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EUROPA/603: Berg-Karabach - Deutschland muss OSZE-Vorsitz für Befriedung nutzen


Presseerklärung vom 4. April 2016

Berg-Karabach - Deutschland muss OSZE-Vorsitz für nachhaltige Befriedung nutzen!


Die schweren Auseinandersetzungen um die armenische Enklave Berg-Karabach müssen vom deutschen OSZE-Vorsitz zum Anlass genommen werden, um eine neue Friedensinitiative ins Leben zu rufen, fordert die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV). Der Gewaltausbruch am vergangenen Wochenende war mit mindestens 32 Toten auf beiden Seiten - Soldaten und Zivilisten - einer der blutigsten seit dem Waffenstillstand 1994. Heute Morgen und am Vormittag halten die Kämpfe an, das melden beide Seiten. Mindestens 18 Personen kamen am Wochenende auf armenischer und zwölf auf Seiten Aserbaidschans ums Leben, darunter der zwölfjährige Armenier Warinak Grigorjan aus dem Bezirk Martuni. 2014 waren zehn Soldaten in einem Zeitraum von drei Tagen getötet worden. Der Konflikt um Berg-Karabach ist einer der langjährig ungelösten Krisenherde Europas. Zwischen 1992 und 1994 starben 38.000 Menschen durch den Krieg um die Enklave, mehr als 1,1 Millionen wurden vertrieben. Trotz der Bemühungen der Minsk-Gruppe konnte kein nachhaltiger Frieden vermittelt werden. Dies wäre nach Auffassung der GfbV jedoch vor dem Hintergrund der weltweiten Konflikte umso wichtiger.

Der Verteidigungsminister Aserbaidschans Zakir Hasanow gab an, Territorien seien "befreit" worden und nannte Aghdere, Tartar, Aghdam, Khojavend und Fuzuli. Diese Gebiete liegen an der so genannten Kontaktlinie. Die 110 Meilen lange Waffenstillstandslinie zwischen Karabach und Aserbaidschan, an der sich jeweils etwa 20.000 Soldaten gegenüberstehen, wurde bisher von nicht mehr als sechs unbewaffneten Beobachtern der OSZE observiert. Eine Veränderung dieser Linie hätte weitreichende Folgen, doch die Informationen konnten noch nicht von unabhängiger Seite bestätigt werden. Diese Kontaktlinie ist mittlerweile massiv militarisiert. Schwere Waffen wie Kampfhubschrauber, Drohnen und Flugzeuge stehen bereit. In kurzer Zeit könnten also massive Zerstörung angerichtet werden.

Leider spielt Russland bei dem Konflikt eine ambivalente Rolle, die zu seiner Verlängerung beiträgt. Einerseits liefert die Russische Föderation den Großteil der aserbaidschanischen Waffen, andererseits gibt sie sich als militärische Schutzmacht Armeniens aus und liefert auch dorthin Waffen. Laut dem neuesten Bericht des Stockholmer internationalen Friedensforschungsinstituts (Sipri) stiegen die Waffenimporte Aserbaidschans zwischen 2010 und 2015 um 217 Prozent. Baku kaufte moderne Panzer vom Typ T-90S, Luftabwehrsysteme und Mehrfachraketenwerfer in Russland. Moskau rüstete jedoch auch Armenien zu günstigeren Konditionen aus und stellte dem Land sogar einen Kredit von 200 Millionen Dollar für den Kauf russischer Waffen zu Verfügung.

Ziel ist es, den russischen Einfluss in der Region weiter zu stärken. Wirtschaftlich, energiepolitisch und seit 2012/2013 auch zunehmend politisch ist Armenien von Russland abhängig. Eine von Teilen der politischen Führung und auch der Gesellschaft angestrebte Annäherung an Europa gestaltet sich daher immer schwieriger. Aserbaidschan entwickelt sich seit Jahren stetig autoritärer. Menschenrechte werden dort mit Füßen getreten. Baku unterhält traditionell enge Beziehungen zur Türkei. Dieses Kräfteverhältnis führt zu der begründeten Sorge, es könnte in der Region zu einem Stellvertreterkrieg der seit Herbst 2015 verfeindeten Türkei und Russland kommen. Aktuell trat Russland beschwichtigend auf. Die Türkei hingegen rüstete rhetorisch auf.

Die OSZE ist die einzige Organisation, die sich hier international engagiert hat und weiter massiv engagieren muss, fordert die GfbV. Doch die bisherige Strategie muss verändert werden: Die so genannte Minsk-Gruppe hat immer sowohl die unmittelbare Konfliktpartei Berg-Karabach als international nicht anerkannte Entität von Gesprächen über das eigene Schicksal ausgeschlossen. Nicht zugelassen waren aber auch Vertreter der Zivilgesellschaft aus Karabach, Armenien und Aserbaidschan. Die deutsche Präsidentschaft muss nun alles unternehmen, um die verfeindeten Seiten an einen Tisch zu bringen und eine für alle Seiten annehmbare Lösung zu finden. Die gegenseitigen Anschuldigungen über vorsätzliche Morde, Beschuss und Verletzungen der Kontaktlinie müssen von unabhängigen OSZE-Experten schnellstmöglich geprüft werden. Verhandlungsziel muss die konsequente Entmilitarisierung der Kontaktlinie und der umliegenden Gebiete sein.

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Quelle:
Presseerklärung Berlin/Göttingen, den 4. April 2016
Herausgeber: Gesellschaft für bedrohte Völker e. V.
Postfach 20 24, D-37010 Göttingen
Telefon: 0551/499 06-25, Fax: 0551/58028
E-Mail: presse@gfbv.de
Internet: www.gfbv.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 6. April 2016

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