein wichtig für jeden, der Aufmerksamkeit erreichen möchte - egal, ob er nun ein Getränk verkaufen oder die Welt verändern will. Amnesty setzt Bilder für Menschenrechte und gegen Menschenrechtsverletzungen ein. Nun könnte man erwarten, dass wir einen "negativen" Typus von Bildern einsetzen, um anzuklagen, und einen "positiven" Typus, der den Widerstand und den Mut der Betroffenen thematisiert. Doch die Praxis ist viel komplexer. Die Beziehung zwischen der Verwendung eines bestimmten Bildes und der menschenrechtlichen Wirkung ist nicht immer so klar und eindeutig. Wir setzen Fotos zum Beispiel auch bei Spendenaufrufen oder bei der Mitgliederwerbung für Amnesty ein. In diesem Fall dient das Foto nicht unmittelbar dem Schutz der Menschenrechte der abgebildeten Personen.

Frage: Amnesty arbeitet häufig mit Fotografen zusammen. In welcher Form geschieht das?

Wayne Minter: Wir beginnen damit, einen Fotoauftrag zu entwickeln, aus dem hervorgeht, warum wir die Fotos benötigen und was wir mit ihnen zu erreichen hoffen. Wenn wir z.B. Aussagen von Mädchen in Nicaragua über sexuelle Gewalt dokumentieren wollen, dann suchen wir eine dafür geeignete Person, also eine spanischsprachige Frau, die sich in der Region auskennt, die Wissen über Menschenrechte und Sicherheitsfragen mitbringt, die über Sensibilität verfügt und Erfahrung hat in der Zusammenarbeit mit einer Researcherin. Es sollte eine Frau sein, die Geduld mitbringt, um ein Vertrauensverhältnis zu den Interviewten aufzubauen, die qualitativ hochwertige Fotos von Menschen machen kann, ohne ihre Identität preiszugeben usw. Das engt den Kreis in gewisser Weise ein, noch bevor wir überhaupt einen Blick auf die Arbeit einer Fotografin geworfen haben oder gefragt haben, ob sie zur Verfügung steht.

Frage: Wie viele Fotos erhält Amnesty?

Wayne Minter: Im vergangenen Jahr haben wir 18.327 Fotos in unsere Datenbank für audiovisuelle Medien aufgenommen. Das sind mehr als 50 täglich. Hinzu kommen noch viele Bilder, die die einzelnen Ländersektionen von Amnesty beisteuern.

Frage: Wie geht Amnesty mit Fotos um, die extrem verstörend sind?

Wayne Minter: Manche glauben, dass das Fotoarchiv von Amnesty voller entsetzlicher und verstörender Aufnahmen ist. Dies ist nicht der Fall. Es gibt in unserem Archiv vor allem Porträtaufnahmen. In der Regel sind es nicht die Fotos, die entsetzen, sondern die Geschichten dahinter, also das, was diesen Menschen widerfahren ist. Menschen sehen sehr gerne Gesichter an. Gesichter von Menschen zu zeigen, ist die häufigste und wirkungsvollste Form des Werbens mit Bildern. Das Foto eines Gesichts gibt den "Menschenrechten" den "Menschen". Das ließ sich bereits feststellen, als wir begannen, die ersten "Urgent Actions" mit Porträts zu veröffentlichen. Und daran hat sich bis heute nichts geändert, wie unsere aktuelle Bildsprache beweist, z.B. die "1000 Gesichter" für die Kampagne "Waffen unter Kontrolle", die Fotos für den Briefmarathon oder der Einsatz von Mitarbeiterporträts in der Kampagnenarbeit.

Frage: Wie stellt Amnesty sicher, dass die auf den Bildern dargestellten Personen nicht gefährdet werden?

Wayne Minter: Wir müssen ehrlicherweise zugeben, dass wir das nicht vollkommen ausschließen können, aber wir bemühen uns in jeder Weise, mögliche Risiken zu identifizieren und sie so gering wie möglich zu halten. Amnesty-Mitarbeiter und Fotografen, die wir beauftragen, sind dazu angehalten, die abgebildeten Menschen genau zu informieren und ihre Zustimmung einzuholen - sie sollen ihnen auch erklären, wie die Fotografien verwendet und wo sie veröffentlicht werden. Alle Fotoaufträge enthalten Richtlinien, die die Sicherheit und die Einwilligung der Porträtierten betreffen. Wenn ernsthafte Zweifel hinsichtlich der Sicherheit der dargestellten Person bestehen, wird ein Foto nicht veröffentlicht.

Frage: Nutzt Amnesty auch Bilder und Videos von Laien?

Wayne Minter: Ja, wir setzen sie ein, insbesondere aus Ländern, zu denen wir keinen Zugang erhalten. Manchmal scheint dieses Material authentischer, wirkungsvoller und aufschlussreicher zu sein. Andererseits ist es in vielen Fällen schwierig oder unmöglich, die Authentizität des Materials, die Urheberrechte, Sicherheitsaspekte und die Einwilligung der dargestellten Personen zu überprüfen. Oft ist der Aufwand an Zeit und Mitteln, um dies zu klären, auch einfach schlicht zu hoch.

Frage: Hat sich die Bedeutung von Fotos und Videos in den vergangenen Jahren verändert?

Wayne Minter: Die digitale Revolution hat einen dramatischen Paradigmenwechsel bei den Inhalten, der Kontrolle und der Bearbeitung von audiovisuellen Medien ausgelöst - so wie im vergangenen Jahrhundert die Erfindung der 35mm-Filmkamera, die Gründung von Zeitungsimperien und der Beginn der internationalen Luftfahrt die Rolle von Fotojournalisten, Zeitschriften und Agenturen sowie die Verarbeitung von Nachrichten entscheidend beeinflusst hat. Die jüngsten Entwicklungen verändern den Umgang mit audiovisuellen Medien erneut fundamental. Und ein Ende dieses Umbruchs ist nicht in Sicht.



Fragen: Anton Landgraf und Ralf Rebmann
Übersetzung: Mascha Rohner


Wayne Minter arbeitet seit 1995 im Internationalen Sekretariat von Amnesty International in London. Als Leiter des Bereichs für audiovisuelle Medien koordiniert er die Verwendung von Audio- und Videomaterial für die Organisation. Er lebt in London.

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Quelle:
amnesty journal, Oktober/November 2012, S. 38-39
Herausgeber: amnesty international
Sektion der Bundesrepublik Deutschland e.V., 53108 Bonn
Telefon: 0228/98 37 30, E-Mail: info@amnesty.de
Redaktionsanschrift: Amnesty International, Redaktion amnesty journal,
Postfach 58 01 61, 10411 Berlin, E-Mail: ai-journal@amnesty.de,
Internet: www.amnesty.de
 
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. November 2012