Schattenblick →INFOPOOL →BÜRGER/GESELLSCHAFT → FAKTEN

BERICHT/980: Kampagne kurdischer Frauen gegen gesellschaftliche Herrschaftsstrukturen (Cenî)


Cenî - Kurdisches Frauenbüro für Frieden e. V., Nr. 21, März 2009
Eine alternative Frauensicht

"Wir sind niemandes Ehre - Unsere Ehre ist unsere Freiheit!"
Neue Kampagne kurdischer Frauen gegen gesellschaftliche Herrschaftsstrukturen

Von Songül Karabulut


Auch wenn der Emanzipationsprozess und die Entwicklungsdynamik kurdischer Frauen noch unzureichend in der europäischen Öffentlichkeit bekannt sind und sie auch in der hiesigen Berichterstattung gern noch immer als Opfer feudal-patriarchaler Gesellschaftsstrukturen dargestellt werden, so haben kurdische Frauen auf der ganzen Welt längst die Opferrolle abgelegt. Cenî - Kurdisches Frauenbüro für Frieden versucht an genau dem Punkt mit seinen begrenzten Möglichkeiten diese Entwicklung für die deutsche Öffentlichkeit in mündlicher sowie schriftlicher Form zugänglich zu machen.

In diesem Artikel werde ich die neue Kampagne der kurdischen Frauen "Wir sind niemandes Ehre - Unsere Ehre ist unsere Freiheit" vorstellen. Um die Bedeutung dieser Kampagne zu verdeutlichen wird es nötig sein, einige der objektiven Lebensbedingungen kurdischer Frauen im Mittleren Osten, in Zusammenhang mit den dortigen politischen Gegebenheiten vorzustellen.

Der Mittlere Osten ist politisch und gesellschaftlich von fehlender Demokratie, Missachtung der Menschenrechte und nicht vorhandener Freiheit geprägt. Die Staaten des Mittleren Ostens sind äußerst autoritär, ihre Interessen stehen vor den bürgerlichen. Nach Logik dieser Staaten haben die BürgerInnen die Pflicht, für die Existenz ihres Staates zu sorgen. Der Staat wird vom Mittel zum Zweck erklärt, die Aufgaben von Staat und Bürger oder Bürgerin werden einfach verdreht. Der Staat als Herrschaftsform besitzt folglich uneingeschränkte Befugnisse und ist unantastbar. Die Staatsdoktrin ist vordergründig und alle Gesellschaftsgruppen, die nicht in diesen Rahmen passen, werden wenn sie Glück haben "nur" ihrer Rechte entledigt, oder zu Staatsfeinden erklärt. In solchen Ländern sind ethnische und religiöse Minderheiten meist offiziell legitimierter Unterdrückung ausgesetzt. Diese Machtstrukturen zwischen Staat und Bürgern spiegeln sich im Verhältnis zwischen Gesellschaft und Individuum wider. Die Interessen der Allgemeinheit stehen vor den Interessen der Individuen. Die gleichberechtigte, demokratische Teilhabe von Gesellschaftsgruppen am öffentlichen Leben ist nicht gewährleistet. Vor allem diejenigen Gesellschaftsgruppen, die den herrschenden Gesellschaftswerten nicht entsprechen, sind Ausgrenzungen und Unterdrückungen ausgesetzt. Wenn die Gesellschaft, wie im Falle der kurdischen Gesellschaft, überwiegend feudal-patriarchal geprägt und folglich von Männerherrschaftsstrukturen bestimmt ist, haben Frauen kaum die Möglichkeit ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Unter solchen politischen und gesellschaftlichen Strukturen sind ihre Lebensumstände sehr hart.

In diesen feudal-patriarchalen Gesellschaften sind Frauen kein gleichwertiges Geschlecht. Die Geschlechterrollen sind sehr stark getrennt, das Leben von Frauen unterliegt der gesellschaftlichen Kontrolle. Traditionelle "Werte" und gesellschaftliche "Regeln" sind durch und durch patriarchal und sprechen Frauen in diesen Machtstrukturen ein Leben als Objekt zu. Sie werden als Besitz des Mannes und der Gesellschaft betrachtet und als solches erzogen. Bis zur ihrer Ehe, d.h. bis eine Frau ihren Besitzer, vom Vater zum Ehemann wechselt, unterliegt sie der Verantwortung und Obhut ihres Vaters und ihrer männlichen Familienangehörigen. Ihr "Wert" wird in dieser Phase daran gemessen, in wieweit sie fügsam ist und die Geschlechterrolle erlernt. Die Frau wird schon als Kind darauf getrimmt, eine gute Hausfrau und Mutter zu sein, sie wird als Mädchen für die Ehe vorbereitet. Alles an ihr ist fremdbestimmt, sogar ihre Sexualität. Der Ehrenkodex ist nichts anderes als diese grenzenlose Fremdbestimmung über die Frau. Die Ehre eines Mannes, einer Familie, oder eines Clans wird an dem Verhalten ihrer Mädchen und Frauen festgemacht. Eine Familie gilt als ehrenvoll, wenn die Tochter "rein" also als Jungfrau in die Ehe geht. Der "Wert" der Mädchen ist die Jungfräulichkeit, der Wert der Frauen wiederum, die Keuschheit. Die Frau wird auf diese Weise zur Ware, zum Objekt des Mannes deklariert. Wenn ein Mädchen sich in der Hochzeitsnacht nicht als Jungfrau erweist wird sie den Eltern zurück gegeben. Die Familie ist nach diesem Zeitpunkt befleckt und gebrandmarkt. Oft wird zur Wiederherstellung der Familienehre nur der Tod der betroffenen Tochter oder Schwester als Alternative gesehen. Auch wenn eine unverheiratete Frau vergewaltigt wird, gilt die Familienehre als befleckt. In diesen Fällen werden die betroffenen Frauen meistens dazu gezwungen den Vergewaltiger zu heiraten, um auf diese Weise die Ehre der Familie wieder herzustellen. Der Ehrenkodex geht soweit, dass auch Mädchen und Frauen als ehrlos gelten können, wenn sie den traditionellen Rollenzuweisungen widersprechen. Wenn sie sich z.B. freizügig kleiden, einen eigenen Kopf haben, unbeugsam sind und "unangemessenes" Verhalten an den Tag legen, wie lautes Lachen, lockeres Sitzen etc. Der "Namus" also die "Ehre" ist ein ungeschriebenes Gesetz; ein ungeschriebenes aber äußerst effektives patriarchales Herrschaftsinstrument.

Dieser Ehrenkodex ist eine Falle für die Frau aber auch für die Gesellschaft. Diese macht Frauen zu Opfern und Männer zu Tätern. Folglich tappen auch Männer als Opfer in diese Falle. Der gesellschaftliche Druck auf männliche Familienangehörige ist sehr hoch, wenn gegen diese "Ehrlosigkeit" der Frau nichts unternommen wird.

Ohne diesen Kodex als reines Machtinstrument zu durchbrechen, wird es kein selbstbestimmtes Leben für Frauen und keine Befreiung für die Gesellschaft geben. Denn sie erstickt auf Kosten der Frau an dieser Finte.

Kurdische Frauen auf der ganzen Welt versuchen seit einigen Jahren Kampagnen zu diesen konkreten Problemthemen durchzuführen, um Schritt für Schritt gesellschaftliche Hürden, die ihrer Befreiung im Wege stehen, zu überwinden. So haben sie am Punkt seiner extremsten Ausformung der Unterdrückung der Frauen den Kampf angesagt.

Die erste Kampagne hatte Frauenmorde im Allgemeinen, und Morde im Namen der Ehre im Speziellen, zum Thema. Diese feudal-patriarchalen Gesellschaftswerte sprechen einer Frau das Recht auf Leben ab, sofern sie der Geschlechterrolle widerspricht.

Wir kennen die Morde, die im Namen der Ehre begangen werden. Auch in Kurdistan werden diese Greueltaten begangen, wenn Familien oder Gesellschaften der Auffassung sind, dass gegen den Ehrenkodex verstoßen wurde. Um das Lebensrecht von Frauen einzufordern wurde vor ca. zwei Jahren von kurdischen Frauenorganisationen die Kampagne "Jin jiyane - jiyane ne kuje" (Frau ist das Leben, tötet das Leben nicht!) durchgeführt. Sie war zweifellos ein Erfolg, denn sie hat dazu beigetragen, dass dieses Thema enttabuisiert und in Frage gestellt wurde. Der Einfluss der Kampagne reichte sehr weit. In Europa begonnen, weitete sie sich rasch auf alle Länder aus, in denen kurdische Frauen organisiert sind und wurde so zu einer allgemeinen Kampagne kurdischer Frauen.

Sie haben das Resultat der ersten Kampagne bewertet und kamen zu dem Ergebnis, dass diese Art von konkreter Zusammenarbeit effektiv zur gesellschaftlichen Veränderung beiträgt und daher weitergeführt werden muss. Nachdem durch "Jin jiyane - jiyane ne kuje" die Frauenmorde angeprangert und Lebensrechte eingefordert wurden, diskutierten wir, was am meisten selbstbestimmtes Leben von Frauen verhindert bzw. im Wege steht. Schon bald waren wir Frauen uns einig, dass solange wir als Ehre betrachtet werden, keine Befreiung erlangt werden kann. Denn es sind ja nicht nur die Männer, die die Frauen so sehen, sondern durch die Erziehung und Vermittlung der traditionell-patriarchalen "Werte" sehen sich auch Frauen als Ehre und versuchen dieser entsetzlichen Rolle gerecht zu werden. "Wir sind niemandes Ehre - Unsere Ehre ist unsere Freiheit!" ist zweifellos eine heikle Kampagne, die nicht sofort auf Zustimmung stoßen wird und reaktionäre, gesellschaftliche Kräfte provozieren und aktivieren wird. Schon jetzt betreibt die türkische AKP-Regierung Stimmung als Wertebeschützer gegen die kurdischen Frauen. Denn auch die AKP ist konservativ und setzt auf reaktionär-patriachale "Werte". Die Kampagne wird wie ihr Vorgänger auch auf unterschiedlichen Ebenen geführt werden. Ein wichtiger Teil wird die Enttabuisierung und Aufklärung durch Broschüren, Veranstaltungen und Seminare darstellen. Einerseits soll mit Hilfe dieser Kampagne der Prozess bei kurdischen Frauen ein Selbstverständnis entwickeln, sich als Subjekt zu sehen und sich von traditionellen Rollenzuweisungen loszulösen. Andererseits wird auch der Rest der Gesellschaft in diesen Emanzipationsprozess einbezogen werden.

Es sollen im Rahmen der Kampagne Programme erarbeitet werden, die auch gezielt Männer ansprechen und zu einem Mentalitätswandel beitragen. Mit Kundgebungen und Demonstrationen soll die Forderung dieser Kampagne auch auf die Strasse getragen werden. Des weiteren ist eine Konferenz zu diesem Thema vorgesehen.

Ich möchte nicht so verstanden werden, dass wir davon ausgehen mit der Kampagne den Ehrenkodex zu durchbrechen, dass Frauen im Anschluss nicht mehr als Ehre betrachtet werden und ihre Befreiung erreicht sein wird.

Die Kampagne "Wir sind niemandes Ehre - Unsere Ehre ist unsere Freiheit!" ist lediglich ein wichtiger Schritt, ein Baustein in die richtige Richtung. Die Fallen der patriarchalen Herrschaftsstrukturen sind vielfältig und umfassend. Sie umfassen eine riesige Palette, die grob und augenscheinlich bis hin zu subtil und verdeckt ist. Aber schon jetzt kann vorausgesagt werden, dass der Erfolg dieser Kampagne nicht nur zur Befreiung der Frauen beitragen, sondern auch ein Schlag gegen die staatliche Ordnung im Generellen darstellen wird. Ich habe im Eingangsteil versucht den Zusammenhang zwischen den Herrschaftsstrukturen im Allgemeinen und der Unterdrückung der Frau im Konkreten am Beispiel des Ehrenkodexes darzustellen. Ihre Befreiung ist vor diesem Hintergrund unumgänglich, wenn wir für eine Welt ohne Krieg, ohne Ausbeutung und Unterdrückung streiten. Die kurdischen Frauen leisten schon jahrelang ihren Beitrag dazu.


Die Autorin ist Vorstandsmitglied von Cenî


*


Quelle:
Cenî - Kurdisches Frauenbüro für Frieden e. V., Nr. 21, März 2009, S. 4-6
Redaktion: Corneliusstr. 125, 40215 Düsseldorf
Tel.: +49 (0) 211 / 5989251, Fax: +49 (0) 211 / 5989253
E-Mail: ceni_frauen@gmx.de
Internet: www.ceni-kurdistan.com

Die Cenî kostet 1,50 Euro, es erscheinen
4 Ausgaben pro Jahr.
Ein Jahresabo kostet 6,-- Euro plus 9,-- Euro Porto.


veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Juli 2009