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INTERNATIONAL/172: Brasilien - Flashmobs in Konsumtempeln, neue Mittelschichten fordern Anerkennung (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 10. Februar 2014

Brasilien: Flashmobs in Konsumtempeln - Jugendliche aus neuen Mittelschichten fordern Anerkennung

von Fabiana Frayssinet


Bild: © Fabiana Frayssinet/IPS

Protest vor einem Einkaufszentrum in Rio de Janeiro
Bild: © Fabiana Frayssinet/IPS

Rio de Janeiro, 10. Februar (IPS) - Sie kamen in Scharen, um ihren Spaß zu haben. Doch die teils repressiven Reaktionen auf die Flashmobs junger Leute in städtischen Einkaufszentren haben in dem südamerikanischen Land die Jugendbewegung der 'Rolezinhos' entstehen lassen, die ihr Recht auf Konsum einfordert.

In der brasilianischen Jugendsprache bedeutet 'rolar' so viel wie 'mit Freunden losziehen'. Über die Motive der Jugendlichen, sich in Massen in den großen Einkaufsmalls zu verabreden, wurde in Brasilien bereits viel spekuliert. Die einen sehen in diesen Flashmobs eine revolutionäre Geste, für die anderen sind sie Ausdruck der Konsumwünsche einer neuen aufstrebenden Mittelschicht.

Alles begann im Dezember 2013, als eine Gruppe Jugendlicher über das soziale Netzwerk 'Facebook' zu einem Rolezinho in einem Einkaufszentrum in der Stadt São Paulo aufrief, "um ein bisschen Spaß zu haben" in einem Land, in dem Kultur und Unterhaltung sehr teuer sind. 6000 Jugendliche folgten dem Appell.

Das harte Vorgehen der Polizei hat dazu geführt, dass mittlerweile auch in anderen Städten Flashmobs stattfinden. "Wir wollen zeigen, dass auch wir jungen Leute Konsumenten sind", sagt der Geographiestudent Iata Anderson am 19. Januar während eines Rolezinhos in der Shopping Mall Leblon in Rio de Janeiro.


Neue Mittelschicht wächst in Favelas heran

Wie so viele seiner Mitstreiter ist Anderson jünger als 20 Jahre. Obwohl er in einem Elendsviertel, einer Favela, lebt, repräsentiert er die neue brasilianische Mittelschicht, deren Mitglieder an staatlichen Universitäten studieren, Zugang zum Internet und zu Krediten haben und über eine gewisse Kaufkraft verfügen. Zu verdanken haben sie ihren Aufstieg dem Jahrzehnt linker Regierungen unter Präsident Luiz Inácio Lula da Silva (2003 - 2011) und seiner Nachfolgerin Dilma Rousseff.

"Ich wollte die Rolezinhos in São Paulo unterstützen, gegen die Polizisten mit Tränengas und Schlägen vorgehen. Das passiert nur deshalb, weil die Teilnehmer Afro-Brasilianer aus den Vororten sind. In den luxuriösen Einkaufszentren werden sie als fehl am Platz angesehen", sagt Anderson.

Am 11. Januar ging die Militärpolizei mit Gummigeschossen und Pfefferspray gegen etwa 1.000 Jugendliche vor, die in einer Einkaufspassage am Rande der Stadt zusammengekommen waren. 60 Personen wurden festgenommen.

Nach Aussagen der Brasilianischen Vereinigung der Einkaufszentren (ABRASCE) sind die Malls "demokratische Räume, die Menschen aller sozialen Schichten und Altersgruppen offenstehen". Man wolle die soziale Inklusion in Gebieten fördern, in denen es wenige Freizeitbeschäftigungen gebe.

Nach Ansicht des Soziologen Ignacio Cano vom Labor für Gewaltanalyse an der Universität von Rio de Janeiro waren die Reaktionen der Polizei "unverhältnismäßig", ebenso wie die Schließung von Einkaufszentren, um Flashmobs zu verhindern. Die Zentren sollten sich nicht weiter von ihrem universellen Anspruch entfernen und noch "elitärer" werden, warnt er.

Es kommt häufig vor, dass das Sicherheitspersonal in den Malls dunkelhäutige Menschen genauer beobachtet. "Sie halten uns wohl für potenzielle Diebe", meint der Logistikhelfer Diego Meier. "Manchmal werde ich schlecht bedient. Und ich sehe natürlich, dass es in der Regel Afro-Brasilianer sind, die die Klos in den Einkaufszentren reinigen. Es wird Zeit, dass wir, unabhängig von Hautfarbe, sozialer Herkunft und Kaufkraft, als gleichberechtigt anerkannt werden", sagt Anderson.

Brasiliens Staatspräsidentin Rousseff hat die Polizeigewalt gegen die jungen Leute kritisiert, und die Anti-Rassismus-Ministerin Luiza Bairros erklärte, dass "Probleme dann entstehen, wenn Weiße sich vor jungen Schwarzen fürchten". Die Rolezinhos bezeichnete sie als "Form einer friedlichen Demonstration".


Politische Dimension

"Die anstehende Fußball-WM und die Präsidentschaftswahlen im kommenden Oktober geben den Rolezinhos eine politische Dimension", meint der Journalist Fernando Gabeira, der früher für die Grünen im Parlament saß. "Kleine Bewegungen können zu großen werden, wie im Juni 2013, als Massenproteste gegen Preiserhöhungen im Nahverkehr und gegen Korruption ausbrachen und Verbesserungen im Gesundheits- und Bildungssystem gefordert wurden."

Die Transformation einer sozialen Schicht, die bis vor Kurzem noch keine Zukunft hatte, in eine andere Schicht, die Träume hat, wurde bereits durch den 'brasilianischen Funk' angekündigt, eine lokale Spielart des US-amerikanischen Raps. Der 'Funk Ostentação', der in den Vorstädten entstanden war, spiegelt inzwischen die Wünsche eines Großteils der rund 30 Millionen Menschen wider, die in dem Land mit fast 200 Millionen Einwohnern infolge eines Wirtschaftsmodells, das den Konsum als Wachstumsmotor fördert, der Armut entkommen konnten. (Ende/IPS/ck/2014)


Links:

http://www.ipsnews.net/2014/02/brazils-rolezinhos-claim-young-peoples-consumer-rights/
http://www.ipsnoticias.net/2014/02/los-rolezinhos-y-el-derecho-consumir-de-jovenes-brasilenos/

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 10. Februar 2014
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Februar 2014