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NAHOST/122: Ägypten - Zwischen Folter und Freiheit (ai journal)


amnesty journal 08/09/2011 - Das Magazin für die Menschenrechte

Zwischen Folter und Freiheit

Unfaire Gerichtsverfahren, Jungfräulichkeitstests und Elektroschocks: Auch nach dem Sturz von Präsident Mubarak kommt es in Ägypten zu schweren Menschenrechtsverletzungen.

Von Henning Franzmeier und Jan Busse


Am 9. März räumte das Militär das letzte Protestcamp auf dem zentralen Tahrir-Platz in Kairo. Salwa Hosseini war eine der 18 Demonstrantinnen, die während der Räumung durch das Militär festgenommen wurden. Im Militärgefängnis unterzog man die 20-jährige Aktivistin zusammen mit anderen Frauen zwangsweise einem Jungfräulichkeitstest. Andere Frauen wurden in Haft geschlagen, mit Elektroschocks gefoltert und mussten sich bei Durchsuchungen ausziehen, während männliche Soldaten sie fotografierten. Dass diese erniedrigenden Praktiken von der Übergangsregierung geduldet wurden, zeigt, dass Folter auch nach dem Sturz von Präsident Mubarak ein Problem darstellt.

Der neue Innenminister Mansour el-Essawy löste zwar den berüchtigten Staatssicherheitsdienst (SSI) - ein Sinnbild für Folter und Unterdrückung der Mubarak-Ära - am 15. März offiziell auf und kam damit einer zentralen Forderung der Demonstranten nach. Doch bedeutet dies ein Ende der Folter in Ägypten? Damit der Umbruch auch einen Bruch mit dem alten Regime darstellt, ist es erforderlich, dass die neue politische Führung Hinweise auf Folter aufklärt, die Täter zur Rechenschaft zieht und den Opfern Gerechtigkeit widerfahren lässt. Dies gilt sowohl für Folter während der Mubarak-Ära als auch während der ägyptischen Revolution.

Es gibt zwar klare Anzeichen für die Bereitschaft zur Aufklärung. Das prominenteste Beispiel ist die Anklage gegen den gestürzten Präsidenten Hosni Mubarak und seine Söhne Gamal und Alaa, denen die Verantwortung für die Tötung von über 800 Demonstranten im Zuge der Revolution vorgeworfen wird. Zudem wurde der ehemalige Innenminister und Staatssicherheitschef Habib el-Adly zu zwölf Jahren Haft wegen Korruption verurteilt. Der laufende Prozess gegen ihn wegen der Todesopfer während des Umbruches wurde jedoch mehrfach vertagt. Dies trug mit zum Wiederaufflammen landesweiter Proteste seit Ende Juni bei, bei denen über Tausend Menschen verletzt wurden. Weiterhin verläuft auch die Verfolgung anderer Täter aus der Polizei oder dem SSI immer noch schleppend. Demonstranten warfen der Regierung und dem Militärrat vor, mutmaßliche Täter während laufender Ermittlungen nicht einmal vom Dienst zu suspendieren.

Auf dem Weg zu einer rechtsstaatlichen Ordnung auf der Basis von Menschenrechten ist der Umgang mit dem Thema Folter von zentraler Bedeutung. Zu einem Lackmustest könnte der Prozess gegen die Polizisten werden, die für die Ermordung von Khaled Said verantwortlich sind. Sein Tod im Juni 2010 erregte großes öffentliches Aufsehen und war einer der Zündfunken für die Revolution. Das Gerichtsverfahren wurde zunächst vorgeblich aus Sicherheitsgründen verzögert und verschleppt. Anstelle eines angekündigten Urteiles vertagte das Gericht den Prozess Ende Juni auf den 24. September, damit zusätzliche kriminal-technische Untersuchungen durchgeführt werden können.

Auch in anderen Bereichen besteht akuter Verbesserungsbedarf: Die Militärregierung ist der zentralen Forderung der Protestbewegung nach einer Abschaffung des Ausnahmezustandes noch immer nicht nachgekommen. Außerdem widerspricht es jeglichen rechtsstaatlichen Grundsätzen, dass seit dem Umsturz mindestens 7.000 Zivilisten in unfairen Schnellverfahren vor Militärgerichten verurteilt wurden. Nicht nur politische Aktivisten, sondern auch Kriminelle sind davon betroffen und erhalten kein faires Gerichtsverfahren. So verurteilte das höchste Militärgericht im Mai in klarer Missachtung internationalen Rechts einen 17-jährigen Ägypter zu Tode, weil er an einer Entführung und Vergewaltigung beteiligt gewesen sein soll.

Überdies schränkte die Übergangsregierung Ende März die Versammlungsfreiheit und das Streikrecht stark ein. Bei Protesten, die "die Arbeit öffentlicher Einrichtungen stören", drohen Geld- und Gefängnisstrafen. Zusätzliches Konfliktpotenzial bergen die sozialen und ökonomischen Spannungen innerhalb der ägyptischen Gesellschaft: Noch immer leben rund 40 Prozent der Ägypter, also etwa 32 Millionen Menschen, von weniger als zwei US-Dollar am Tag und somit unterhalb der Armutsgrenze. Über zwölf Millionen Menschen leben darüber hinaus in Slums, die Hälfte davon allein im Großraum Kairo.

Ägypten ist weiterhin ein Land im Umbruch. Der Ausgang des politischen Transformationsprozesses ist noch ungewiss. In dieser Hinsicht sind weitere Auseinandersetzungen zwischen amtierender Regierung und Opposition zu erwarten. So kündigten säkulare ägyptische Aktivisten Massendemonstrationen an, sollte die Übergangsregierung an ihren Plänen festhalten, Parlamentswahlen im September abzuhalten. Diese Forderung ist auf die Sorge zurückzuführen, dass die gut organisierte Muslimbruderschaft, die auf den Termin im September besteht, bei Wahlen einen strategischen Vorteil gegenüber anderen Parteien hätte, die zusätzliche Vorbereitungszeit benötigen.

Doch unabhängig davon, wie die Diskussion um den Zeitpunkt der Parlamentswahlen ausgeht und welche Partei siegreich daraus hervorgeht: Eine nachhaltige politische Stabilisierung kann in Ägypten nur dann gelingen, wenn in der Zukunft die Menschenrechte zum Maßstab der Politik werden. Ein wesentlicher Unterschied zur Mubarak-Ära ist jedoch, dass solche kritischen Themen weitgehend offen in der ägyptischen Gesellschaft diskutiert werden können.

Amnesty-Generalsekretär Salil Shetty hob bei seiner Reise nach Ägypten Ende Juni drei zentrale Punkte hervor: Verantwortlichkeit, Wahrheit, Gerechtigkeit. Die Politik und vor allem die Sicherheitskräfte müssen der Bevölkerung gegenüber rechenschaftspflichtig werden. Begangene Menschenrechtsverletzungen müssen aufgeklärt werden, den Opfern muss Gerechtigkeit widerfahren. Neu erkämpfte Freiheiten dürfen nicht durch neue Gesetze wieder eingeschränkt werden. Stattdessen müssen die lange vernachlässigten Probleme, gerade auch im sozialen Bereich, ernsthaft angegangen werden.

Wenn ein solcher Prozess in Gang kommt, besteht die einmalige Chance, dass Ägypten als größtes Land der arabischen Welt eine inspirierende Vorreiterrolle für die Region einnimmt und andere Länder diesem Beispiel folgen können.


Die Autoren sind Mitglieder der Amnesty-Koordinationsgruppe Ägypten.

Weitere Informationen unter www.amnesty-aegypten.de und info@amnesty-aegypten.de


VERBRECHEN GEGEN DIE MENSCHLICHKEIT IN SYRIEN

Willkürliche Verhaftungen, Folter, Tod in Haft: Ein neuer Amnesty-Bericht mit dem Titel "Crackdown in Syria: Terror in Teil Kalakh" dokumentiert zahlreiche Menschenrechtsverletzungen, die im Zuge einer Militäraktion von syrischen Sicherheitskräften und der Armee in der Stadt Teil Kalakh begangen wurden. Amnesty hat dazu im Mai und Juni mit über 50 Zeugen gesprochen. Die Interviews fanden im Libanon statt oder wurden per Telefon geführt. Aufgrund der weitreichenden und systematischen Attacken gegen die syrische Bevölkerung betrachtet Amnesty die Angriffe in Teil Kalakh als Verbrechen gegen die Menschlichkeit und fordert ein Einschalten des Internationalen Strafgerichtshofs. Der Bericht ist abrufbar unter:
http://amnesty.org/en/news-and-updates/report_abstract


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Quelle:
amnesty journal, August/September 2011, S. 22-23
Herausgeber: amnesty international
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. August 2011