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INTERNATIONAL/085: "Occupy Wall Street" - Demokratisierung der Demokratie (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 1+2/2012

Demokratisierung der Demokratie
Die Bewegung "Occupy Wall Street" - wie sie entstand, wie es weitergeht

Von Kenan Engin


Die Occupy Wall Street-Bewegung, die 2011 in New York begann, hat weltweit eine große Zahl unzufriedener Menschen zu Demonstrationen gegen das kapitalistische System motiviert. Die Medienresonanz war ihr gewiss. Nun kommt es aber darauf an, die von ihr hervorgebrachte Energie in echte politische Macht umzuwandeln.


Als vor Jahren der Nobelpreisträger Joseph Stiglitz von globaler sozialer Gerechtigkeit sprach, hielt er es für möglich, dass die Globalisierung ihren Versprechen gemäß gerecht organisiert werden kann. Er kritisierte das Ungleichheitsniveau in Amerika und behauptete, dass alle Entscheidungsträger im Bereich der Handels- und Wirtschaftspolitik aus dem oberen einen Prozent kämen, was globale soziale Gerechtigkeit unmöglich mache. Nach seiner Meinung entwerten die auf die maximale Rentabilität ausgerichteten wirtschaftlichen Strukturen die Arbeitskraft systematisch und verstärken den Sozialabbau. Nun bestätigen die weit verbreiteten Proteste in Amerika Stiglitz' Behauptung.

Jetzt demonstrieren Hunderttausende nicht nur in den US-Städten, sondern auch in Frankfurt, Vancouver, Rom, Athen und Madrid. Sie fordern mehr "Gerechtigkeit" und protestieren gegen die hohe Arbeitslosigkeit, steigende Armut in allen Schichten der Gesellschaft, Milliardenhilfe für die Banken und die Übermacht der Wall Street. Dabei ist zu beobachten, dass sie sich nicht gegen ein schlechtes Gesetz oder eine andere Bedrohung durch staatliches Handeln erheben, sondern gegen "das System" selbst. Sie artikulieren ihren Zorn und Einspruch gegen die Macht der Konzerne und damit unterziehen sie den Kapitalismus und das Wirtschaftssystem selbst der Kritik. Dabei ist die Behauptung der Bewegung, dass sie "99% der Bevölkerung" vertrete, anscheinend bei einem breiten Bevölkerungsteil auf offene Ohren gestoßen. Die Protestierenden sind diesmal nicht nur die "Obdachlosen", "Berufsdemonstranten", "Punks" und "Arbeitslosen", sondern kommen aus der Mitte der Gesellschaft. Diejenigen, die ihre Häuser während der Immobilienkrise verloren haben, die sich keine Krankenversicherung oder kein Studium mehr leisten können: eben die Mittelschicht selbst. Der Aufstand dieser Mittelschicht stellt die Legitimation des Systems infrage, zeigt die Achillesferse des kapitalistischen Systems auf und pointiert die "Logik der Selbstausrottung" des Kapitalismus.


Erfolg durch breites Themenspektrum

Der anfänglich belächelte Protest einer kleinen Gruppe auf dem Liberty Platz, dem so genannten Tahrir-Platz der New Yorker, am 17. September mit dem Slogan "we are the 99 percent" bekam erst später landesweite Aufmerksamkeit, nachdem 700 von 15.000 Demonstranten verhaftet wurden. Daraufhin wurde der Platz die Bühne und der Anziehungsort für die junge Generation, für Arbeiter, Gewerkschafter und alle Verlierer des Systems. Es gelang der Bewegung "OWS (Occupy Wall Street)" sowohl die demokratische als auch die internationale Perspektive ihrer Kritik am Verhalten der Großkonzerne zu verdeutlichen: "Wir schreiben, damit alle Menschen, die sich von der Macht des globalen Kapitals ungerecht behandelt fühlen, wissen: Wir sind ihre Verbündeten. Als ein geeintes Volk erkennen wir die Realitäten an: dass die Zukunft der menschlichen Gattung von der Zusammenarbeit ihrer Angehörigen abhängt [...]. Wir wenden uns an euch in einer Zeit, in der unsere Regierungen von Konzernen gesteuert werden, für die Profite vor Menschen kommen, Eigeninteresse vor Gerechtigkeit und Unterdrückung vor gleichen Rechten" (Jeff Godwin in: Le Monde diplomatique vom 11.11.2011).

Der unerwartete Erfolg der Bewegung, die in kurzer Zeit Hunderttausende Menschen weltweit mobilisieren konnte, war/ist in erster Linie ihrem weiten Spektrum zu verdanken. Die OWS hat zwar vor allem die Großkonzerne im Visier, zielte aber auch auf die Macht der privaten Wirtschaft, die sie als Ursache der Verarmung von 99% der Bevölkerung sieht. Darüber hinaus konnte sie nicht nur Verlierer des Systems wie Arbeitslose oder Obdachlose vereinen, sondern wurde auch ein Becken der Proteste gegen Sparprogramme, Zwangsvollstreckungen, gewerkschaftsfeindliche Politik, steigende Studiengebühren und Armut. Es gelang OWS alle diese breit gestreuten Phänomene in Zusammenhang mit der Übermacht der Großkonzerne zu bringen und diese als Hauptursache der wirtschaftlichen und politischen Krise der Kritik zu unterziehen.

Wenn man die Bilanz der Proteste in den letzten Monaten betrachtet, kann man ohne Zweifel sagen, dass die Bewegung erfolgreich war/ist. Durch die weltweiten Demonstrationen konnte die OWS die Einwände, Kritik und vor allem den Zorn der Millionen auf Konzerne, Banken und Spekulanten in die Öffentlichkeit tragen und zeigen, dass sie nicht allein sind. Dadurch kamen die Debatten über die Übermacht der Banken und Großkonzerne über 99% der Bevölkerung seit Jahren zum ersten Mal in die breite Öffentlichkeit und etablierten sich im politischen Diskurs. Die OWS brach das Schweigen über straflose Vergehen der Konzerne, die das Fundament für die soziale Ungleichheit und Korruption in den großen Parteien bereiteten. Aus diesem Grund wurde die OWS auch von den den Republikanern nahestehenden Murdoch-Fernsehstationen verspottet. Man versuchte, die Forderungen der Demonstranten zu manipulieren und vorzutäuschen, dass die Proteste von Ideen- und Ahnungslosigkeit beherrscht seien.

Allerdings konnte die Bewegung trotzdem für eine große Zahl von Studenten, Gewerkschaftern, Umweltaktivisten, Globalisierungsgegnern u.a., aber auch von bisher nicht politisierten Menschen, die durch Finanzkrisen verarmt sind, zu einem Mittelpunkt werden und dadurch zu neuen Protesten rund um den Globus anregen. Man schuf einen Zusammenschluss auf einem basisdemokratischen Fundament, in dem sich Aktivisten aus unterschiedlichen Milieus vertreten fühlten.


Ein bloßes Dagegen sein reicht nicht

Nun ist die entscheidende Frage, ob und wie es der OWS gelingen kann, die von ihr hervorgebrachte Energie in echte politische Macht umzuwandeln, die die Übermacht der Großkonzerne einschränken und die bestehende Demokratie demokratisieren soll. Die von den Aktivisten anfänglich propagierte Macht der undefinierten Ziellosigkeit kann nun zu einem Verhängnis werden, da wirkliche Macht nur strukturiert und gut organisiert möglich ist und eine politische Agenda braucht, deren Inhalt den Interessen der Studenten, Gewerkschaften, Armen, aber auch der Menschen in der Mittelschicht nicht widerspricht. Ein bloßes Dagegen sein reicht ab diesem Punkt nicht mehr aus. Sonst besteht die Gefahr, dass die Versammlung im Laufe der Zeit langweilig, gehaltlos und albern wird. Diese Gefahr sah auch der prominente Gesellschaftskritiker Slavoj Zizek, der die Proteste aktiv unterstützte, aber die Demonstranten warnte:

"Verliebt Euch nicht in Euch selbst, in die nette Zeit, die wir hier zusammen verbringen. Karneval-Feste sind billig, ihren wirklichen Wert kann man erst am nächsten Tag an den Veränderungen unserer alltäglichen Normalität erkennen. Verliebt Euch in harte und geduldige Arbeit - wir sind der Anfang, nicht das Ende. [...] Es liegt noch ein weiter Weg vor uns, und wir werden uns schwierige Fragen stellen müssen - nicht über das, wogegen wir sind, sondern über das Wofür. Welche soziale Organisation kann den real existierenden Kapitalismus ersetzen? Welche neue Art von politischer Führung brauchen wir? Die Alternativen des 20. Jahrhunderts haben offensichtlich nicht funktioniert" (Süddeutsche Zeitung vom 27.10.2011).

Die liberalen Politiker der Demokraten in den USA bilden eine weitere Gefahr für die Bewegung. Einige demokratische Abgeordnete bekundeten schon ihre Sympathien, während von der Seite der Republikaner eine ablehnende Haltung kam/kommt, und die Bewegung als "unamerikanisch" diffamiert wird. Aber die Demokraten würden die Energie und Argumente der OWS gerne für ihre Wahlkämpfe im nächsten Jahr ausnutzen. In der Tat ist es aber eher unwahrscheinlich, dass die Demokraten eine unternehmerkritische Position einnehmen werden, da sie stark vom Geld der Konzerne und von den Medien abhängig sind. Es könnte aber sein, dass einige populistische Politiker der Demokraten als Gegner der Konzerne, Kritiker des Kapitalismus und des bestehenden Wirtschaftssystems auftreten werden, um etwas von der Energie der OWS aufzusaugen.

Dies hatte Barack Obama schon beim Wahlkampf 2008 erfolgreich getan, obwohl er gute Beziehungen zur Wirtschaftswelt hatte. Die Frage ist nun, wie die Bewegung darauf reagieren würde. Ihr Kern, wie Globalisierungsgegner und Friedensaktivisten, würde sicherlich nicht in die "Falle" gehen. Allerdings steht es durchaus zu erwarten, dass einige Organisationen und Gewerkschaften wie AFL-CIO (American Federation of Labor and Congress of Industrial Organizations) und UAW (United Auto Workers), die die OWS aktiv oder passiv unterstützt haben, 2012 auf der Seite der Demokraten in die Wahlkämpfe ziehen. Das gilt auch für viele studentische Organisationen, die zwar an den Demonstrationen teilnehmen, aber nur teilweise die Kritik der Bewegung teilen. Diese könnten als Fanatiker von heute der Bewegung den Rücken kehren und enthusiastische Wahlkämpfer der Demokraten werden.


Kann die OWS die Demokratie demokratisieren?

Ob die OWS-Bewegung die USA dahin führt, dass die Gesellschaft gerechter wird, hängt nun von der Haltung der großen etablierten US-Gewerkschaften ab. Anfänglich distanzierten diese sich aufgrund der radikalen Forderungen der Demonstranten von den Protesten. Allerdings zwang der Druck der Gewerkschaftsbasis Gewerkschaften wie AFL-CIO, die mitgliederstärkste Gewerkschaft der USA, die Automobilgewerkschaft UAW, die Transportarbeitergewerkschaft TWU und viele Einzelgewerkschaften ihre Unterstützung für die OWS zu bekunden. Trotz dieser Unterstützungserklärung ist es momentan fraglich, ob die Gewerkschaftsbürokraten wirklich nach Forderungen der Demonstranten streben werden, da die Grenzen der traditionellen gewerkschaftlichen Strukturen dafür nicht geeignet sind. Außerdem gibt es auch einige konservative Teilgewerkschaften, die sich ohnehin von den Protesten eher distanzieren.

Aus heutiger Sicht ist es deswegen eher nicht zu erwarten, dass die Proteste einen Umsturz des Systems wie in den arabischen Ländern veranlassen werden. Aber eines ist klar: dass die Unzufriedenheit der Massen ein klares Signal gibt, dass sich das bestehende System, das Banken und Großkonzerne anstelle des Volkes zum Souverän macht, ändern soll. Wie es schon Stiglitz mit Bezug auf gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge formulierte, muss sich die "amerikanische Demokratie jetzt demokratisieren".


Kenan Engin (* 1974) ist Doktorand im Fach Politik und Lehrbeauftragter an der Universität Heidelberg und der FH Mainz. Forschungsschwerpunkte: Irak, Türkei, Kurden und Mittlerer Osten.
k.engin@zegk.uni-heidelberg.de


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 1+2/2012, S. 52-55
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Siegmar Gabriel,
Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka, Thomas Meyer und Peter Struck
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Februar 2012