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STANDPUNKT/119: Hütet euch vor Pharisäern (Hans Fricke)


Hütet euch vor Pharisäern

Von Hans Fricke, 9. Mai 2009


Dieser Rat, den Jesus vor 2000 Jahren seinen Jüngern gab und mit dem er sie vor Heuchelei, Doppelmoral und selbstgerechten Menschen warnte, hat auch heute nichts an Wert verloren. Im Gegenteil, seit 1989/90 scheint politisches Pharisäertum geradezu eine Blütezeit zu erleben. Es erleichtert das "Ankommen" ehemaliger "staatsnaher" DDR-Bürger in der Bundesrepublik, den Eintritt früherer Mitglieder der SED sowie der Blockparteien in die sogenannten etablierten Parteien des einheitlichen Deutschlands, öffnet Türen zu politischen Mandaten, staatlichen Ämtern und Redaktionsstuben, ermöglicht es, in den Genuss von Diäten und großzügigen Pensionsansprüchen zu gelangen, kurz: es macht das Leben weit angenehmer, als sich offen und ehrlich zu seiner Biographie in der DDR zu bekennen.
Ob es nun Günter Schabowski, Lothar de Maiziere, Wolfgang Schnur, Angela Merkel, Stanislaw Tillich oder andere sind. Sie alle haben eines gemeinsam: Möglichst schnelle Distanzierung von ihrer Biographie in der DDR, Verdrängung unbequemer Erinnerungen an persönliche Verstrickungen in die politischen Strukturen der DDR, gehässiger Umgang mit der PDS bzw. Partei Die Linke als beliebte und bewährte Alibi-Funktion sowie Vorreiterrolle bei der Abrechnung mit dem "Unrechtsstaat" DDR.

So war es dann auch logisch, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) die Tagung "Vor 20 Jahren - Am Vorabend der Friedlichen Revolution" am 8. Mai in Berlin zum Anlass nahm, um ein weiteres Mal mit der DDR als "Unrechtsstaat" abzurechnen, vor ihrer Verklärung zu warnen und von der Linkspartei eine Klärung ihres Verhältnisses zur DDR zu fordern. Im Gegensatz zu Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsident Erwin Sellering (SPD), der kürzlich davor gewarnt hatte, die DDR als Unrechtsstaat zu verdammen, spielte Angela Merkel erneut die Lieblingsplatte der Union, ohne zu begreifen, dass die Bundesbürger in Ost und West ihr immer härter werdender Existenzkampf in der Krise weit mehr beschäftigt als die seit fast 20 Jahren nicht mehr bestehende DDR und die Angst von Parteien vor dem Ausgang der diesjährigen Bundestagswahl.

Hinter der Warnung Angela Merkels vor der "Verklärung" der DDR verbirgt sich in Wahrheit die zunehmende Sorge der "Eliten" der Bundesrepublik vor der Erinnerung der Menschen an die vielen Gebiete, auf denen der erste sozialistische Staat auf deutschem Boden der kapitalistischen BRD deutlich überlegen war.
Und das betrifft nicht nur die vorbildlichen Sozialleistungen für seine Bürger, sondern auch solche Gebiete wie das Niveau der Bildungspolitik, die Abschaffung des Bildungsprivilegs, die Gleichberechtigung der Frau, die Sorge um Alte und Pflegebedürftige, die Zuverlässigkeit der Renten, die Fürsorge gegenüber Kindern und Jugendlichen, die Berufsausbildung, die Wohnungspolitik, die Friedenspolitik, das solidarische Miteinander der Menschen und die Gesundheitspolitik. Ein Ärzte-Präsident wie Jörg-Dietrich Hoppe, der die Stirn hat, vorzuschlagen, die gesetzlichen Kassen sollen nur noch die nötigsten Leistungen bezahlen, wogegen die Bezahlung für leichtere Erkrankungen künftig zu Lasten der Patienten gehen soll, wäre in der DDR vermutlich sofort in eine Nervenklinik eingewiesen worden. Mit Sicherheit aber hätte er seinen Hut nehmen müssen.

Die DDR wurde - datieren wir sie nur bis zum 18. März 1990 - nicht älter als 40 Jahre. Aber sie hat, ungeachtet ihres ruhmlosen Abgangs nicht an historischer Strahlkraft verloren. Vier Jahrzehnte entzog sie dem Kapital in einem Drittel Deutschlands die politische Macht und das ausbeuterische Eigentum. Das haftet, ob es Merkel & Co passt oder nicht, in der Erinnerung von Millionen. Auch nicht wenige, die 1989 schwankten oder Kohl und seinen Wahllügen von den "blühenden Landschaften" glaubten, beklagen angesichts des Verlorenen und des über sie Gekommenen heute den Verlust ihrer Heimat. Zu spät. Doch nicht für immer. Die Deutsche Demokratische Republik wirkt weiter. Neue Generationen werden sich am Aufbruch des 7. Oktober 1949 aufrichten und orientieren, wenn das Trauma der Niederlage längst überwunden ist.

Darum betrachten auch immer mehr Menschen die Bemühungen der großen Koalition und der Konzernmedien, mit der stereotypen Wiederholung ihrer Verleumdungen der DDR und der Nichtachtung der Lebensleistungen und Biographien ihrer Bürger von den katastrophalen Ergebnissen und Folgen der jahrzehntelangen neoliberalen Regierungspolitik ablenken zu wollen, mit Gelassenheit.
Und es kann ihnen auch niemand verübeln, wenn sie besonders in diesem Superwahljahr angesichts der massiven Angriffe Angela Merkels und anderer auf die DDR darüber nachdenken, warum wohl den Aufsehen erregenden Veröffentlichungen in Medien des In- und Auslands Mitte vorigen Jahres über die DDR-Biographie der deutschen Bundeskanzlerin und der darin aufgeworfene Frage: "War Merkel Stasi-Spitzel?" nicht weiter nachgegangen wurde. Und es kann ihnen auch niemand verübeln, wenn sie sich aus der Tatsache, dass laut Radio Utopie vom 31.05.2008 die Frage von Journalisten nach "Freigabe" eines alten Passfotos der Bundeskanzlerin, welches sich in einer Akte des MfS mit Fotos von Personen befand, die bei der Bespitzelung des Grundstücks von Dissident Robert Havemann in Grünheide bei Berlin erfasst wurden, aus "Gründen des Schutzes der Privatsphäre" abschlägig beschieden wurde und die Birthler-Behörde dieses Foto nur unkenntlich herausgab, ihren persönliche Reim machen.

Und sicher erinnern sich auch noch viele an die damals gleichzeitig laufende Debatte um den PDS-Abgeordneten Gregor Gysi, den besonders der CDU-Generalsekretär Ronald Pofalla aufforderte, seine DDR-Vergangenheit nicht unter den Teppich zu kehren. Vergebens warteten nachdenkliche Bundesbürger darauf, ob der Generalsekretär dies auch von seiner Chefin, der Bundeskanzlerin verlangen werde.
Fatal war in diesem Zusammenhang auch die Rolle des Boulevardblattes Bild. Hatte es sich gerade richtig darauf eingeschossen, dem Bundestags-Fraktionschef Gregor Gysi seine Stasi-Vergangenheit vorzuwerfen, musste es sich nun auf seine so geliebte Kanzlerin fokussieren, um dem Verdacht zu entgehen, mit zweierlei Maß zu messen. Schließlich dürfte eine mit Stasi-Vorwürfen belastete Kanzlerin allemal schwerer wiegen als ein Bundestags-Fraktionschef.

Die weiteren Recherchen und die Berichterstattung der deutschen Medien in dieser seit langem bekannten Angelegenheit erlaubt den Bundesbürgern einen erkenntnisreichen Einblick in die Aufrichtigkeit, Glaubhaftigkeit und Vertrauenswürdigkeit ihrer Medien, was ebenso für die sogenannten etablierten Parteien gilt.

Bis zur diesjährigen Bundestagswahl sind es noch fast fünf Monate - Zeit genug also, um über alle diese Dinge in Ruhe nachzudenken.


Hans Fricke ist Autor des im August 2008 im Berliner Verlag am Park erschienenen Buches "Politische Justiz, Sozialabbau, Sicherheitswahn und Krieg", 383 Seiten, Preis 19,90 Euro, ISBN 978-3-89793-155-8


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Quelle:
© 2009 Hans Fricke
mit freundlicher Genehmigung des Autors
    


veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Mai 2009