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GRUNDSÄTZLICHES/349: Amnesty Report 2022/23 - Gewalt und Leid zwingen Menschen zu Flucht und Protest


Amnesty International - Pressemitteilung vom 28. März 2023

Amnesty Report 2022/23: Gewalt und Leid zwingen Menschen zu Flucht und Protest


Im Angesicht von Krieg, Krisen und Unterdrückung sind Millionen Menschen in vielen Teilen der Welt auf der Flucht oder gehen für ihre Rechte auf die Straße. Massenhafte Proteste - wie in Iran, Peru oder jüngst in Georgien - sowie eine zunehmende Zahl von schutzsuchenden Menschen - ob aus der Ukraine, Myanmar, Venezuela oder der Demokratischen Republik Kongo - sind zwei zentrale Entwicklungen, die der Amnesty International Report (AIR) 2022/23 aufzeigt. Der Bericht dokumentiert die Menschenrechtslage in 156 Staaten. Das Vorwort, fünf Regionalkapitel und ausgewählte ins Deutsche übersetzte Länderkapitel sind unter dem unten angegeben Link [1] zu finden.

  • Millionen Menschen weltweit fliehen und protestieren, weil ihre Menschenrechte verletzt und sie ihrer Lebensgrundlagen beraubt werden.
  • Eine wachsende Zahl von Regierungen unterdrückt mit Gewalt und Überwachung die Versammlungs-, Vereinigungs- und Meinungsfreiheit.
  • In Iran reagierten die Behörden auf die Massenproteste mit tausenden willkürlichen Festnahmen, Folter in Gefängnissen, Schüssen auf Demonstrierende und Hinrichtungen.
  • Amnesty International sieht Regierungen mehr denn je in der Pflicht, Menschenrechte und Völkerrecht zu stärken und dafür Sorge zu tragen, dass die Verantwortlichen für Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen zur Rechenschaft gezogen werden.

In vielen Ländern der Welt reagierten Regierungen auf Proteste mit Repressionen: In 85 der 156 von Amnesty International betrachteten Länder (54 Prozent) setzten Sicherheitskräfte unrechtmäßige Gewalt gegen Protestierende ein. In 35 Ländern gingen sie mit tödlichen Waffen vor. In 79 Ländern wurden Aktivist*innen willkürlich festgenommen (51 Prozent). In 29 Ländern wurde das Recht auf friedlichen Protest eingeschränkt.

Beispielhaft sind die Ereignisse in Iran seit dem Tod von Jina Mahsa Amini am 16. September 2022. Mehr als 22.000 Menschen wurden seitdem bei den Massenprotesten willkürlich festgenommen. Demonstrationsteilnehmer*innen sind aus nächster Nähe erschossen worden, wurden verschleppt, gefoltert, in unfairen Gerichtsverfahren zu langen Haftstrafen verurteilt, einige sogar zum Tode. Mindestens vier Menschen wurden bereits hingerichtet, mindestens 14 Menschen droht akut die Hinrichtung. Amnesty International hat landesweit Hunderte Todesfälle namentlich dokumentiert, darunter die Dutzender Minderjähriger und Kinder. Die Dunkelziffer ist deutlich höher.

Markus N. Beeko, Generalsekretär von Amnesty International in Deutschland, sagt: "Wer gegen Unterdrückung und Leid auf die Straße geht, braucht Unterstützung durch Öffentlichkeit und politischen Druck von Regierungen. Unterstützung bedeutet auch, dass Deutschland und die Europäische Union den Export von biometrischen Überwachungstechnologien verbieten, wie im Koalitionsvertrag vorgesehen. Solche Technologien werden in Ländern wie Iran oder Russland willkürlich eingesetzt, um friedlich Protestierende zu identifizieren und zu verfolgen. EU-Parlament und EU-Ministerrat sollten mit einer entsprechenden Regelung in der Verordnung zur Regulierung Künstlicher Intelligenz, dieses wichtige Verbot wirksam verankern."

Um friedlich protestierende Menschen zu unterstützen und den Einschränkungen der Meinungs- und Versammlungsfreiheit vieler Regierungen entgegenzutreten, startete Amnesty International die globale Kampagne "Protect the Protest".

In jüngerer Vergangenheit haben die iranischen Behörden zudem Dutzende Bürger*innen mit doppelter Staatsangehörigkeit inhaftiert, darunter der Deutsch-Iraner Jamshid Sharmahd und die iranisch-deutsche Frauenrechtlerin Nahid Taghavi. Taghavi wurde im Oktober 2020 festgenommen, monatelang in Isolationshaft gehalten und gefoltert. In einem unfairen Gerichtsverfahren wurde sie zu 10 Jahren und 8 Monaten Haft verurteilt.

Mariam Claren, Taghavis Tochter, sagt über die andauernden Proteste in ihrem Heimatland: "Was sich seit jetzt mehr als sechs Monaten in Iran ereignet, geht über frühere Protestwellen hinaus. Getragen werden die Proteste durch alle Schichten, Geschlechter und Altersklassen, durch das gesamte Land - von Kurdistan über Teheran bis nach Balutschestan. Noch immer demonstrieren etwa die Menschen in Zahedan, der Provinzhauptstadt Balutschestans, jeden Freitag. Sie kämpfen für Selbstbestimmung und Meinungsfreiheit und für Selbstverständlichkeiten wie das Tanzen und Singen auf den Straßen. Auch 192 Tage nach dem Tod von Jina Mahsa Amini kann der Ruf nach Freiheit nicht erstickt werden."

Nie da gewesene Fluchtbewegung: Staaten müssen allen Schutz bieten

Im vergangenen Jahr waren weltweit 103 Millionen Menschen auf der Flucht. Menschen fliehen vor gewaltsamen Konflikten und Kriegsverbrechen, weil ihre Menschenrechte verletzt und sie ihrer Lebensgrundlagen beraubt werden, etwa durch die Folgen der Covid-19-Pandemie und den Nahrungsmittelengpässen in Folge des Angriffes auf die Ukraine. Diesen 2022 weltweit zunehmenden Fluchtursachen steht die eklatante Missachtung vieler Staaten, fliehenden Menschen Schutz zu gewähren, gegenüber.

Beeko sagt: "Europäische Staaten haben schnell und unbürokratisch Millionen Flüchtlinge aus der Ukraine aufgenommen. Dies zeigt, was möglich ist, wenn der politische Wille vorhanden ist. Dies muss eine Blaupause dafür sein, zukünftig Menschen aus akuten Konflikt- und Krisengebieten den notwendigen Schutz zu bieten. Wer flieht, braucht Schutz - ohne Wenn und Aber. Die kontinuierlichen Menschenrechtsverletzungen an den europäischen Außengrenzen gegenüber Menschen, die vor der Gewalt in Syrien, Afghanistan oder Iran fliehen, müssen ein Ende haben."

Verantwortliche für Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zur Verantwortung ziehen

Erstmals enthält der Amnesty International Report eine Statistik zu Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit: Amnesty International hat Belege dafür in 20 der 156 untersuchten Ländern dokumentiert. So gingen und gehen die russischen Streitkräfte in der Ukraine mit Angriffen auf Wohngebiete und dem Einsatz verbotener Streumunition vor. Männer, Frauen und Kinder wurden von russischen Soldaten erschossen, vergewaltigt, gefoltert oder verschleppt. In Äthiopien verübten Regierungstruppen und bewaffnete Gruppen Massentötungen und gezielte Angriffe auf Zivilist*innen. In Myanmar beging das Militär mit Boden- und Luftangriffen gegen Zivilist*innen und zivile Objekte wiederholt Kriegsverbrechen. Dörfer wurden geplündert und niedergebrannt und dabei Hunderte Menschen getötet und Tausende gewaltsam vertrieben.

Beeko erklärt: "Es gilt, die Verantwortlichen für Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen zur Rechenschaft zu ziehen. Regierungen müssen dafür das Völkerrecht und die internationale Menschenrechtsarchitektur stärken. Eine der Lehren aus Russlands völkerrechtswidrigem Angriffskrieg ist, das Völkerrecht und die international gültigen Regeln sowie deren konsequente Anwendung zu stärken. Es ist wichtig, dass die Vereinten Nationen mit einem Votum der Mehrzahl der Staaten entschlossen auf den völkerrechtswidrigen russischen Angriffskrieg in der Ukraine reagieren haben und dass der Internationale Strafgerichtshof einen Haftbefehl gegen Wladimir Putin erlassen hat. Wenn wir glaubwürdig für die Menschenrechte eintreten wollen, darf nicht mit zweierlei Maß gemessen werden. Es gilt nun, die internationalen Institutionen weiter zu stärken und dafür zu sorgen, dass Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit nirgendwo auf Dauer ungestraft bleiben, weder im Krieg gegen die Ukraine, in Iran, in Syrien, in Kolumbien oder in Jemen."

Reformen bei internationalen Institutionen nötig

Angesichts zunehmender Menschenrechtsverletzungen hält Amnesty International eine Stärkung und Weiterentwicklung der internationalen Institutionen und Systeme für dringend erforderlich. Hierfür müssen Regierungen die UN-Menschenrechtsmechanismen vollständig finanzieren, die Arbeit internationaler Gerichte unterstützen und deren Urteile konsequent umsetzen. Amnesty International fordert zudem eine Reform des UN-Sicherheitsrats, eines zentralen Entscheidungsgremiums der Vereinten Nationen.

"Dieses Jahr begehen wir den 75. Jahrestag der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Sie war die Antwort der Welt auf die Barbarei des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust. Kriegsverbrechen, Flucht und Protest zeigen, dass es nun gilt, dem Recht und den Menschenrechten zu stärkerer internationaler Beachtung zu verhelfen. Wir müssen unsere Regierungen hierzu in die Pflicht nehmen. Das Jahr 2023 kann ein Wendepunkt für die Wahrung der Menschenrechte und der internationalen Ordnung werden", so Beeko.


[1] Amnesty Report 2022/23: das Vorwort, fünf Regionalkapitel und ausgewählte ins Deutsche übersetzte Länderkapitel sind zu finden unter:
https://www.amnesty.de/informieren/amnesty-report/amnesty-report-2022

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Quelle:
Pressemitteilung vom 28. März 2023
Amnesty International, Sektion der Bundesrepublik Deutschland e.V.
Zinnowitzer Straße 8, 10115 Berlin
Telefon: 030 / 420248-0, Fax: 030 / 420248-488
E-Mail: info@amnesty.de
Internet: www.amnesty.de

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 28. März 2023

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