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RUSSLAND/051: Zum Gedenken an Anna Politkowskaja (amnesty journal)


amnesty journal 12/2006 - Das Magazin für die Menschenrechte

Tödliche Berufung
In Russland werden kritische Journalisten mit dem Tode bedroht und ermordet
Zum Gedenken an Anna Politkowskaja

Von Peter Franck


Wir haben immer gewusst, in welcher Gefahr Anna Politkowskaja lebte. Spätestens nach der lebensgefährlichen und nie aufgeklärten Vergiftung, die sie sich Anfang September 2004 auf dem Weg nach Beslan zugezogen hatte, war das Risiko klar, das sie mit ihrer Arbeit auf sich nahm. Sie war damals aufgebrochen, um sich vor Ort ein persönliches Bild vom Ablauf des Geiseldramas in der Schule zu machen und wohl auch um - wie schon bei der Geiselnahme im Moskauer Musical Theater Dubrowka im Oktober 2002 - nach Möglichkeiten zu suchen, durch Verhandlungen das Schlimmste für die Menschen vielleicht noch abzuwenden. Ihre Reise endete im Krankenhaus von Rostow-am-Don. Anna Politkowskaja war, nachdem sie an Bord des Flugzeugs, das sie in den Süden Russlands bringen sollte, einen Tee getrunken hatte, ohnmächtig geworden. Zwei Jahre später, am Nachmittag des 7. Oktober 2006, wurde Anna Politkowskaja im Treppenhaus zu ihrer Wohnung in Moskau erschossen.

Sie war eine der ganz wenigen Journalisten, die unabhängig und ohne Rücksicht auf eigene Gefährdungen über den zweiten Tschetschenienkrieg, die Menschenrechtslage im gesamten Nordkaukasus, aber auch über das Schicksal von Flüchtlingen in Russland und über Korruption und Missstände in der Armee berichtet haben. Ihre Artikel und Recherchen haben maßgeblich dazu beigetragen, dass es nicht gelungen ist, Tschetschenien zur "Verschlusssache" zu machen.

Das war immer gefährlich. 2001 verließ sie Russland, nachdem sie Morddrohungen im Zusammenhang mit ihrer journalistischen Tätigkeit in Tschetschenien erhalten hatte. Nach einigen Monaten in Österreich hielt sie es nicht mehr aus und kehrte nach Russland zurück. Sie beschrieb einen Vorfall im Februar 2002: Militäroffiziere hielten sie in Tschetschenien für mehrere Stunden in Haft, bevor es der örtlichen Militärstaatsanwaltschaft gelang, sie zu befreien.

Aber Anna Politkowskaja war mehr als eine unabhängige Journalistin. Sie war eine mutige Menschenrechtsverteidigerin, die ohne Rücksicht auf die eigene Person beharrlich und unerschrocken das Schicksal einzelner Opfer von Menschenrechtsverletzungen auch international bekannt gemacht hat.

Osman Bolijew, Leiter der dagestanischen Menschenrechtsorganisation "Romaschka", drückt es so aus: "Während sie mein Leben rettete, gab sie das ihre." Bolijew hatte den Angehörigen eines "Verschwundenen" dabei geholfen, eine Klage beim Europäischen Menschenrechtsgerichtshof einzureichen. Im November 2005 wurde er wegen unerlaubten Waffenbesitzes verhaftet. Er gab an, im Gefängnis schwer misshandelt worden zu sein, und beteuerte seine Unschuld. Anna Politkowskaja veröffentlichte seinen Fall, und nun änderte sich alles: Es gab öffentliche Proteste, Bolijew wurde freigelassen und schließlich von allen Vorwürfen freigesprochen, weil der Fall "fabriziert" worden sei.

Anna Politkowskaja hat mit ihrer Arbeit auch internationale Menschenrechtsorganisationen - wie amnesty international - unterstützt. Viele Informationen, die ai zum Gegenstand von Anfragen an die russischen Behörden gemacht hat, stammen von ihr. Dabei hat sie unsere Arbeit auch immer kritisch begleitet: Sie blieb auch hier eine unabhängige Journalistin.

Spekulationen, wer im Hintergrund verantwortlich war und den Mord befohlen hat, machen an dieser Stelle wenig Sinn. Aber niemand zweifelt daran, dass die Tat mit dem Beruf Anna Politkowskajas zusammenhängt. Auch wenn sich derzeit keine Schuld staatlicher Stellen ergibt, so stellt sich doch die Frage nach der Verantwortlichkeit der russischen Politik für eine Situation, in der regelmäßig Personen des öffentlichen Lebens ermordet werden.

Wenn der russische Präsident Wladimir Putin alle Anstrengungen zur Aufklärung des Mordes verspricht, ist das in zivilisierten Staaten eine Selbstverständlichkeit. Das reicht aber nicht aus. Es gab kein klares Wort über die Wichtigkeit eines unbequemen Journalismus für ein demokratisches Gemeinwesen. Es gab keine Verurteilung des Mordes als Anschlag auf die rechtsstaatliche, demokratische Entwicklung Russlands. Statt dessen gab es nur den zynischen Hinweis, dass der Mord der russischen Regierung mehr Schaden zugefügt habe als die Reportagen des Opfers, die in Russland kein Echo gefunden hätten.

Die Bedrohungen, denen Anna Politkowskaja ausgesetzt war, sind kein Einzelfall. Sie betreffen auch Menschen, mit denen die deutsche ai- Sektion seit Jahren eng zusammenarbeitet.

Es besteht Anlass zu tiefer Sorge: Lidia Jusupowa hat jahrelang unter extremen Bedingungen als Rechtsanwältin in Grosny gearbeitet und sich dort mit großem Mut für die Opfer von Menschenrechtsverletzungen eingesetzt. Sie befindet sich derzeit zu einem Studienaufenthalt in Moskau. In diesem Jahr wurde sie für den Friedensnobelpreis nominiert. Sie berichtete von einem Anruf, den sie am 12. Oktober erhalten hat. In tschetschenischer Sprache wurde ihr gedroht, sie werde möglicherweise nicht mehr lange genug leben, um den Preis am 10. Dezember entgegenzunehmen. Sind wir jetzt erleichtert, dass Lidia Jusupowa diesem Risiko entgangen ist, weil der Preis anderweitig vergeben wurde? Oder Swetlana Gannuschkina, Trägerin des Menschenrechtspreises 2003 der deutschen ai-Sektion. Sie hat ein landweites Netz von Beratungszentren für Flüchtlinge aufgebaut. Immer wieder findet sie sich unter Nennung aller Kontaktdaten auf rechtsradikalen Internet-Seiten an der Spitze der Liste der "Feinde des russischen Volkes".

Es kommt jetzt darauf an, der russischen Regierung klar zu machen, dass sie für den Schutz derer, die sich für Bürger-und Menschenrechte einsetzen, verantwortlich ist. Dass wir alle Anstrengungen unternehmen, zu diesem Schutz beizutragen, schulden wir dem Andenken Anna Politkowskajas.

Der Autor ist Sprecher der Russland-Kogruppe der deutschen ai- Sektion.


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Mahnwache für Anna Politkowskaja

Mehrere Dutzend Menschen gedachten am 16. November vor der Botschaft der Russischen Föderation in Berlin der kritischen Journalistin Anna Politkowskaja. amnesty international und Reporter ohne Grenzen (ROG) forderten den Kreml auf, Presse- und Meinungsfreiheit zu garantieren und alles zu tun, um politisch motivierte Morde und Gewalt zu verhindern. Präsident Wladimir Putin und die russische Regierung sollten sich unmissverständlich hinter all jene stellen, die sich für Menschenrechte einsetzen. Mit Kerzen und Plakaten erinnerte amnesty daran, wie wichtig der Schutz von Menschenrechten und deren Verteidigern ist.


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Quelle:
amnesty journal, Dezember 2006, S. 28+29
Herausgeber: amnesty international
Sektion der Bundesrepublik Deutschland e.V., 53108 Bonn
Telefon: 0228/98 37 30
E-Mail: info@amnesty.de
Internet: www.amnesty.de

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veröffentlicht im Schattenblick am 12. Januar 2007