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SÜDAMERIKA/037: Die brasilianische Obdachlosenbewegung (ai journal)


amnesty journal 02/03/2009 - Das Magazin für die Menschenrechte

Das zweite Leben

Von Dawid Danilo Bartelt


Sie muss bereits als Kind arbeiten und sitzt dennoch mit ihrer Familie in São Paulo auf der Straße. Dann schließt sich Ivaneti de Araújo der Obdachlosenbewegung an und besetzt gemeinsam mit mehreren hundert Familien ein leerstehendes Bürogebäude. Auch mit Hilfe internationaler Unterstützung erzielt sie bemerkenswerte Erfolge - und erkämpft sich ihre Würde zurück.


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Auf dem Weg zum Flughafen klingelte das Telefon: Der Typ sei wieder aufgetaucht, rief die 14-jährige Tochter ganz aufgeregt. "Der Typ" hatte sich vor allem Frauen gegenüber so benommen, dass die Hausgemeinschaft ihm die Tür weisen musste. Aber das ehemalige Hotel hat viele Türen, und wie setzt eine selbstverwaltete Gruppe, die sich mit der Besetzung eines Gebäudes in São Paulo am Rande der Legalität bewegt, Sanktionen durch? Ivaneti de Araújo brach die Vorbereitungen zu ihrer ersten Auslandsreise ab; die Sicherheit ihrer beiden minderjährigen Töchter ging vor, der Flug war verloren.

Tage später stand sie dann doch noch auf der Bühne des Brechttheaters in Berlin - rechtzeitig zur Verleihung des Amnesty Menschenrechtspreises an die Organisation WOZA aus Simbabwe. Und dann erzählte die hochgewachsene 36-Jährige souverän von ihrem Leben als Obdachlose und ihrem Engagement für ein menschenwürdiges Wohnen.

Alles begann zu früh: das Arbeiten, die ersten Kinder, das Alter. Mit acht Jahren schuftete Ivaneti de Araújo bereits als Landarbeiterin auf Baumwoll- und Erdnussplantagen. Kein Wunder, dass sie im Schulunterricht fest schlief. Mit 14 bekam sie ihr erstes Kind. Sie verließ ihren Heimatort Guariba im Bundesstaat São Paulo und ging in die Provinzhauptstadt Ribeirão Preto, um sich als Hausangestellte zu verdingen, für keine hundert Euro im Monat. Den Sohn musste sie bei der Großmutter lassen und sah ihn nur alle zwei Wochen.

In Ribeirão Preto lernte sie ihren späteren Ehemann und Vater ihrer Töchter kennen. Der Metallarbeiter erhielt ein Angebot, in São Paulo zu arbeiten. Die Wohnung, die der Chef zur Verfügung stellte, war klein, vor allem aber feucht. Die Jüngste bekam Bronchitis, sogar Herzprobleme. Ob eine kleine Lohnerhöhung möglich sei, fragte der Mann, damit sie eine trockene Wohnung mieten könnten? Als Antwort auf die leise Bitte erhielt er die fristlose Kündigung. Die junge Familie lebte mit ihren beiden Kleinkindern unter einer Schnellstraßenunterführung, mitten im dem Moloch von São Paulo.

Die Stadt mit zehn Millionen Einwohnern symbolisierte lange Zeit die erfolgreiche nachholende Industrialisierung Brasiliens. Auch heute noch erwirtschaftet der Großraum São Paulo ein Sechstel des brasilianischen Bruttoinlandsprodukts. Doch im Wandel zur Dienstleistungsmetropole verlieren vor allem ungelernte Arbeiterinnen und Arbeiter ihre Jobs. Das staatliche soziale Netz ist mehr als fadenscheinig. So kann Arbeitslosigkeit binnen Monaten in die Obdachlosigkeit führen. "Als wir da ankamen, hatte ich das Gefühl, dass ich den Rest meiner Würde verloren hatte, und dass ich von dort nicht mehr wegkomme", sagt Ivaneti zehn Jahre später. "Ich schlief nicht mehr, aus Angst vor Überfällen; es gab keine Dusche, keine Toilette, keine Tür, die ich schließen konnte; ich musste lernen, zu betteln, ich musste die List und Härte erlernen, die man zum Überleben auf der Straße braucht."

Nach einigen Monaten wird ihr Mann von Aktivisten der Obdachlosenbewegung MSTC angesprochen und erhält einen Mitgliedsausweis. Damit bekämen sie eine Wohnung, erzählt er begeistert, doch Ivaneti lacht ihn bitter aus. Sie könnten in einem früheren Krankenhaus wohnen, es sei besetzt, berichtete er am Tag darauf. "Krankenhaus? Da werden wir doch alle krank. Dort gehe ich nicht hin. Er schüttelte mich und sagte: Dann muss ich anfangen, zu stehlen, zu dealen. Und du wirst mir jeden Tag das Essen ins Gefängnis bringen. Da stimmte ich zu."

Ab diesem Tag begann der Kampf um Menschenrechte eine zentrale Rolle in ihrem Leben zu spielen. Die ehemalige Erdnusspflückerin spricht heute vor hunderten Zuhörern, sie bewegt sich im Gestrüpp der Behörden und Bestimmungen, sie organisiert Demos und ist Beigeordnete des Stadtrats für Wohnungswesen. Sie liest und schreibt, als hätte sie eine lückenlose Schulbildung genossen. Doch ihre Arbeit bei der Obdachlosenbewegung von São Paulo-Mitte hat ihr viel mehr als nur die fehlenden Schuljahre ersetzt. Sie hatte ihre Würde zurückerstritten, sagt sie.

Obdachlos ist Ivaneti noch immer, doch eine Wohnung in der Innenstadt haben ihr die Behörden fest versprochen. Die Bedeutung dieses Versprechens ist kaum zu überschätzen.

Alles begann 2003, als Obdachlose das Gebäude "Prestes Maia" besetzten, das daraufhin zum Symbol der Bewegung wurde. Das Bürogebäude stand jahrelang leer, die Eigentümer schuldeten der Stadt Millionen an Steuern. Immer wieder drohten die Behörden mit der Räumung, Anfang 2007 standen die Räumkommandos in der Tür. Ivaneti organisierte in der fernen Bundeshauptstadt Brasília Proteste vor dem Parlament. Amnesty International veröffentlichte mehrere Urgent Actions für die Bewohner von Prestes Maia. "Nun waren wir als Verhandlungspartner für die Behörden akzeptabel", lacht Ivaneti. "Die hatten gemerkt, dass eine internationale Öffentlichkeit genau zusieht."

Was danach geschah, könnte zum Präzedenzfall werden: Stadt- und Landesregierung von São Paulo sichern nun Wohnraum zu - ein Häuschen am Stadtrand sofort, oder eine Wohnung in der Innenstadt, die noch gefunden werden muss. Bis es soweit ist, übernimmt die Verwaltung die Miete für eine Zwischenwohnung. Darin liegt auch ein Zugeständnis: Der Staat ist für die Bereitstellung bezahlbaren Wohnraums in den Städten verantwortlich.

Das gesamte letzte Jahrhundert hindurch haben staatliche Behörden die Armen als Säuberungsfall "urbaner Hygiene" betrachtet und kriminalisiert. Selbstorganisierter Billigwohnraum wird zerstört, eilig hochgezogene Sozialsiedlungen an der Peripherie, weit entfernt von den Arbeitsplätzen, können nur einen kleinen Teil auffangen. Im Großraum São Paulo stehen 450.000 Gebäude leer, viele davon aus Spekulationsgründen, viele seit mehr als zehn Jahren.

Die MSTC schlägt vor, solche Gebäude, die den Staat viel Geld kosten, in sozialen Wohnraum zu überführen. In Prestes Maia könnten 250 Wohneinheiten entstehen, dazu im Erdgeschoss eine Krankenstation und ein Kindergarten. Bei bis zu 20.000 Obdachlosen, 1,3 Millionen Slumbewohnern und weiteren drei Millionen Bürgern São Paulos, die in prekären Verhältnissen wohnen, sicher nur ein Anfang. Für 15 Gebäude hat MSTC einen konkreten Vorschlag zur Enteignung und Umwandlung vorgelegt, in drei Fällen ist der Prozess angelaufen.

"Heute wollte uns die Elektrizitätsgesellschaft den Strom abdrehen", schreibt Ivaneti, als sie nach der Preisverleihung wieder zurück in São Paulo ist. "Aber wir konnten das vorläufig verhindern".


Der Autor ist Pressesprecher der deutschen Sektion von Amnesty International.


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Quelle:
amnesty journal, Februar/März 2009, S. 50-51
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. April 2009