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NORDAMERIKA/096: Hundert Tage Barack Obama - Zwiespältige Aussagen zur Straflosigkeit von Folter


Pressemitteilung vom 28. April 2009

Hundert Tage Barack Obama:
Zwiespältige Aussagen zur Straflosigkeit von Folter und Misshandlung

Amnesty International zieht eine gemischte Bilanz der bisherigen Amtszeit des neuen US-Präsident


LONDON/BERLIN, 29.04.2009 - Kurz nach Amtsantritt hat Präsident Barack Obama eine Reihe von Versprechungen gemacht, jedoch wenig davon umgesetzt. Zu diesem Schluss kommt ein heute veröffentlichter Bericht von Amnesty International. Seit Obamas Ankündigung, das Lager Guantánamo zu schließen, kam erst ein einziger Gefangener frei. Auch die humanitäre Aufnahme von Gefangenen in Europa lässt weiter auf sich warten. Die Menschenrechtsorganisation fordert den US-Präsidenten auf, eine unabhängige Untersuchungskommission einzurichten und die Verantwortlichen für Folter und Misshandlungen zur Rechenschaft zu ziehen. Amnesty fordert die Bundesregierung auf, den Besuch des US-Justizministers Eric Holder am heutigen Mittwoch in Berlin zu nutzen, um gemeinsam auf eine schnelles Ende der illegalen Haft für Guantánamo-Häftlinge hinzuwirken. Dazu gehört es, die USA an ihre völkerrechtlichen Verpflichtungen zu erinnern, aber auch praktisch die Aufnahme einiger Inhaftierter anzubieten, die nicht in ihre Heimatländer entlassen werden können, weil ihnen dort Folter und Verfolgung droht.

Präsident Obama hat vier Memoranden der Vorgängerregierung zur Veröffentlichung frei gegeben, welche die CIA ermächtigten, Gefangene in geheimer Haft mit Folter und anderen Misshandlungen zu verhören. Obama hat die Folterpraxis verurteilt, aber gleichzeitig erklärt, dass niemand für Handlungen verurteilt werde, die seinerzeit den Richtlinien des Justizministeriums entsprochen hätten.

Obama hat eine Verfügung zur Schließung des Gefangenenlagers Guantánamo unterzeichnet, sich aber nicht darauf festgelegt, die Gefangenen entweder vor zivilen Gerichten anzuklagen oder sie frei zu lassen. Der Präsident hat versprochen, dass die Fälle der rund 240 Häftlinge «nacheinander und so schnell wie möglich» überprüft würden, um festzustellen, ob sie verlegt oder entlassen werden könnten. Bis heute erlangte nur ein Gefangener die Freiheit und keiner wurde angeklagt. Und dies, obwohl bereits US-amerikanische Bundesrichter die sofortige Entlassung von einzelnen Gefangenen angeordnet haben.

Präsident Obama hat angeordnet, dass die CIA alle geheimen Haftanstalten schließt und keine solchen Einrichtungen mehr nutzt. Er hat jedoch die Möglichkeit offen gelassen, auch in Zukunft Personen zu entführen und im Ausland «für kurze Zeit und vorübergehend» zu inhaftieren.

Mit einer präsidialen Verfügung hat Obama die Anwendung von Folter und anderen Formen von Misshandlungen bei Verhören untersagt. Gleichzeitig hat er ohne Einschränkung die Vernehmungsmethoden aus dem Armeehandbuch (Army Field Manual) zugelassen. Darin werden Schlafentzug, Isolationshaft sowie auch die Ausnutzung von Phobien von Gefangenen nicht ausgeschlossen, was dem internationalen Verbot von Folter und Misshandlungen widerspricht.

«Amnesty International begrüßt das Verbot der Folter und die von Präsident Obamaangekündigte Schließung von Guantánamo», erklärte Ferdinand Muggenthaler, USA-Experte von Amnesty International. «Aber solange die USA die illegalen Inhaftierungen nicht beenden und die Verantwortlichen der Bush-Regierung für Folter und andere schwere Menschenrechtsverletzungen nicht zur Rechenschaft ziehen, ist das Kapitel nicht abgeschlossen.»


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Im Anhang ist eine aktuell auf den Stand der Umsetzung kommentierte Liste von Empfehlungen und Erwartungen, die Amnesty vor Obama vor seinem Amtsantritt übermittelt hatte, zu finden.


RECHT UND GERECHTIGKEIT IM KAMPF GEGEN DEN TERROR - CHECKLISTE:

BILANZ DER ERSTEN 100 TAGE AMTSZEIT VON PRÄSIDENT OBAMA

Vor Amtsantritt Obamas veröffentlichte Amnesty International eine Liste von Empfehlungen und Erwartungen für die ersten hundert Tage. Und das ist dabei herausgekommen:


GUANTÁNAMO SCHLIEßEN, ILLEGALE HAFT BEENDEN

1. Bestätigen Sie, dass die USA das Gefangenenlager in Guantánamo Bay für immer schließen wird und setzen Sie eine kurze Frist für die Schließung.

Umgesetzt:
Die Verfügung des Präsidenten vom 22. Januar 2009 ordnet an, genaue Angaben über die Identität der noch im Marinestützpunkt Guantánamo Bay Inhaftierten zu machen, eine Überprüfung aller Fälle vorzunehmen, und die Hafteinrichtung zu schließen.

2. Ordnen Sie mit einer Verfügung an, dass jede Form von rechtswidriger Überstellung (rendition), geheimer Haft oder langer Isolationshaft durch die US-Behörden oder in ihrem Auftrag sofort beendet wird.

Fortschritt:
Die Präsidialverfügung "Sicherstellen gesetzlich einwandfreier Verhöre" ("Ensuring Lawful Interrogation") beendet das CIA-Programm der langfristigen geheimen Haft und gewährt dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz Zugang zu Häftlingen der USA. Die Verfügung beendet jedoch nicht die Praxis der rechtswidrigen Gefangenenüberstellungen und lässt der CIA die Möglichkeit, kurzfristig und als Übergang Personen gefangen zu halten oder vom Ausland kontrollierte Einrichtungen zu nutzen und Gefangene dort im Auftrag verhören zu lassen.

3. Heben Sie die Verfügung ihres Amtsvorgängers vom 20. Juli 2007 auf, mit der die Fortführung des CIA-Programms der Geheimgefängnisse und geheimen Verhören bewilligt wurde.

Umgesetzt:
Diese Anordnung wurde durch Absatz 1 der Präsidialverfügung "Sicherstellen gesetzlich einwandfreier Verhöre" zurückgenommen.

4. Heben Sie die Verfügung vom 13. November 2001 an das Militär über Inhaftierung, Behandlung und Verfahren gegen bestimmte Nicht-US-Bürger im "Krieg gegen den Terror" auf.

Unklar:
Alle Präsidialverfügungen der Jahre 2001 bis 2009, die nicht mit der Präsidialverfügung "Sicherstellen gesetzlich einwandfreier Verhöre" in Einklang stehen, wurden zurückgenommen. Auf einige Verfügungen wurden jedoch nicht konkret eingegangen. So ist zum Beispiel unklar, ob die Verfügung vom 13. November 2001 ganz zurückgenommen wurde, insbesondere als mögliche Autorisierung für die Inhaftierung von Einzelpersonen.

5. Schaffen Sie die Verfahren durch die Militärkommissionen ab und heben Sie das System der Militärtribunale zur Überprüfung des Gefangenenstatus (Combatant Status Review Tribunals) und die Kommissionen zur Überprüfung der weiteren Inhaftierung (Administrative Review Boards) auf.

Fortschritt:
Die Militärkommissionen wurden außer Kraft gesetzt. Sie sind jedoch nicht dauerhaft abgeschafft worden und die US-Regierung beruft sich auf anhängige Klagen unter dem Militärkommissionsgesetz, um bestimmte Haftprüfungsanträge (habeas corpus) abzulehnen.

6. Kündigen Sie an, dass gegen Guantánamo-Häftlinge umgehend Anklage erhoben wird und dass die entsprechenden Verfahren vor US-amerikanischen Bundesgerichten stattfinden werden. Sollte keine Anklage erhoben werden, müssen die Häftlinge mit einer Garantie für vollständigen Schutz vor weiteren Menschenrechtsverletzungen freigelassen werden. Stellen Sie eine ausreichende Finanzierung für die Durchsetzung dieses Vorhabens sicher.

Bisher nichts unternommen.

7. Gewährleisten Sie, dass Guantánamo-Häftlingen, die bei einer Rückkehr in ihr Herkunftsland schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen fürchten müssen, die Möglichkeit geboten wird, in den USA zu leben, falls sie dies wünschen. Arbeiten Sie mit anderen Regierungen zusammen, damit Häftlinge, die nicht in den USA leben möchten, Schutz in anderen Ländern erhalten.

Unterschiedliche Reaktionen:
Andere Regierungen, darunter Frankreich und Irland, haben angekündigt, dass sie Gefangenen Schutz anbieten, die nicht in ihre Heimatländer rückgeführt werden können. Die US-Regierung hat sich nicht öffentlich verpflichtet, Guantánamo-Häftlingen die Möglichkeit einzuräumen, in den USA zu leben, nicht einmal denen, deren Freilassung von US-Gerichten angeordnet wurde.

8. Verpflichten Sie die US-Regierung, niemanden willkürlich seiner Freiheit zu berauben (auch nicht durch Rechtsverweigerung oder -manipulation einer erfolgreichen richterlichen Überprüfung). Beenden Sie mit sofortiger Wirkung den Widerstand der US-Regierung gegen die Durchführung von Haftprüfungsanhörungen der Guantánamo-Häftlinge und gegen andere ähnliche Maßnahmen.

Rückschritt:
Die Regierung hat die Politik der vorherigen Regierung hinsichtlich der Inhaftierungen auf dem US-Luftwaffenstützpunkt in Afghanistan übernommen und gegen die Entscheidung Rechtsmittel eingelegt, einigen dort Inhaftierten Haftprüfungsrechte (habeas corpus) einzuräumen.

Obwohl das Recht der Guantánamo-Häftlinge auf Haftprüfung anerkannt wurde, erfährt diese juristische Überprüfung unter der neuen Regierung Verzögerungen. Die Regierung lehnt es weiterhin ab, bei den Habeas Corpus-Verfahren die Behandlung der Gefangenen und deren Haftbedingungen einzubeziehen.


FOLTER UND ANDERE MISSHANDLUNGEN VERBIETEN

9. Erlassen Sie eine Verfügung, in der sich die USA verpflichten, dem Völkerrecht entsprechend unter keinen Umständen Folter oder andere Formen grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung anzuwenden.

Fortschritt:
Die Präsidialverfügung "Sicherstellen gesetzlich einwandfreier Verhöre" ist ein wichtiger Schritt nach vorne und läutet ein Ende der euphemistisch als "erweiterte Verhörmethoden" bezeichneten Techniken des geheimen Haftprogramms ein. Amnesty International ist jedoch besorgt darüber, dass das Army Field Manual (Armeehandbuch) als Grundlage dient, da es Formulierungen enthält, die Folter und anderen Misshandlungen Vorschub leisten können. Außerdem wird nicht festgehalten, dass der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte und anderer Menschenrechtsstandards eingehalten werden müssen. Lediglich auf die Antifolterkonvention wird Bezug genommen.

10. Geben Sie bekannt, dass die US-Regierung in Gerichtsverfahren auf keinerlei Informationen zurückgreifen wird, die unter Folter oder anderer grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung erpresst worden sind. Dies gilt nicht für Fälle, in denen gegen einen mutmaßlichen Täter solcher Folter und Misshandlung ermittelt wird.

Bisher nichts unternommen.

11. Verpflichten Sie sich zur Zusammenarbeit mit dem Kongress, um alle Vorbehalte und Einschränkungen in Bezug auf Folter und andere Misshandlungen zurückzuziehen, die die USA bei der Ratifizierung von Menschenrechtsabkommen angebracht haben, einschließlich des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte und des UN-Übereinkommens gegen Folter.

Bisher nichts unternommen.

12. Ordnen Sie die Aufhebung der Geheimhaltung aller Rechtsgutachten und anderer Dokumente an, in denen Verhörmethoden und Haftbedingungen genehmigt oder gutgeheißen wurden und in denen die Frage diskutiert wird, ob die betreffenden Methoden oder Bedingungen in Einklang stehen mit dem nationalen oder internationalen Verbot von Folter oder anderer grausamer, unmenschlicher oder entwürdigender Behandlung oder Bestrafung.

Fortschritt:
Eine Reihe zuvor unter Verschluss gehaltener juristischer Kommentare des Büros für Rechtsberatung des US-Justizministeriums sind inzwischen veröffentlicht worden. Die Rücknahme der Einstufung als geheim des erweiterten Berichts des Senatsausschusses für die Streitkräfte lieferte ebenfalls wichtige Informationen.


STRAFLOSIGKEIT BEENDEN

13. Stellen Sie sicher, dass die Programme der rechtswidrigen Gefangenenüberstellungen (renditions) und der Geheimgefängnisse, die durch die US-Behörden oder in ihrem Auftrag durchgeführt worden sind, strafrechtlich verfolgt werden.

Bisher nichts unternommen.

14. Sorgen Sie dafür, dass Verbrechen die gegen das Völkerrecht verstoßen, wie Folter, andere Formen der Misshandlung von Häftlingen sowie das "Verschwindenlassen", nicht ungestraft bleiben.

Bisher nichts unternommen.
Der US-Präsident sowie der Justizminister und der Direktor der CIA scheinen willens zu sein, Straflosigkeit zumindest für einige derjenigen zu akzeptieren, die für Verbrechen begangen haben, die gegen das Völkerrecht verstoßen, wie Folter, andere Formen der Misshandlung von Häftlingen und das "Verschwindenlassen".

15. Setzen Sie eine unabhängige Untersuchungskommission ein, die alle Aspekte der Inhaftierungs- und Verhörpraktiken der USA im sogenannten "Krieg gegen den Terror" überprüft.

Bisher nichts unternommen:
Präsident Obama sagte, dass "falls und wenn" eine größere Rechenschaftspflicht nötig sein sollte, der Kongress nach Wegen suchen könne, wie dies parteiübergreifend erzielt werden kann. Abgesehen davon wurden allerdings von der Regierung keine Zusagen gemacht, die sicherstellen würden, dass tatsächlich eine handlungsfähige und unabhängige Untersuchungskommission eingesetzt wird.

16. Veröffentlichen Sie Namen, Staatsangehörigkeit, gegenwärtigen Aufenthaltsort, Status und Umstände der Inhaftierung all derjeniger, die Opfer einer rechtswidriger Überstellung (rendition) geworden sind oder in einem Geheimgefängnis festgehalten wurden.

Bisher nichts unternommen.

17. Kündigen Sie an, dass die US-Regierung alles daran setzen wird, dass Opfer von Menschenrechtsverletzungen, für welche die US-Behörden verantwortlich sind, eine vollständige Wiedergutmachung und eine angemessene Entschädigung erhalten.

BISHER NICHTS UNTERNOMMEN:
WENN ÜBERHAUPT, GIBT ES HIER NUR RÜCKSCHLÄGE ZU VERZEICHNEN. DAS JUSTIZMINISTERIUM BERUFT SICH AUF STAATSGEHEIMNISSE UND MILITÄRISCHE IMMUNITÄT IN EINER ART UND WEISE, DIE ES OPFERN VON MENSCHENRECHTSVERLETZUNGEN UNMÖGLICH MACHEN WÜRDE, EINE WIEDERGUTMACHUNG UND EINE ANGEMESSENE ENTSCHÄDIGUNG ZU ERHALTEN.


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AMNESTY INTERNATIONAL ist eine von Regierungen, politischen Parteien, Ideologien, Wirtschaftsinteressen und Religionen unabhängige Menschenrechtsorganisation. Amnesty kämpft seit 1961 mit Aktionen, Appellbriefen und Dokumentationen für die Opfer von Menschenrechtsverletzungen auf der ganzen Welt. Die Organisation hat weltweit 2,2 Millionen Unterstützer. 1977 erhielt Amnesty den Friedensnobelpreis.


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Quelle:
ai-Pressemitteilung vom 28. April 2009
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. April 2009