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FRAGEN/030: »Mit Willkür kann man Boko Haram nicht besiegen« (ai journal)


amnesty journal 10/11/2015 - Das Magazin für die Menschenrechte

»Mit Willkür kann man Boko Haram nicht besiegen«

Ein Gespräch mit Daniel Eyre, Amnesty-Researcher für Nigeria, von Ralf Rebmann


Im Kampf gegen die islamistische Terrormiliz Boko Haram beging das nigerianische Militär mutmaßlich Kriegsverbrechen. Die neue Regierung unter Präsident Muhammadu Buhari will die Gräueltaten aufarbeiten.


ai: Im Nordosten Nigerias gibt es ständig neue Angriffe von Boko Haram auf die Zivilbevölkerung - trotz des Einsatzes des nigerianischen Militärs. Wie ist die Lage im Moment?

Daniel Eyre: Anfang des Jahres waren viele Gebiete im Nordosten des Landes unter der Kontrolle von Boko Haram. Seit Februar konnte das Militär sie jedoch aus den größeren Städten zurückdrängen. Boko Haram konzentriert sich deshalb auf die ländlichen Gebiete, um zu beweisen, dass sie immer noch fähig sind, Menschenleben zu gefährden. Es gab vermehrt Bombenanschläge und Überfälle auf Dörfer, die stets nach einem ähnlichen Muster ablaufen: Sie stürmen die Orte, manchmal mit Hunderten von Kämpfern, erschießen Männer im wehrfähigen Alter, stehlen Waffen, Munition und Vorräte und ziehen sich dann wieder zurück. Seit März 2014 hat Boko Haram mehr als 5.500 Menschen bei solchen Überfällen getötet.

ai: Im April 2014 wurden in Chibok mehr als 270 Schülerinnen verschleppt. Was weiß man über deren Situation?

Daniel Eyre: Wir haben keine genauen Informationen über den Aufenthaltsort der Schülerinnen. Diese Entführungen gehören jedoch zur Strategie von Boko Haram. Wir vermuten, dass mindestens 2.000 Frauen und Mädchen verschleppt wurden. Die Bedingungen, unter denen sie leben müssen, sind erschreckend. Sie werden gezwungen, Kämpfer von Boko Haram zu heiraten. Es gibt viele Fälle von Vergewaltigung. Das nigerianische Militär konnte Boko Haram aus einigen Gebieten zurückdrängen und damit auch Frauen und Mädchen befreien, die dann medizinisch und anderweitig versorgt wurden.

ai: Das Militär ging bei seinem Einsatz gegen Boko Haram selbst brutal gegen Zivilisten vor. In einem neuen Bericht spricht Amnesty von mutmaßlichen Kriegsverbrechen.

Daniel Eyre: Die Vorgehensweise des Militärs war ausgesprochen grausam. Das Militär führte Vergeltungsaktionen und großangelegte Razzien in Orten oder Nachbarschaften durch, um Anhänger von Boko Haram ausfindig zu machen. Junge Männer mussten sich ausziehen, wurden einzeln vorgeführt und willkürlich festgenommen. In der Haft wurden sie gefoltert. Sie hatten keinen Zugang zu einem Anwalt und es gab auch keine Gerichtsverfahren. In den Gefängnissen erhielten sie nicht genügend Wasser oder Nahrung. In den vergangenen vier Jahren wurden mehr als 20.000 Personen inhaftiert. Aufgrund der Haftbedingungen und infolge der Folter sind schätzungsweise mehr als 7.000 Personen in den Gefängnissen gestorben.

ai: Wie sehen die Vergeltungsaktionen des Militärs aus?

Daniel Eyre: Im März 2014 griff Boko Haram ein Militärgefängnis an, um Gefangene zu befreien und sie als neue Kämpfer zu rekrutieren. Die Mehrheit der Gefangenen floh jedoch in die Stadt auf der Suche nach Wasser, Nahrung und Kleidung. Das Militär durchsuchte anschließend die Gegend und versuchte so viele Gefangene wie möglich festzunehmen und zusammenzutreiben. Mehr als 640 Personen wurden an jenem Tag vom Militär erschossen. Einen ähnlichen Fall gab es bereits 2012, als das Militär bei einer Vergeltungsaktion willkürlich in ein Dorf feuerte und mehr als 200 Menschen tötete. Nach unseren Recherchen hat das nigerianische Militär mehr als 1.200 Männer und Jungen außergerichtlich hingerichtet. Dafür gibt es auch Videobeweise. Hochrangige Militärs wussten davon und haben dies nicht verhindert.

ai: Wen genau macht Amnesty International für diese Gräueltaten verantwortlich?

Daniel Eyre: In unserem jüngsten Bericht nennen wir neun Militärvertreter, die sich wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantworten sollten. Darunter sind beispielsweise der amtierende Generalstabschef, der Stabschef des Heeres sowie Militärs und Kommandeure, die für die Gefängnisse im Nordosten des Landes verantwortlich waren oder Operationen leiteten.

ai: Gab es explizite Anweisungen so brutal vorzugehen?

Daniel Eyre: Wir sagen nicht, dass diese Verbrechen von ihnen angeordnet wurden. Jedoch wusste die Militärführung, was vor Ort passierte, und hat nichts unternommen, um dies zu stoppen. Wir wissen, dass es Feldberichte gab, die an die Zentrale weitergeleitet wurden. Amnesty hat die Militärführung im Oktober 2013 über Todesfälle in Gefängnissen informiert. Doch wurde seither niemand zur Verantwortung gezogen und Gefangene in Haft mussten weiter sterben.

ai: Wie hat das nigerianische Militär auf die Anschuldigungen reagiert?

Daniel Eyre: Das Militär sagte, dass der jüngste Bericht keine neuen Informationen enthielte. Auf der einen Seite stimmt das. Es sind dieselben Vorwürfe, die wir bereits in der Vergangenheit geäußert haben. Jedoch ist dieser Bericht weit umfassender und er zeigt auch, dass das Militär diese Vorfälle nicht aufgearbeitet hat. Wir waren deshalb froh, dass sich der neue nigerianische Präsident Muhammadu Buhari positiv zu den Veröffentlichungen geäußert hat. Er sagte, dass er nichts unversucht lassen wolle, um die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Notwendig sind unabhängige Untersuchungen, die von der nigerianischen Regierung selbst angestrengt werden. Das Militär kann nicht gegen sich selbst ermitteln.

ai: Einerseits muss die nigerianische Regierung hochrangige Militärs zu Verantwortung ziehen, andererseits ist sie im Kampf gegen Boko Haram auf das Militär angewiesen. Gibt es dabei Interessenskonflikte?

Daniel Eyre: Es ist nicht einfach, während laufender Militäroperationen Untersuchungen durchzuführen. Klar ist jedoch, dass Boko Haram durch die willkürliche Festnahme von Zivilisten kaum besiegt werden kann. Die hohe Anzahl von Todesfällen in Haft könnte verhindert werden, wenn Inhaftierte Zugang zu medizinischer und rechtlicher Hilfe bekämen und die Bedingungen in den Gefängnissen verbessert würden. Diese Maßnahmen lassen sich auch umsetzen, ohne die laufenden Militäroperationen gegen Boko Haram zu beeinträchtigen.

ai: Welche Rolle spielt die nigerianische Zivilgesellschaft bei der Aufarbeitung der Verbrechen?

Daniel Eyre: Sie spielt eine wichtige Rolle, denn die Aussagen von Augenzeugen und Betroffenen sind für die Untersuchungen ausschlaggebend. Die Arbeit von Amnesty beruht auf einem großen Netzwerk von Personen, die uns täglich über die Angriffe von Boko Haram und über die des Militärs informieren. Für den Bericht wurden Interviews mit rund 400 Zeugen, Betroffenen, Journalisten, Anwälten, Menschenrechtsverteidigern und auch Militärs geführt. Viele zivilgesellschaftliche Organisationen in Nigeria haben unsere Veröffentlichungen unterstützt und konnten sie durch eigene Recherchen bestätigen. Amnesty hat jüngst auch einen Bericht zu den Verbrechen von Boko Haram veröffentlicht, um beide Seiten des Konflikts zu beleuchten. Die Menschen im Nordosten Nigerias verdienen Gerechtigkeit, egal durch wen sie Opfer geworden sind.


Daniel Eyre ist Amnesty-Researcher für Nigeria im Internationalen Sekretariat in London. Zuvor unterstützte er den Kampagnen-Bereich bei Amnesty. Von 2009 bis 2012 war er am Sondergerichtshof für Sierra Leone in Freetown tätig.

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Quelle:
amnesty journal, Oktober/November 2015, S. 40-41
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Februar 2016

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