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STANDPUNKT/147: "Wir waren voll Hoffnung auf eine bessere Zukunft..." (medica mondiale)


medica mondiale e.V. - Juni 2010

"Wir waren voll Hoffnung auf eine bessere Zukunft..."

Positionspapier von medica mondiale zur Lage der Frauen in Afghanistan, Juni 2010


"Wir waren voll Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Und viele von uns haben sich an die Arbeit gemacht, um das Leben der Frauen zu verbessern. Aber jetzt wird es jeden Tag schwerer, diese Arbeit fortzusetzen. Es ist ganz einfach: Wenn uns die internationale Gemeinschaft nicht unterstützt, können wir nicht weitermachen."
Humaira Rasuli, Leiterin von medica mondiale Afghanistan


1. "Ich lebe jeden Tag in Angst" - Der Druck auf die Frauen wächst

Neun Jahre nach dem 11. September und dem Beginn der Operation "Enduring Freedom", die ihren Einsatz nicht nur mit der Jagd auf Terroristen, sondern auch mit dem Kampf um Frauenrechte rechtfertigte, ist die Lage von Mädchen und Frauen in Afghanistan nach wie vor katastrophal.

87 Prozent aller Frauen werden "regelmäßig geschlagen", berichtet UNIFEM. 80 Prozent aller Ehen werden unter Zwang geschlossen, die Hälfte der Ehefrauen ist unter 16 Jahre alt. Dementsprechend hoch ist die Zahl der Risikoschwangerschaften und der Müttersterblichkeit. Flüchten diese Mädchen vor ihren oftmals sehr viel älteren Ehemännern, werden sie häufig ins Gefängnis gesteckt - ohne rechtsgültige Anklage, denn ihr ,Verbrechen', Weglaufen von Zuhause, existiert entgegen der Annahme vieler Polizisten, Staatsanwälte und Richter im afghanischen Strafgesetzbuch gar nicht.

Vergewaltigungen sind laut UNAMA (UN Assistance Mission in Afghanistan) "in allen Teilen des Landes eine Alltagserscheinung". Vergewaltigte Frauen gelten als schuldig an der Tat, weshalb sie das Verbrechen selten öffentlich machen oder gar anzeigen. UNAMA: "Die aktuelle Realität ist, dass Frauen ihre grundlegendsten Rechte verweigert werden, und dass sie weitere Gewalt riskieren, wenn sie sich an Polizei und Justiz wenden."

Die Zahl der Frauen, die als einzigen Ausweg aus ihrer verzweifelten Situation die Selbsttötung sehen, steigt. Wie das Institute for War and Peace Reporting (IWPR) meldet, ist allein in der Provinz Herat die Zahl der Suizide von Frauen innerhalb des Jahres 2009 um 50 Prozent gestiegen. Das Regionalkrankenhaus meldet für die letzten sechs Monate 85 Fälle von Selbstverbrennungen und Selbstvergiftungen (Petroleum oder Rattengift sind für die ins Haus verbannten Frauen oft die einzigen Mittel zur Selbsttötung), 57 Frauen starben daran. Hamida Husseini von der Abteilung für Frauenangelegenheiten der Regionalregierung erklärt: "Wenn wir nichts tun, erreichen die Zahl der Suizide von Frauen eine völlig inakzeptable Höhe."

Neben dieser Alltagsgewalt in den Familien wächst aber aktuell auch der Druck auf Frauen, die sich für ihre Rechte engagieren.

Mit sogenannten 'Night Letters' werden Frauen massiv bedroht. Diese Drohbriefe und auch Vergewaltigungsszenen übermittelt auf Handys werden anonym als Massensendung ausgelegt beziehungsweise zugeschickt oder gezielt einzelnen Aktivistinnen zugestellt. Wie das Afghanistan NRO Safety Office (ANSO) in einem Sicherheitsbericht vom Mai 2010 schreibt, werden so zum Beispiel ganze Dörfer eingeschüchtert und aufgefordert, nicht mit Organisationen zu kooperieren, die mit der Regierung zusammenarbeiten. Urheber der Night Letters sind "Armed Opposition Groups", also Taliban oder andere radikale, den Taliban nahe stehende Rebellengruppen.

Diese Gruppen machen ihre Drohungen wahr. Zu den Frauen, die in den letzten Jahren ermordet wurden, gehören Sitara Achakzai, Frauenrechtsaktivistin und Mitglied des Provinzparlaments von Kandahar, die Journalistin und Frauenrechtlerin Zakia Zaki oder Malalai Kakar, höchstrangige Polizistin von Kandahar. Die Schauspielerin Parwin Mushkatel, die das Land verließ, nachdem ihr Mann erschossen wurde, erklärt: "Die Atmosphäre verschlimmert sich Tag für Tag. Frauen können immer weniger arbeiten." Die, die es noch tun, sind in Todesangst. "Ich lebe jeden Tag in Angst", erklärt die Mitarbeiterin einer internationalen Nichtregierungsorganisation (NRO) der Journalistin Ann Jones in einer Reportage zur Lage der afghanischen Frauen. Drei ihrer Kolleginnen wurden entführt, geschlagen, gefoltert und mit dem Tode bedroht, falls sie ihre Arbeit für die NRO fortsetzen würden.
Der UNAMA-Report über die Lage der Frauen konstatiert: Frauenorganisationen, Journalistinnen und die weiblichen Parlamentsmitglieder - nach der verfassungsgemäßen Quote 25 Prozent - sind massiv eingeschüchtert, zumal das Parlament von "fundamentalistischen Warlords kontrolliert" werde. Der Bericht zitiert eine Parlamentarierin: "Die meiste Zeit wagen die Frauen nicht, auch nur ein Wort über 'islamische Themen' zu sagen, weil sie Angst haben, als Gotteslästererinnen abgestempelt zu werden."

medica mondiale Afghanistan hat aufgrund der sich verschlechternden Sicherheitslage das Büro in Kandahar 2008 schließen müssen und die Arbeit dort eingestellt. Seit Mitte 2009 arbeitet medica mondiale Afghanistan nur noch innerhalb der Stadtgrenzen von Kabul, Herat und Mazar-i-Sharif.

Im Mai hat der religiöse Rat der Provinz Herat einen Beschluss gefasst, der die Bewegungsfreiheit von Frauen weiter massiv einschränkt: Frauen sollen nicht mehr ohne 'mahram' reisen, also ohne einen männlichen Begleiter. "Wenn Frauen sich zur Arbeit, zu Fortbildungen oder anderen Zwecken ohne mahram bewegen, verstößt das gegen die Scharia", verkündete der Rat. "Obwohl der Islam Bildung für Frauen und Männer vorsieht, darf laut Artikel 3 unserer Verfassung keine Handlung gegen die Scharia akzeptiert werden. Wir rufen alle Väter und Brüder auf, die Ehre ihrer Frauen zu schützen und ihnen solche Handlungen nicht zu erlauben. Wir fordern die afghanische Regierung auf, solche Handlungen gegen die Scharia in diesem islamischen Land zu verhindern." Der Rat verbietet Frauen ausdrücklich, für ausländische NRO zu arbeiten.

"Es scheint, dass einige Provinzen mit solchen Beschlüssen den Boden für die Taliban bereiten wollen", befürchtet die Leiterin der Rechtshilfeabteilung von medica mondiale Afghanistan. Zwar ist das Gremium keine offizielle rechtliche Instanz und vertritt eine äußerst konservative Auslegung der Scharia, aber die Entscheidung ist Ausdruck der momentanen Lage und hat beträchtliches Gewicht.
Auch für medica mondiale Afghanistan hatte die Veränderung des politischen Klimas bereits Konsequenzen: Eine Mitarbeiterin in Herat musste aufgrund des Drucks aus ihrer Familie kündigen, einer weiteren Mitarbeiterin drohte ihr Mann mit Scheidung, weil sie ohne ihn nach Kabul reiste. Eine andere musste nach massiven Drohungen die Wohnung wechseln.

Im Februar 2009 unterzeichnete Präsident Karzai das "Schiitische Personenstandsgesetz", das weltweit Aufsehen erregte. Das Gesetz, mit dem Karzai sich vor den Präsidentschaftswahlen im August 2009 offenbar die Stimmen der rund zehn Prozent Schiiten sichern wollte, erlaubte unter anderem Ehemännern, ihren Frauen die Versorgung zu verweigern, wenn diese ihnen nicht alle vier Tage für den Geschlechtsverkehr zur Verfügung ständen. Dieser Passus wurde nach lokalen und internationalen Protesten wieder gestrichen, andere Regelungen zum Erb- oder Scheidungsrecht blieben aber bestehen. "Solche barbarischen Gesetze sollten mit der Absetzung der Taliban 2001 Vergangenheit sein. Karzai hat sie wieder hervorgeholt und ihnen seinen offiziellen Stempel aufgedrückt", erklärte Human Rights Watch.

Mit Karzais zweiter Amtszeit hat sich das Klima weiter verschärft. So ist der neue Justizminister Habibullah Ghaleb, ein 71-jähriger islamischer Rechtsgelehrter, ein offener Gegner von Frauenrechten. Er fragte, wozu eine islamische Gesellschaft Frauenhäuser brauche und schloss bereits zwei Zufluchten, die von der Internationalen Gemeinschaft finanziert werden. Während medica mondiale Afghanistan unter seinem Vorgänger seit 2004 mit Geldern des Auswärtigen Amtes die Rechtsvertretung von Mädchen und Frauen aufbauen konnte, erklärte der Minister nun: Jugendliche GefängnisinsassInnen dürften nur noch von staatlichen Anwälten vertreten werden. Nach Protesten von medica mondiale Afghanistan lenkte das Ministerium ein, ein endgültiges Ergebnis steht noch aus.

2. Die London-Konferenz: Keine Afghanisierung ohne Frauenrechte

"Die internationale Gemeinschaft hat früher Druck auf die Regierung ausgeübt. Das tut sie jetzt nicht mehr. Auch bei der Londoner Konferenz über die Zukunft von Afghanistan hatten die Frauen keine Stimme."
Humaira Rasuli, Leiterin von medica mondiale Afghanistan

Am 20. Juli wird in Kabul die Fortsetzung der Londoner Afghanistan-Konferenz stattfinden. Auf der London-Konferenz im Januar 2010 wurde unter anderem die sogenannte "Afghanisierung" beschlossen, also die sukzessive Übergabe der Verantwortung für die militärische Sicherheit an die afghanische Regierung. Im Zuge dieses Stabwechsels zieht sich der Westen auch gleichzeitig aus seinen Aufgaben zurück, Menschen-/Frauenrechte zu stärken und die Demokratisierung der Gesellschaft zu unterstützen. Die 'Afghanisierung' ist prinzipiell zu begrüßen, wäre aber aufgrund der massiven Fehler, die Einsatztruppen und internationale Gemeinschaft beim Wiederaufbau des Landes gemacht haben, derzeit fatal:

Von Anfang an wurde der Staatsaufbau von der internationalen Gemeinschaft sträflich vernachlässigt. Das gilt insbesondere für den Aufbau von Justiz und Polizei. Für den Aufbau des Polizeiwesens hat Deutschland eine Führungsrolle übernommen. Auch nach der jüngsten Aufstockung der Mittel ist die Ausbildung afghanischer PolizistInnen (6-8 Wochen Training) absolut unzureichend. Insbesondere mangelt es an einem Konzept der Rechtsstaatlichkeit und der Ausrichtung auf die Menschenrechte. So berichten deutsche Polizisten, die nach dem neuen Konzept des "Partnering" gemeinsam mit ihren afghanischen Kollegen in den Dörfern unterwegs sind, nach wie vor von brutalen Übergriffen durch afghanische Polizisten. Es war von Beginn an ein Fehler, Warlords auf die Regierungsbank zu setzen. Denn wie lässt sich mit Demokratiegegnern eine Demokratie aufbauen?

Auch im Justizwesen sind Willkür und Diskriminierung weiterhin an der Tagesordnung. Vielen Richtern und Staatsanwälten fehlt es nach wie vor an rechtsstaatlichem Wissen. Korruption und massive Verfahrensfehler sind auf allen Ebenen des Justizapparates an der Tagesordnung.

Zivilgesellschaftliche Organisationen standen nie im Mittelpunkt des Staatsaufbaus. Insbesondere Frauen galten nicht als vorrangige Zielgruppe, so dass Frauenrechtsorganisationen kaum von internationalen Programmen profitieren konnten. Dies rächt sich nun, da nicht auf tragfähige Strukturen weiter aufgebaut werden kann. Das bedeutet: Der Strategiewechsel hin zur Verstärkung des zivilen Aufbaus, den die Bundesregierung nach der Londoner Afghanistan-Konferenz verkündet hat, ist begrüßenswert, kommt aber viel zu spät. Die für 2010 als NRO-Fazilität vom Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zur Verfügung gestellten 10 Millionen Euro treffen nicht auf funktionierende Strukturen. Zudem ist der Vorrang der militärischen Strategie weiterhin klar gegeben.

Was den Staatsaufbau und das Vertrauen der Bevölkerung in den Staatsapparat erheblich erschwert, ist das herrschende Klima der Straflosigkeit: Im Dezember 2009 hat das Parlament ein Amnestie-Gesetz erlassen, das Kriegsverbrechen der letzten 30 Jahre straffrei stellt. So bleiben Warlords und andere Kriegsverbrecher in Parlament, Regierung und Behörden unbehelligt. Die internationale Gemeinschaft hat dieses Gesetz ohne weiteres hingenommen. Auf einer so genannten "Victims Jirga" in Kabul im Mai haben hunderte TeilnehmerInnen dieser Haltung vehement widersprochen.

Ein Rückzug der internationalen Gemeinschaft riskiert also, dass sich das ohnehin zunehmend konservative und für Frauen extrem bedrohliche Klima noch weiter verschärft. Die Haupt-Leidtragenden dieser Entwicklung wären die afghanischen Frauen und Mädchen.

3. Die Kabul-Konferenz: Frauenrechte dürfen nicht verhandelbar sein!

"Wenn der Konflikt mit den Taliban befriedet werden soll, müssen wir Kompromisse eingehen, was die Verfassung, Frauenrechte und bürgerliche Freiheiten anbelangt."
Afghan Scene, populärstes englischsprachiges Magazin für AuslandsmitarbeiterInnen in Afghanistan, Juni 2010

Die Befürchtung, dass die künftige Entwicklung, für die die Kabul-Konferenz die Weichen stellen soll, katastrophale Folgen für die afghanischen Frauen haben wird, gilt insbesondere, wenn demnächst die Taliban als Partner für Friedensverhandlungen an den Verhandlungstisch geholt werden sollen. Wie der ehemalige pakistanische Geheimdienstchef Hamid Gul erklärte, lauten die Bedingungen der Taliban für eine Einstellung der Kampfhandlungen: Abzug der ausländischen Truppen, die Absetzung von Präsident Karzai und die Einführung der Scharia - womit eine sehr konservative Auslegung der Scharia gemeint ist. Zwar verbietet selbst die Verfassung, dass Gesetze gegen die Scharia verstoßen, ausschlaggebend ist hier jedoch, wie die Scharia interpretiert wird.

Frauenorganisationen befürchten, dass die mühsam erkämpften Frauenrechte als Verhandlungsmasse eingesetzt werden, um den Taliban entgegenzukommen. In Anbetracht der Tatsache, dass der internationalen Gemeinschaft die Frauenrechte seit Jahren aus dem Blick geraten sind und sie auch angesichts der zunehmenden Attacken und Bedrohungen nicht reagiert, dürften diese Befürchtungen der Frauen mehr als gerechtfertigt sein.

Das zeigte sich auch auf der Friedens-Dschirga die Anfang Juni stattfand. Die traditionelle Versammlung von rund 1.600 Delegierten debattierte über einen möglichen Weg zum Frieden. Obwohl der Anteil der Frauen mit rund 400 bei über 20 Prozent lag - und damit die obligatorische Quote formal eingehalten wurde - kamen die Frauen mit ihren Anliegen de facto nicht zu Wort. Eine dementsprechende kritische Beobachtung der Veranstaltung, teilfinanziert von der deutschen GTZ mit einer halben Million Euro, durch deutsche Institutionen fand nicht statt.

"Ein rascher Blick auf die Teilnehmer machte die Hoffnung auf ein Ergebnis der Dschirga zunichte, das die Gewalt beenden oder auch nur einen Schritt in diese Richtung sein könnte" schreibt Wazhma Frogh, eine junge afghanische Frauenrechtsaktivistin, in ihrem Blog auf der Website des ,,Afghanistan Analysts Network". "Die Männer, die die treibende Kraft der Dschirga waren, hatten mit Frieden und Sicherheit nichts am Hut. Es sind die sogenannten Warlords und Rebellenführer, die sich gegenseitig bekämpften, Städte zerstörten und Afghanen im Bürgerkrieg umbrachten und die heute Posten in der Regierung haben, wo sie Straflosigkeit für ihre früheren und aktuellen Verbrechen genießen." Und weiter: "In den drei Tagen der Dschirga hatten die Frauen, die mehr als alle anderen zu verlieren haben, keine Gelegenheit zu sprechen. Keiner Frau wurde angeboten, in einer Rede ihre Befürchtungen zu äußern, was passieren würde, wenn die Taliban in die Regierung oder andere politische Prozesse eingebunden werden."

Dafür meldeten sich in der Folge der Friedens-Dschirga zehn afghanische Frauenorganisationen zu Wort. Auf Initiative von medica mondiale Afghanistan und dem Afghan Women's Network kamen die im Peace Building Network organisierten Frauen zusammen und erklärten anschließend gemeinsam: "Die afghanischen Frauen werden keine Friedensverhandlungen akzeptieren, die einen Verlust ihrer Errungenschaften bedeuten, die sie in den letzten zehn Jahren erkämpft haben." In diesem Sinne fordern sie eine angemessene Beteiligung von Frauen an der bevorstehenden Kabul-Konferenz.


4. Vermischung von Militär und Menschenrechts-/Entwicklungszusammenarbeit - die falsche Strategie

"Wir ersuchen mit Nachdruck die internationalen Streitkräfte, alle Fehler zu vermeiden, die im Zuge ihrer Operationen zu zivilen Verlusten führen. Wir fordern sie auf, ihre Fehler nicht zu wiederholen. Das afghanische Volk ist es überdrüssig, von der NATO immer wieder Entschuldigungserklärungen zu hören."
Afghan Women Network in einer Erklärung zum 8. März 2010

Die westlichen Truppen sind inzwischen aufgrund von sogenannten Kollateralschäden für ein Drittel der zivilen Todesopfer verantwortlich. Die afghanische Bevölkerung steht dem internationalen Einsatz immer skeptischer gegenüber.

Vor diesem Hintergrund ist es für die Arbeit von Menschenrechts-Organisationen besonders fatal, dass eine unheilvolle Vermischung von militärischen Aktionen und zivilem Engagement stattfindet. Dies geschieht vor allem durch die "Provincial Reconstruction Teams", die seit Ende 2002 ihre Arbeit aufgenommen haben: Soldaten, die der NATO unterstellt sind, leisten Aufbauarbeit zum Beispiel durch Brunnen- und Schulbau. Erklärtes Ziel: Die "Herzen und Köpfe" der Menschen gewinnen. Doch Militär kann kein Faktor für Entwicklung sein!

Neben der zunehmenden Anzahl ziviler Opfer der Militäreinsätze, die dieses Ziel ad absurdum führen, besteht die Gefahr, dass die Bevölkerung mit der Vermischung von militärischem und humanitärem Mandat die Arbeit von Menschenrechts-Organisationen wie medica mondiale nicht mehr als politisch unabhängig wahrnimmt, sondern als Teil des Militärs und seiner politischen Ziele. Dass diese Ziele nicht so sehr in der Armutsbekämpfung und dem demokratischen Aufbau des Landes liegen, sondern in der "Terrorismusbekämpfung" (die international zum Anstieg des Terrorismus geführt hat) und der geostrategischen Bedeutung Afghanistans als Transitland für Öl-Pipelines, ist der afghanischen Bevölkerung nicht verborgen geblieben. Die kürzliche Meldung über Bodenschätze, die ausländischen Unternehmen Milliardenumsätze versprechen, tragen das ihre zu dem Eindruck bei, dass die Maßnahmen zu 'Befriedung' und Staatsaufbau allenfalls Mittel zum Zweck und dementsprechend halbherzig sind.

Entwicklungsminister Dirk Niebel hat nun das Problem weiter verschärft, indem er die Strategie der "Vernetzen Sicherheit" forciert, die besagte Verquickung von militärischen und Menschenrechtsaktivitäten zwingend vorsieht. Im Rahmen des deutschen Strategiewechsels zum verstärkten zivilen Aufbau ("Entwicklungsoffensive") knüpft der Minister die finanzielle Unterstützung von Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit und Menschenrechts-Organisationen an das Bekenntnis zum Afghanistan-Konzept der Bundesregierung. Das Konzept der Vernetzten Sicherheit erklärt Minister Niebel wie folgt: "Vernetzte Sicherheit bedeutet für mich, dass Entwicklungspolitik, Außenpolitik, Verteidigungspolitik und andere Politikfelder eng aufeinander abgestimmt an gemeinsamen Zielen arbeiten. Unter Vernetzte Sicherheit verstehe ich auch, dass sich militärische und zivile Organisationen ergänzen, etwa beim Aufbau Afghanistans." Für Menschenrechts-Organisationen ist diese Verknüpfung höchst problematisch und ein echter Paradigmenwechsel in der Zusammenarbeit zwischen Ministerium und NRO: "Erstmals in der Geschichte der Zusammenarbeit zwischen dem Bundesentwicklungsministerium und den Nicht-Regierungsorganisationen wird die Vergabe von Hilfsgeldern an politische Vorgaben geknüpft, die das Ziel verfolgen, unsere Arbeit in eine politische und militärische Gesamtstrategie einzubinden", erklärt der Verband Entwicklungspolitik deutscher Nichtregierungsorgansiationen (VENRO), dem auch medica mondiale angehört. Eine Folge: "Es gibt zahlreiche Belege dafür, dass MitarbeiterInnen von Hilfsorganisationen oder ihre Zielgruppen häufig von Aufständischen zu legitimen Angriffszielen erklärt werden, sofern eine militärische Anbindung der zivilen Hilfsprojekte besteht."



5. medica mondiale fordert:

Die Operation "Enduring Freedom" muss gestoppt und sämtliche internationale Truppen unter UNO-Mandat gestellt werden.

Eine klare Trennlinie muss gezogen werden zwischen Militär und zivilen Organisationen der Entwicklungszusammen- und Menschenrechtsarbeit. Die Bundeswehr darf nicht als Armee zur Terrorbekämpfung, sondern muss als Schutztruppe für den zivilen Aufbau positioniert werden.

Die Interessenlage der internationalen Gemeinschaft muss sowohl in den Geberländern als auch von der afghanischen Zivilgesellschaft hinterfragt werden. Wenn militärische und wirtschaftliche Interessen dominieren, dann orientiert sich das Engagement nicht an den Bedürfnissen der Empfänger, sondern an den Interessen der Geberländer. Das klare Ziel des Afghanistan-Einsatzes muss der zivile und demokratische Aufbau des Landes sein.

Das Verhältnis der bereitgestellten Gelder muss sich dringend zugunsten des zivilen Aufbaus verschieben. Drei Viertel der deutschen Ausgaben für Afghanistan gehen in den militärischen Einsatz, nur ein Viertel in den zivilen Aufbau. Gelder für Frauenprojekte betragen ein Prozent der Gesamtausgaben. Darin spiegelt sich exakt die Relevanz wieder, die Stellung und Rechte der afghanischen Frauen in den Augen der internationalen Gemeinschaft einnehmen. Allerdings bedarf es endlich eines ernsthaften Controllings seitens der Geldgeber, da Unsummen in nicht funktionierenden staatlichen Strukturen verschwinden.

Keine Afghanisierung ohne die gleichzeitige Stärkung der Zivilgesellschaft, insbesondere der Frauenrechtsorganisationen! Frauen müssen an allen politischen Prozessen beteiligt werden. Die afghanische Regierung muss eine 25-Prozent-Quote für alle Gremien garantieren.

Die afghanische Regierung muss einen Nationalen Aktionsplan aufstellen, um auf Basis der UN-Resolution 1325 die Einbeziehung von Frauen in den Friedens- und Versöhnungsprozess zu gewährleisten. Die UN-Resolution, die im Jahr 2000 verabschiedet wurde, "fordert die Mitgliedstaaten nachdrücklich auf, dafür zu sorgen, dass Frauen in den nationalen, regionalen und internationalen Institutionen und Mechanismen zur Verhütung, Bewältigung und Beilegung von Konflikten auf allen Entscheidungsebenen stärker vertreten sind". Auch Deutschland hat - zehn Jahre nach Verabschiedung der Resolution - noch keinen Nationalen Aktionsplan aufgestellt. Dieser Plan muss dringend erstellt werden, um eine systematische und kohärente Unterstützung für die afghanischen Frauen zu gewährleisten.

Die internationale Gemeinschaft muss darauf dringen, dass die afghanische Regierung den bereits 2005 verabschiedeten "National Action Plan for Women in Afghanistan (NAPWA)" endlich umsetzt.

Die internationale Gemeinschaft muss afghanische Frauen durch gezielte Empowerment-Programme stärken und Frauen in Entscheidungspositionen unterstützen. Das Selbstbewusstsein der afghanischen Frauen und der afghanischen Frauenorganisationen ist gestiegen. Trotz massiver Drohungen hat sich eine afghanische Frauenbewegung formiert, die dringend der Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft bedarf!

Jede Zahlung der Geberländer muss von der Einhaltung der Menschenrechte abhängig gemacht werden! Die Rechte von Frauen dürfen dabei keine zu vernachlässigende Größe sein.

Die internationale Gemeinschaft muss auf die afghanische Regierung einwirken, das Amnestie-Gesetz zurückzunehmen und das Klima der Straflosigkeit für Kriegsverbrecher zu beenden. Die Regierung Karzai hatte 2003 das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs ratifiziert, was im vollkommenen Widerspruch zum Amnestie-Gesetz steht. Der afghanische nationale Aktionsplan "Frieden, Versöhnung und Gerechtigkeit" muss wieder eingesetzt und umgesetzt werden.

Die Bundesregierung muss eine unabhängige Kontroll-Kommission zur Auswertung aller bisher vorgenommenen Aktivitäten in Afghanistan einsetzen, um Fortentwicklungen und auch Rückschritte aller umgesetzten Maßnahmen zu messen.

Frauenrechte sind nicht verhandelbar!


medica mondiale in Afghanistan

Seit 2001 engagiert sich medica mondiale für Frauen und Mädchen in Afghanistan. Die Projektarbeit konzentriert sich auf die Städte Kabul, Herat und Mazar-i-Sharif. Der Projektstandort Kandahar musste aufgrund der Sicherheitslage Ende 2008 aufgegeben werden.
Dass dezidierte Projekte für Frauen wertvolle Schritte auf dem Weg zur Demokratisierung und Stärkung der Zivilgesellschaft sind, belegen einige wenige Beispiele aus der Arbeit von medica mondiale:

Die Anwältinnen begleiteten insgesamt rund 2.200 Frauen bei Prozessen - in etwa 2.000 dieser Fälle konnten die Juristinnen einen Freispruch oder ein deutlich niedrigeres Urteil als von der Staatsanwaltschaft gefordert für die Frauen erreichen.
Mehr als 1.200 Frauen konnten die psychosoziale Beratung in Anspruch nehmen und hatten damals erstmals in ihrem Leben die Möglichkeit, über ihre belastenden Erfahrungen zu reden. Mehr als ein Viertel von ihnen war aufgrund ernsthafter Stress-Symptome wie Schmerzen, Zittern, Kurzatmigkeit, Depression, Aggression, Angstgefühle in die Beratung gekommen.
In einem neu angebotenen Training wurden rund 60 Mullahs zu den Folgen von Kinderverheiratungen und dem Gesetz zur Eheregistrierung informiert, das diese Kinderheiraten verhindern soll. Die Teilnehmer waren sich nach dem Training einig, dass die Eheregistrierung keine 'westliche' und abzulehnende Idee sei, sondern absolut mit dem Islam übereinstimme.

Das Angebot von medica mondiale Afghanistan:

Schulung medizinischer Fachfrauen
Die wenigsten Patientinnen, die Opfer von Vergewaltigung oder anderer Gewalt wurden, nennen die wahre Ursache für ihre Beschwerden und Verletzungen. medica mondiale schult seit 2002 ÄrztInnen und medizinisches Personal in traumasensibler Behandlung von Patientinnen. Zunächst behandelten in Deutschland lebende afghanische Ärztinnen rund 10.000 Patientinnen und gaben ihre Kenntnisse an ihre Kolleginnen weiter. Seit 2006 führt medica mondiale Afghanistan Fachseminare für weibliches Krankenhauspersonal durch, das unter anderem in Psychosomatik weitergebildet wird.

Rechtshilfe für Mädchen und Frauen
Ein Großteil der Mädchen und Frauen in afghanischen Gefängnissen wird zu Unrecht inhaftiert: Mädchen, die vor einer Zwangsverheiratung geflüchtet sind oder Frauen, denen Ehebruch vorgeworfen wird, die aber de facto oft Opfer von Vergewaltigung oder Zwangsprostitution geworden sind. Anwältinnen von medica mondiale Afghanistan sorgen dafür, dass sie einen fairen Prozess bekommen und versuchen per Mediation zu erreichen, dass sie wieder in ihren Familien aufgenommen werden. Seit 2003 konnten die Juristinnen für mehr als 2.000 Frauen einen Freispruch oder ein deutlich geringeres Strafmaß erreichen.

Psychosoziale Beratung und Weiterbildung
Psychologinnen und psychosoziale Beraterinnen bieten für Frauen in Kabul und Herat Einzel- und Gruppenberatung an. Die Nachfrage ist groß, da es in Afghanistan kaum Anlaufstellen für traumatisierte Frauen gibt. Seit 2003 bildet medica mondiale afghanische Fachfrauen aus medizinischen und psychosozialen Berufen fort. Bis heute konnten sich rund 430 Sozialarbeiterinnen, Psychologinnen und Hebammen mit den Grundlagen von psychosozialer Beratung vertraut machen.

Kampagnen für Frauenrechte
Die gesetzlich verbrieften Rechte von Frauen müssen auch tatsächlich umgesetzt werden. Deshalb führt medica mondiale Afghanistan jedes Jahr eine große Aufklärungskampagne durch. So ermittelte die Organisation erstmalig das Ausmaß an Kinderheiraten und setzte sich in Zusammenarbeit mit dem Justizministerium für eine Registrierung von Eheschließungen ein: Mit Einhaltung des gesetzlich festgelegten HeiratsMindestalters von 16 Jahren wäre den weit verbreiteten Kinderverheiratungen Einhalt geboten. medica mondiale Afghanistan prangerte die erschreckende Zahl der Selbstverbrennungen an und führte Polizeischulungen durch, um PolizistInnen Basiskenntnisse über Frauenrechte und Gewalt gegen Frauen zu vermitteln.


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Quelle:
"Wir waren voll Hoffnung auf eine bessere Zukunft..."
Positionspapier von medica mondiale zur Lage der Frauen in Afghanistan, Juni 2010
medica mondiale e.V.
Hülchrather Str. 4, 50670 Köln
Telefon: +49/221/9 31 89 8-0, Fax: +49/221/9 31 89 8-1
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Internet: www.medicamondiale.org


veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Juli 2010