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EUROPA/517: Türkei - Kritik an Wulffs Besuch des Atatürk-Mausoleums


Presseerklärung vom 20. Oktober 2010

Besuch des Bundespräsidenten im Atatürk-Mausoleum irritiert

Menschenrechtler: "Unter Atatürk wurden hunderttausende Christen und Kurden ermordet"


Den Besuch von Bundespräsident Christian Wulff im Atatürk-Mausoleum in Ankara hat die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) als "irritierend" bezeichnet. "Wir begrüßen es sehr, dass der Bundespräsident öffentlich den Schutz der Christen in der Türkei angemahnt hat. Doch umso unverständlicher ist uns die Kranzniederlegung am Mausoleum von Kemal Atatürk, unter dessen Herrschaft hunderttausende Christen und Kurden getötet und mehrere Millionen vertrieben worden sind", kritisierte der Präsident der GfbV International, Tilman Zülch. "Angesichts dieser Massenmorde hätte Wulff die Grabstätte Atatürks nicht besuchen dürfen. Nicht einmal Russland oder Italien fordern, dass ausländische Staatsoberhäupter Lenin oder Mussolini ihre Referenz erweisen." Außerdem bedauerte Zülch, dass Wulff in seiner Rede vor dem türkischen Parlament in Ankara mit keinem Wort auf den Schauprozess gegen 151 kurdische Politiker und Bürgerrechtler eingegangen ist, der am Montag im Südosten der Türkei begann. Mehr als 1600 Kurden, die sich größtenteils für Rechtsstaatlichkeit und Gleichberechtigung engagierten, wurden dort seit dem Frühjahr 2009 inhaftiert.

Atatürk habe nach dem Genozid der Jungtürken an etwa 1,5 Millionen Armeniern und rund 500.000 christlichen Assyrern/Aramäern die Eliminierung der Christen fortgesetzt. Mindestens 200.000 Christen in der Region um die Hafenstadt Smyrna, dem heutigen Izmir, und in Ostthrazien im europäischen Teil der Türkei fielen unter seiner Herrschaft Massenmorden zum Opfer. Anderen Schätzungen zufolge könnten dabei bis zu 350.000 Christen getötet worden sein. Mindestens zwei Millionen griechisch-orthodoxe, aber auch armenische und assyrisch-aramäische Christen aus dem Pontos (Kappadokien) und Ionien sowie arabische Christen aus dem Sandschak Alexandrette, dem heutigen Iskenderun, wurden damals vertrieben. Der Anteil der Christen an der Gesamtbevölkerung innerhalb der Grenzen der heutigen Türkei fiel so innerhalb von 50 Jahren von 20 Prozent auf etwa 0,1 Prozent.

Auch gegen die kurdische Bevölkerung ging Atatürk gnadenlos vor. Drei Erhebungen kurdischer Freiheitsbewegungen wurden blutig niedergeschlagen. Nach dem Scheich-Said-Aufstand 1925 starben bei der anschließenden Deportation von annähernd eine Million Kurden Hunderttausende an Unterernährung und Krankheiten auf dem Weg ins Exill. Während der Verhandlungen mit Kurdenführer Nurid Pascha metzelte die türkische Armee 1929 mindestens 10.000 Kurden in mehr als 200 Dörfern nieder und machte bis zu 500 Ortschaften dem Erdboden gleich. Hunderttausende wurden zwangsumgesiedelt. 1937 zwang die türkische Armee in der Region Dersim den kurdischen Widerstand gegen Türkisierung, Deportationen und Arbeitsdienst nieder. Es gab Massenvergewaltigungen kurdische Frauen und Mädchen und Massaker an der Zivilbevölkerung. Mehr als 50.000 Kurden wurden damals in Dersim ermordet, 100.000 deportiert.


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Quelle:
Presseerklärung Göttingen/Ankara, den 20. Oktober 2010
Herausgeber: Gesellschaft für bedrohte Völker e. V.
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Tel.: 0551/49906-25, Fax: 0551/58028
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Oktober 2010