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MELDUNG/171: Offener Brief an Bundeskanzlerin Merkel anlässlich ihrer Reise nach China


Amnesty International - Pressemitteilung vom 27. Oktober 2015

Offener Brief an Bundeskanzlerin Merkel anlässlich ihrer Reise nach China


Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin,

anlässlich Ihrer anstehenden Reise nach China möchten wir Sie bitten, sich angesichts der alarmierenden Lage der Menschenrechte gegenüber Ihren chinesischen Gesprächspartner_innen für konkrete Verbesserungen auszusprechen.

1999 vereinbarte Ihr Vorgänger mit dem damaligen chinesischen Ministerpräsidenten eine Zusammenarbeit im Rechtsbereich, die zumindest von deutscher Seite mit der Erwartung verbunden war, zum Aufbau eines Rechtsstaates in der Volksrepublik China beizutragen. Unter Führung des aktuellen Präsidenten Xi Jinping müssen wir deutliche Rückschritte bei den rechtlichen Reformen feststellen und damit auch beim Schutz der Menschenrechte. Offensichtlich ist dies spätestens seit einer massiven Kampagne der chinesischen Behörden gegen Anwält_innen im Juli dieses Jahres.

Das erste Opfer war die Anwältin Wang Yu aus Peking. In der Nacht vom 3. Juli 2015 schrieb sie noch eine SMS, mit der sie Freunde informierte, dass Personen versuchten, in ihr Haus einzudringen. Seither wird sie an einem unbekannten Ort festgehalten und der "Anstiftung zum Umsturz der Regierung" verdächtigt. Frau Wang ist den chinesischen Behörden offensichtlich ein Dorn im Auge, weil sie sich traute, Mandate in heiklen Fällen zu übernehmen. So war sie Verteidigerin von IlhamTohti, einem uigurischen Bürgerrechtler, der im September 2014 unter dem Vorwurf des "Separatismus" zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt wurde. Sie blieb nicht das einzige Opfer. Seit dieser Nacht im Juli wurden über 245 Anwält_innen und andere Personen verhaftet, die sich in China für Menschenrechte engagiert haben.

Es handelt sich hier nicht um eine einmalige Kampagne. Der Rückschritt ist systematisch. Jüngste Gesetzesänderungen, wie das neue Sicherheitsgesetz, führen in der Volksrepublik China zu noch mehr Rechtsunsicherheit. Immer mehr Bereiche gelten als Bedrohung der nationalen Sicherheit. So stellt der Entwurf für ein "Anti-Terror-Gesetz" "Extremismus" und "Terrorismus" in den Kontext religiöser Betätigung, was uns insbesondere mit Blick auf die Situation der Tibeter und Uiguren mit Sorge erfüllt. Bedroht sind nicht nur Menschenrechtsverteidiger_innen wie Wang Yu. Jeder, der in China das Internet nutzt, muss fürchten, eine rote Linie zu überschreiten und Opfer staatlicher Gewalt zu werden, weil das Gesetz vage formuliert ist und keine unabhängige Justiz den Behörden Grenzen setzt.

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, wir bitten Sie bei Ihrem Besuch in der Volksrepublik China um ein Zeichen der Solidarität mit den verfolgten Anwält_innen. Bitte äußern Sie daher Ihre Besorgnis über die jüngsten Entwicklungen im Rechtsbereich und setzen Sie sich für die Freilassung von Frau Wang und all derer, die sich allein aufgrund ihres Eintretens für die Rechte anderer in Haft befinden, ein.

Wir hoffen sehr auf Ihre Unterstützung für diese zentralen menschenrechtlichen Anliegen. Für Ihre Gespräche und Bemühungen wünschen wir Ihnen viel Erfolg.

Amnesty International Deutschland
International Campaign for Tibet
Weltkongress der Uiguren

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Quelle:
Pressemitteilung vom 27. Oktober 2015
Amnesty International, Sektion der Bundesrepublik Deutschland e.V.
Kampagnen und Kommunikation
Zinnowitzer Straße 8, 10115 Berlin
Telefon: 030/42 02 48-306, Fax: 030/42 02 48 - 330
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Internet: www.amnesty.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Oktober 2015

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