Internationale Presseagentur Pressenza - Büro Berlin
Auf allen Kontinenten gehen die Menschen auf die Straßen und fordern eine humanere Gesellschaft
Von Silvia Swinden, 28. Oktober 2019
Chile erwacht
Bild: Pressenza
London - 28.10.2019. In vielen Städten überall auf der Welt erleben wir gerade eine Zeit weitreichender gesellschaftlicher Mobilisierung, die mit wachsender Beteiligung und deutlicheren Forderungen offenbar noch weiter an Umfang zunimmt. Auch wenn diese zunächst eine Reaktion auf eine ganz spezifische Regierungsmaßnahme sind (Erhöhung von Benzin- oder Fahrtkosten, Korruption, Autoritarismus), beziehen sie doch sehr bald das gesamte System von Unterdrückung und Entmenschlichung, Jahre der Entbehrungen für die Armen und Anhäufung von Reichtum für die Wohlhabenden, Kriege, Gewalt in all ihren Formen mit ein, und all dies kulminiert in einem Aufschrei: Diese Gesellschaft muss sich ändern.
Sei es, dass speziell unter jungen Menschen der globale Austausch und das Bewusstsein für gemeinsame Anliegen durch die Aktionen von Umweltbewegungen wie Gretas Fridays for Future oder Extinction Rebellion befördert wird und, in den Medien weniger präsent aber hinsichtlich der Risiken für die gesamte Menschheit nicht minder wichtig, durch die koordinierte Arbeit der weltweit agierenden Anti-Atom Aktivisten mit dem Ziel, ein Verbot nuklearer Waffen durch die Ratifizierung des Vertrages über das Verbot von Atomwaffen zu erreichen.
Sei es, dass die Gleichzeitigkeit der Proteste einfach ein Zeichen dafür ist, dass die Menschen die Schmerzgrenze erreicht haben und nicht mehr bereit sind, die Gewalt, Diskriminierung, Unterdrückung, das Konkurrenzdenken und mangelnde Solidarität zu tolerieren und wir es als eine Antwort auf die Grausamkeiten des neoliberalen Kapitalismus verstehen können.
Sei es, dass der Aufstieg gestörter Autokraten und Faschisten, die Regierungen übernehmen, ihre Verbündeten betrügen, einen Völkermord an Migranten verantworten, an die Zustände vor dem 2. Weltkrieg erinnern.
Oder sei es, dass ein neues Bewusstsein, ein neuer Geist, eine neue Inspiration und ein neuer Humanismus in den Herzen der Menschen wächst und sie beginnen, weiter zu schauen als bis zur Rebellion, weiter als bis zu den Protesten, über ihr jeweiliges Leben hinaus. Menschen die träumen, eine Ahnung bekommen und gerade erkennen, wie anders die Welt doch sein könnte - mitfühlend, fair, sicher für alle, gewaltfrei, sinnvoll und voller Freude und Solidarität.
Wahrscheinlich spielt all das und viele andere subtile Faktoren in diesem Prozess eine Rolle.
Chile
Vier Millionen Menschen forderten am 25. Oktober in den Straßen
Santiagos und anderer Städte Änderungen des drakonischen neoliberalen
Regimes von Präsident Piñera. Auslöser war eine Anhebung der
Fahrpreise für die U-Bahn, auf die zunächst Studierende energisch
reagierten und denen sich dann aber der Rest der Bevölkerung anschloss
und Forderungen zum Gesundheitswesen, Bildung, Renten etc. zu den
größten Demonstrationen führte, die das Land jemals erlebt hatte.
Haiti
Regierungsgegner fordern seit Monaten Veränderungen, sie prangern
Korruption und die bittere Armut der Bevölkerung an.
Katalonien
Es finden Massenproteste gegen die von spanischen Gerichten verhängten
langjährigen Haftstrafen für Mitglieder der katalanischen Regierung
statt, die das Referendum zur katalanischen Unabhängigkeit
durchgeführt haben.
Frankreich
Seit Monaten protestieren die Gelbwesten auf den Straßen vieler
französischer Städte. Was mit einem Protest gegen die Erhöhung der
Benzinpreise begann, erstreckte sich auf andere gesellschaftliche
Probleme und die Forderung nach Änderungen im System.
Großbritannien
Mehr als eine Million Menschen gingen auf die Straße, um gegen das
Vorgehen der Regierung im Brexit-Verfahren zu protestieren und ein
Referendum zu fordern, in dem endgültig entschieden werden soll, ob
Großbritannien die EU tatsächlich verlassen soll und wenn ja unter
welchen Bedingungen.
Honkong
Ausgelöst durch eine Regelung, die es ermöglicht hätte, Straftäter an
Gerichte auf dem chinesischen Festland zu überstellen (von den
Behörden Hong Kongs mittlerweile wieder zurückgenommen), bleibt doch
die Protestbewegung konstant seit einigen Monaten in den Straßen
präsent und artikuliert weitere Forderungen, insbesondere die nach
einer vollständigen Demokratisierung.
Algerien
Seit einigen Monaten bringt die "Revolution des Lächelns" die Menschen
auf die Straßen. Sie hat damit das frühere korrupte Regime zu Fall
gebracht und verhandelt mit einem wenig kooperativen Militär um eine
neue Regierung, die den Bedürfnissen der Bevölkerung gerecht wird.
Libanon
Landesweit finden nicht-sektiererische Proteste als Reaktion auf die
von der Regierung geplanten Steuern auf Benzin, Tabak und
Online-Telefonate, wie zum Beispiel durch WhatsApp, statt.
Ecuador
Die durch den IWF angewiesene Erhöhung der Preise für den öffentlichen
Verkehr und die neoliberale Austeritätspolitik von Präsident Lenin
Moreno führten zu massiven Protesten unter Beteiligung der indigenen
Bevölkerung. Trotz des anscheinenden Einlenkens der Regierung bleiben
schwerwiegende Probleme bestehen und die Bevölkerung in hoher
Alarmbereitschaft.
Marokko
Soziale Proteste begannen 2017 mit dem Anprangern wirtschaftlicher
Maßnahmen, Wasserknappheit und Repressalien durch das Regime. Doch die
Lage bleibt auch weiter kritisch, nachdem die durch den König
beschlossenen Schritte die bestehenden Probleme noch verschlimmert
haben.
Ägypten
Proteste gegen die Regierung von Präsident El-Sisi finden in mehreren
großen ägyptischen Städten statt, sehen sich jedoch mit einer heftigen
Reaktion der Polizei sowie laut Amnesty International und anderer
Organisationen mit Verletzungen der Menschenrechte konfrontiert.
Russland
Hier finden pro-demokratische, hauptsächlich studentische Proteste
statt, denen Verhaftungen und massenhafte Gerichtsverfahren gegen
junge Menschen folgen.
Die Aufzählung geht weiter - iranische Pensionäre, LehrerInnen in den USA, der Sturz der korrupten Al Bashir Regierung im Sudan, die massiven Proteste gegen Korruption in Tschechien, die Proteste gegen die Regierung im Irak und so weiter.
Die Übersetzung aus dem Englischen wurde von Silvia Sander
aus dem ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt.
Der Text steht unter der Lizenz Creative Commons 4.0
http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
*
Quelle:
Internationale Presseagentur Pressenza - Büro Berlin
Reto Thumiger
E-Mail: redaktion.berlin@pressenza.com
Internet: www.pressenza.com/de
veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Oktober 2019
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