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MELDUNG/013: Ein anderer Blickwinkel - Interview mit ai-Generalsekretär Salil Shetty (ai journal)


amnesty journal 08/09/2010 - Das Magazin für die Menschenrechte

Ein anderer Blickwinkel


Salil Shetty ist seit Juli internationaler Generalsekretär von Amnesty International. Der 49-Jährige wuchs im indischen Mumbai auf und studierte in Ahmedabad und London Management und Sozialpolitik. In den vergangenen sechs Jahren leitete er die UNO-Millenniumskampagne zur Armutsbekämpfung. Davor setzte er sich als Vorsitzender der internationalen Nichtregierungsorganisation ActionAid für die Rechte von Armen ein.

FRAGE: Gab es einen Schlüsselmoment in Ihrem Leben, der Sie dazu bewogen hat, sich in Nichtregierungsorganisationen zu engagieren?

SALIL SHETTY: Angesichts meines familiären Hintergrunds wäre alles andere seltsam gewesen. Meine Mutter war Anwältin und engagierte sich in der Frauenbewegung. Mein Vater ist Journalist und sehr aktiv in der Dalit-Bewegung. Unsere Telefongespräche wurden ständig abgehört, Polizisten überwachten unser Haus, und mein Vater wurde mehrmals festgenommen. Ich wuchs in einer sehr turbulenten Zeit in Indien auf. 1976 wurde der Ausnahmezustand ausgerufen, das einzige Mal in Friedenszeiten seit der Unabhängigkeit. Später war ich Präsident der Studentenvereinigung an der Universität, auch dies war eine Zeit voller Proteste und Widerstand gegen Ungerechtigkeit. Wer meinen Hintergrund nicht kennt, könnte annehmen, mein Engagement würde sich nur auf wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte beziehen, da ich mich in meinem Berufsleben bislang mit Armut befasst habe, das kam aber erst viel später. Mein Einstieg in diese Art von Arbeit betraf bürgerliche und politische Rechte.

FRAGE: Sie waren Vorsitzender von ActionAid. Können Sie uns etwas über Ihre Arbeit dort erzählen?

SALIL SHETTY: Ich arbeitete zunächst in Asien und Afrika. Während dieser Zeit erfuhr ich hautnah, wie Menschen in sehr armen, abgelegenen und ausgeschlossenen Gemeinschaften leben. Ich verbrachte viel Zeit in Dörfern und Armenvierteln. Anschließend zog ich nach Großbritannien und arbeitete viel in Europa. Es waren meine ersten Erfahrungen auf internationaler Ebene. Es war außerdem das erste Mal, dass ich eine große Organisation mit etwa 2.000 Mitarbeitern und Partnern in 40 Ländern leitete.

FRAGE: 2003 wurden Sie zum Direktor der Millenniumskampagne der UNO ernannt, deren Ziel es ist, weltweit Menschen und Institutionen dazu anzuregen, sich für die Millenniums-Entwicklungsziele einzusetzen. War diese Arbeit erfolgreich?

SALIL SHETTY: Es gab einige konkrete Erfolge, wie zum Beispiel die Erhöhung der Entwicklungshilfe der reichen Länder zwischen 2003 und 2008 sowie einen Schuldenerlass für etwa 35 Länder. Dies lässt sich zwar nicht allein auf die Kampagne zurückführen. Sie hat jedoch ihren Beitrag dazu geleistet. Wir haben von Anfang an gesagt, dass Veränderungen auf nationaler Ebene, und erst recht auf lokaler Ebene stattfinden müssen. Politiker handeln erst, wenn sie den Druck ihrer Wähler spüren. Deshalb ist unsere Vorgehensweise auch von unten nach oben gerichtet. So nahmen zum Beispiel an unserer Aktion "Stand Up and Take Action" im vergangenen Jahr 173 Millionen Menschen teil und forderten die Umsetzung der Millenniums-Entwicklungsziele. Dem Guinnessbuch zufolge war dies die größte Bewegung zur Bekämpfung der Armut. Am interessantesten sind jedoch die Bündnisse, die auf nationaler und internationaler Ebene entstanden sind. Unter dem Dach der Kampagne kamen Nichtregierungsorganisationen, religiöse Organisationen und Gewerkschaften sowie einige eher ungewöhnliche Partner wie Medien, Lokalregierungen und -parlamente zusammen. Dies war eine einzigartige Erfahrung.

Allerdings ist es für die UNO, die sich aus Mitgliedsstaaten zusammensetzt, nicht einfach, Regierungen zur Verantwortung zu ziehen. Deshalb mussten wir ein Gleichgewicht finden zwischen der Tatsache, ein Teil der UNO zu sein und bisweilen politisch brisante Projekte voranzutreiben.

FRAGE: Was sind Ihrer Ansicht nach die wichtigsten Unterschiede zwischen Ihrer bisherigen Arbeit und der bei Amnesty International?

SALIL SHETTY: Auch wenn meine gesamte bisherige Arbeit einen Menschenrechtsansatz hatte, unterscheidet sich Amnesty International doch durch die konsequente Konzentration auf Menschenrechte. Die Themen sind dieselben, der Blickwinkel ist ein anderer. An dieser Stelle habe ich viel zu lernen. Ein weiterer großer Unterschied liegt in der Kultur und Geschichte der Organisation. Amnesty International ist im Gegensatz zu ActionAid eine demokratische Mitgliederorganisation.

FRAGE: Was kann Amnesty zur Armutsbekämpfung beitragen?

SALIL SHETTY: Alle Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit haben angefangen, von "menschenrechtsbasierter" Entwicklung zu sprechen, oft ist das aber noch sehr vage und sie müssen konkretisieren, was das bedeutet. Amnesty International steht vor der entgegengesetzten Herausforderung, nämlich zu verstehen, wie Rechte auf Entwicklung angewendet werden können. In der Praxis ist es nicht besonders sinnvoll, zwischen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten auf der einen Seite sowie politischen und bürgerlichen Rechten auf der anderen Seite zu trennen. Denn es sind dieselben Personen, deren verschiedenen Rechte verletzt werden. Wir müssen in unserer Arbeit aber von den Bereichen ausgehen, in denen Amnesty International stark ist, wie etwa das Informationsrecht oder die Einklagbarkeit von Rechten.

FRAGE: Welche Rolle sollten Ihrer Meinung nach die Mitglieder und Unterstützer übernehmen?

SALIL SHETTY: Die 2,8 Millionen Mitglieder mit ihrem enormen Potenzial, Druck von unten zu erzeugen, waren für mich ein ausschlaggebender Grund, zu Amnesty International zu kommen. Sie verleihen Amnesty Gewicht, und dies muss so bleiben. Mir ist bewusst, dass nicht alle Mitglieder und Unterstützer unserer Organisation Aktivisten im engeren Sinne werden möchten, doch haben die Sektionen vielfältige und kreative Wege entwickelt, um allen die Möglichkeit zu geben, aktiv zu werden.

FRAGE: Welches sind Ihrer Einschätzung nach derzeit die zentralen Herausforderungen an den Menschenrechtsschutz?

SALIL SHETTY: Seitdem ich begann, mich mit meiner möglichen Mitarbeit bei Amnesty International zu befassen, ist mir mehr und mehr bewusst geworden, dass die Missachtung der bürgerlichen und politischen Rechte nach wie vor ein massives Problem darstellt. Ähnlich wie im Bereich Armut gibt es auch auf diesem Gebiet noch immensen Handlungsbedarf. Deshalb wird Amnesty International auch in den kommenden Jahrzehnten nötiger denn je gebraucht werden.


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Quelle:
amnesty journal, August/September 2010, S. 81
Herausgeber: amnesty international
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. August 2010