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STELLUNGNAHME/003: Veranstaltung der Jüdischen Gemeinde in Berlin (Jüdische Stimme)


Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost - Presseerklärung vom 27. April 2010

Die Jüdische Gemeinde zu Berlin hat kein Monopol auf das Auschwitzerbe aller Juden


Die Jüdische Gemeinde lädt zu einer Podiumsdiskussion "Zum Umgang deutscher Medien mit Erinnerungskultur, Israelkritik und Antisemitismus" ein, auf der der Beauftragte der Gemeinde für die Bekämpfung des Antisemitismus mit Vertretern und Vertreterinnen Berliner und überregionaler Medien erörtern will, wo "die 'rote Linie' zum Antisemitismus" verläuft und wie "der mediale Umgang mit dem Gedenken künftig gestaltet werden soll".

Anlass ist ein Kommentar mit dem Titel "Auf Zehenspitzen gehen" (Druckausgabe) bzw. "Pilgerfahrt nach Auschwitz" (Internetausgabe), der Anfang März in der taz erschien. In diesem wendet sich die Israelin Iris Hefets - Mitglied unseres Vorstands - gegen die in Deutschland übliche Zensur jeglicher Kritik an der Politik Israels gegenüber Palästinensern im eigenen Land und in den besetzten Gebiete. Zentraler Gegenstand des Artikels ist dabei die Instrumentalisierung des Gedenkens an den Holocaust nicht zuletzt in Israel. Nun ist es keineswegs das Vorrecht von Israelis und Juden, die Politik Israels zu kritisieren und ebenso wenig den Umgang mit einer solchen Kritik in Deutschland zu kommentieren. Es kann aber unterstellt werden, dass Iris Hefets und mit ihr unsere Organisation den Kommentar in der taz in der Absicht zur Veröffentlichung brachte, dem uns selbst und unseren Nachgeborenen überlieferten Vermächtnis des Völkermords an unseren Vorfahren nach bestem Wissen und Gewissen gerecht zu werden.

In der Jüdischen Stimme haben sich Überlebende der Konzentrationslager, Nachfahren von Ermordeten, deutsche Juden und in Deutschland lebende Juden zusammengefunden, um in Verantwortung vor ihrer Geschichte gegen das Unrecht aufzustehen, das die israelischen Regierungen am palästinensischen Volk begehen. Folglich heißt es auch in ihrem Selbstverständnis und Gründungsdokument aus dem Jahre 2003: "Wir, Frauen und Männer jüdischer Herkunft in Deutschland, haben uns vereinigt, um sichtbar zu machen, dass wir aus den historischen Erfahrungen unserer Vorfahren um die Entwürdigung und den Schmerz wissen, die Menschen zugefügt werden, wenn sie systematisch ausgegrenzt und entrechtet werden. Es darf sich kein Volk über ein anderes Volk und kein Mensch über einen anderen Menschen erheben. Alle Menschen sind gleich an Rechten geboren."

Und weiter:
"In Deutschland gilt es jedoch klar zu sagen: Positionen, hinter denen sich antisemitische Einstellungen verbergen, sind mit dem Anliegen der Jüdischen Stimme unvereinbar. In inneren politischen Gesprächen ebenso wie im Zusammengehen mit anderen Organisationen und Gruppen wird stets zu berücksichtigen sein, dass einzelne Mitglieder und Freunde der Jüdischen Stimme selbst Diskriminierung erlebt haben oder erleben."

Nun weiß man bei der Jüdischen Gemeinde zu Berlin sehr genau, dass die jüdische Authentizität unserer Organisation unanfechtbar ist. Je nach Wetterlage beliebt es dem Botschafter des Staates Israel oder Vertretern des Zentralrats der Juden in Deutschland, sich der Vielfalt der jüdischen Stimmen zu brüsten und sie gar als Beweis für eine besonders aufgeklärte Demokratiekompetenz von Juden in Israel und in Deutschland zu feiern.

In jüngster Zeit, da die Politik Israels international und insbesondere in breiten Teilen der europäischen und nordamerikanischen Zivilgesellschaften als völkerrechtswidrig und inhuman kritisiert wird (in Israel pflegt man in Regierungskreisen von einer internationalen De-Legitimisierung der eigenen Raison zu sprechen), weht ein anderer Wind.

Mit dem Ziel der Schadensbegrenzung ist man jetzt in Israel und offenbar auch in den Jüdischen Gemeinden hierzulande entschlossen, kritische Stimmen mit allen Mitteln zum Schweigen zu bringen. Dabei spielt die Herkunft der Kritiker, das zeigen das förmliche Redeverbot für den Israeli Ilan Pappé oder den US-Amerikaner Norman Finkelstein sowie nicht zuletzt der aktuelle Umgang mit Iris Hefets, keine Rolle. Auch die Tatsache, dass in den europäischen Nachbarstaaten, in den USA und ja, in Israel selbst das Recht der Zivilgesellschaften an umfassender und pluralistischer Aufklärung hochgehalten wird, ist nicht von Belang. Fast scheint es so, als käme in Deutschland allein den jüdischen Gemeinden die Hoheit zu, darüber zu befinden, welche Meinung zu Israels Politik geäußert werden dürfe und welche nicht. Kirchen, öffentliche Einrichtungen und Medien werden des Antisemitismus beschuldigt und geraten unter massiven Druck, wenn sie sich anschicken, die im Grundgesetz verbriefte Meinungs-, Versammlungs- und Pressefreiheit im Lande wahrzunehmen und Stimmen zu Wort kommen zu lassen, die die Besatzungspolitik Israels kritisieren, den Goldstone-Report über den Gazakrieg würdigen oder die Umsetzung des Gutachtens des Internationalen Gerichtshofs zum Verlauf der von Israel quer durch Palästina errichteten Trennmauer anmahnen. De facto nehmen die Jüdischen Gemeinden eine Zensurhoheit wahr, die in der Verfassung nicht vorgesehen und weder der bundesdeutschen Mehrheitsgesellschaft noch der jüdischen Minderheit dienlich ist.

Vor diesem Hintergrund ist nach dem Ansinnen zu fragen, das die Jüdische Gemeinde zu Berlin mit der nunmehr anberaumten Podiumsveranstaltung verfolgt.

Die Tatsache, dass Iris Hefets als Autorin des Kommentars nicht eingeladen wurde, sich auf dem Podium öffentlich zu erklären, spricht für sich. Im Einladungstext fehlt zudem jeder Hinweis darauf, dass sie Israelin und Mitglied unserer Organisation ist. Beides ist öffentlich bekannt. Der Diskurs mit unserer Organisation ist nicht offenkundig gewollt. Es soll nicht sichtbar werden, dass die Jüdische Gemeinde zu Berlin nicht im Namen aller hier lebenden Juden und der Staat Israel nicht im Interesse der "jüdischen Welt" handelt.

Stattdessen zieht es die Jüdische Gemeinde vor, mit befreundeten Vertretern der deutschen Presse (Die Welt, Der Tagesspiegel, Perlentaucher) die taz auf ein Anklagepodium zu zerren, damit auch hier Ruhe in Sachen Israel einkehrt. Augenscheinlich ist es leichter - das Muster ist allzu bekannt -, die taz ob der unzensierten Veröffentlichung des Kommentars des Antisemitismus zu bezichtigen. Für die Konkurrenten der Zeitung ein annehmbares Spiel. Für die Pressefreiheit im Lande eine Gefahr.

Für uns Juden und Jüdinnen, die wir hierzulande im eigenen und mit unseren israelischen Freunden nicht zuletzt auch im Interesse einer lebbaren Zukunft der Bevölkerung Israels handeln, wäre jede Maßregelung der taz im Sinne der in der Einladung zur Veranstaltung angekündigten "Grenzziehung" für die Auseinandersetzung mit der Politik Israels gegenüber dem palästinensischen Volk ein nicht hinnehmbarer Anschlag auf unsere politischen Freiheiten und moralische Integrität.

Wir werden auch künftig nicht zulassen, dass unser Gedenken an den Völkermord und unsere Mahnung, dass sich Geringschätzung und Ausgrenzung von Schwächeren und Andersdenkenden nicht wiederholen dürfen, als antisemitisch diskreditiert werden.

Nie wieder! An keinem Ort der Welt. Das ist unsere Lehre aus Auschwitz.


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Quelle:
Presseerklärung vom 27. April 2010
Jüdische Stimme
Haus der Demokratie und Menschenrechte
Greifswalder Str. 4, D-10405 Berlin
Telefax: +49 (0)30 396 21 47
E-Mail: mail@juedische-stimme.de
Internet: http://www.juedische-stimme.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Mai 2010