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NACHRUF/025: Zum Abschied von Manolis Glezos, 9.9.1922 - 30.3.2020 (Rolf Becker)


Zum Abschied von Manolis Glezos

9.9.1922 - 30.3.2020

von Rolf Becker, 19. Mai 2020


16. September 2012: der erste Besuch unserer ersten Solidaritätsreise "Gegen Spardiktate und Nationalismus", organisiert von griechischen Gewerkschaftskolleginnen und Kollegen sowie dem griechischen Nationalrat, führte uns nach Kesariani zum "Altar der Freiheit", der Gedenkstätte für 600 von der Deutschen Wehrmacht hingerichtete Widerstandskämpfer - Geiseln, Kommunisten, auch Deserteure.

Wir standen mit Transparenten und Blumen betroffen um den Gedenkstein vor der aus Steinen geschichteten Mauer, dem "Schießstand der Deutschen Wehrmacht", als er, der 90jährige, dem warmen Spätsommertag entsprechend nur mit einem kurzärmligen offenen blauen Hemd über der dunklen Hose und mit einer Aktentasche in der Hand, wie zufällig über den Platz auf uns zukam: Manolis Glezos, Vorsitzender des Nationalrates.

Kein Wort, auch nicht auf Nachfrage, über das Ereignis, das ihn weltweit bekannt machte: das gemeinsame Besteigen mit seinem Freund Apostolos Sandas der Akropolis am 30. Mai 1941 und das Niederholen der wenige Tage zuvor von der Deutschen Wehrmacht gehissten Hakenkreuzfahne - eine Aktion, die zum Signal für den Befreiungskampf in Griechenland wurde. Kein Wort über die mehrfachen Todesurteile, Verhöre, Folterungen, die insgesamt 11 Jahre Haft, im Krieg, im Bürgerkrieg, während der Obristen-Diktatur 1967-1973. "Das könnt Ihr irgendwo nachlesen". Kein Wort über seinen Bruder, der hier 1944 hingerichtet wurde - erst ein Jahr später, bei einem privaten Besuch, zeigte er uns - sichtlich bewegt - das herausgerissene, mit kurzen Informationen und einem Abschiedsgruß beschriftete Futter der Mütze, das sein Bruder beim Transport zur Erschießung vom Fahrzeug hatte werfen können. "Am 10. Mai 1944 exekutierten deutsche Soldaten meinen 19-jährigen Bruder Nikos in Kesariani, mit ihm zusammen weitere 81 Männer und 10 Frauen. Zehn Tage vorher, am 1. Mai hatten sie da bereits 200 griechische Patrioten hingerichtet." Im Mai 1949, im Bürgerkrieg wegen seiner Widerstandstätigkeit in der KKE zum Tode verurteilt, schrieb er im Athener Averoff-Gefängnis, auf seine eigene Hinrichtung wartend, seines Bruders gedenkend:

"Empfang mich Bruder
auf dem Weg der Hingabe.
Ich werde den Spuren folgen
den Zeichen der Wachheit
die Du mit Blut markiert hast.

Ich werde dem Ton deiner Schritte folgen
Die du durch die engen Pfade des Leids gingst
und ich werde dich finden.

Empfang mich mein Bruder
Unterstützer auf deinem Weg.
Ich komme ..."

Manolis Glezos schilderte den Überfall Deutschlands auf Griechenland, den er als Jugendlicher im Widerstand miterlebt hatte, erinnerte an die Zerstörungen und die Ausplünderung des Landes, dessen Agrarprodukte in solchem Umfang konfisziert wurden, dass allein in Athen 100.000 Tausend Menschen verhungerten. Er verwies auf die Vergeltungsaktion der Wehrmacht bei Verlusten im Partisanenkampf, auf die Massaker in Distomo, Kalavrita, Lyngiades, Anogia, Ano Viannos - hunderte weiterer Orte seien zu nennen. Konsequenz seitens sämtlicher deutscher Regierungen: Verweigerung jeglicher Reparationszahlungen, nicht einmal die Zwangsanleihe, zu der die griechische Regierung während der Besetzung des Landes gezwungen worden sei, werde zurückgezahlt. Stattdessen ein weiterer Angriff auf die Lebensbedingungen im Land, "diesmal nicht militärischer, sondern finanzieller, sozialer und politischer Art". Für wichtiger aber, als die Reparationsfrage bei unserer Rückkehr zu thematisieren, halte er, dass wir über die konkreten Verhältnisse im Land berichten, seine Geschichte, das heutige Leben und Leiden der einfachen Menschen. Jeder Beitrag zur Völkerverständigung sei die notwendige Voraussetzung zur Klärung offener ökonomischer und politischer Fragen. "Was bei uns geschieht, betrifft doch alle. Wir können ein Europa bauen, das Frieden und Kultur beinhaltet." Bevor er sich verabschiedete packte er seine Aktentasche aus und überreichte jedem von uns sein "Schwarzbuch der Besatzung".

Rachegedanken und Individualisierung politischer Fragen wies er zurück, auch gegenüber griechischen Mitstreitenden. So wie am 25. September 2016 auf einer festlichen Zusammenkunft im repräsentativen "Polis Art Cafe" in Athen zum Gedenken an die Opfer deutscher Wehrmachtsverbrechen auf Kreta: "Wir, die wir geliebte Menschen verloren haben, empfinden keinen Hass für die Menschen in Deutschland, streben nicht nach Vergeltung. Alle, die mir wirklich zuhören, stimmen der Rechtmäßigkeit unserer Forderungen zu. Oft standen mir Deutsche zur Seite, halfen mir, mit der Bevölkerung in Deutschland zu kommunizieren. Und das ist viel wertvoller, dauerhafter, menschlicher. Und es ist gegenseitig."

Aufschlussreich auch ein video-belegter Vorfall bei der jährlichen Gedenkveranstaltung am 10. Juni 2015 in Distomo, bei dem wir nicht zugegen waren: als der deutsche Botschafter in Griechenland, Peter Schoof, einen Kranz für die NS-Opfer von Distomo niederlegen wollte, versuchte Zoe Konstantopoulou, kurzzeitig Parlamentspräsidentin für das damals noch regierende Parteien-Bündnis Syriza ihn daran zu hindern: "Sie haben nicht das Recht - Sie müssen den Opfern Reparationen zahlen." Manolis Glezos, obwohl gleicher Meinung wie sie in Bezug auf die Reparationsforderungen, führte den Botschafter zum Mahnmal, damit er den Kranz niederlegen konnte: "Das Kind eines Verbrechers, was auch immer die Verbrechen seines Vaters oder seiner Mutter seien, ist dafür nicht verantwortlich." Nicht nur seine spontane Reaktion, auch seine vorurteilfreie Begründung werden erschütternd glaubhaft auch durch seine eigene Geschichte: dreimal war er von der Deutschen Wehrmacht verhaftet und gefoltert, und einmal zum Tod verurteilt worden.

Manolis Glezos - sein Denken überschritt alltagsbezogene politische Forderungen. Rückblickend auf die Kriegsjahre schrieb er in einem Brief am 3. Mai 2013: "Frauen, die ihre Kinder, Brüder, Väter oder Ehemänner verloren hatten, gingen hinunter zur Küste oder kletterten in die Berge, und wo immer sie die Leichen des Feindes fanden, da war es nicht mehr der Feind: Sie ehrten die Verstorbenen, sie wuschen sie und beerdigten sie, wie es der Brauch war. So waren sie die Enkelinnen von Antigone, die den Toten gegenüber ihre Pflicht verrichteten."

Hamburg, 1. Mai 2015. Nach wochenlangen Verhandlungen mit dem DGB war es gelungen, Manolis Glezos als Redner auf der Mai-Kundgebung durchzusetzen. Er hatte zuvor schriftlich erklären müssen, nicht über die Reparationsforderungen Griechenlands zu sprechen. Die Zusage schien ihm nicht schwerzufallen. Katja Karger, DGB-Vorsitzende in Hamburg empfing ihn auf dem Podium: "Fünftausend hier auf dem Platz begrüßen Sie!" Antwort von Manolis Glezos: "Ich freue mich über die Fünftausend, aber ich habe eine Frage: Wo sind die anderen?" Jubelnde Zustimmung der Fünftausend, die verstanden und, anders als sonst, seiner Rede aufmerksam folgten:

"1. MAI 2015 - Kein Tag der Blumen.

Liebe Genossen, liebe Arbeiter aus Deutschland, aus Frankreich und aus Europa, die Ihr hier seid. Es ist meine Plicht, meinen Respekt zu zollen allen Arbeitern in Europa und auf der ganzen Welt, die dazu beigetragen haben, dass wir solche Versammlungen wie heute hier abhalten können. Am 1. Mai zeigen die Arbeiter der ganzen Welt ihre Kraft. Wir geben ihre Forderungen bekannt und zeigen den Weg in die Zukunft.

Ich stimme dem, was die Kollegin Katja und die Kollegin aus Frankreich gesagt haben, völlig zu. Aber als ein junger Mann wie ich, mit 93, bin ich damit nicht zufrieden. Ich bin deswegen nicht zufrieden, weil viele Arbeiter an dieser Kundgebung nicht teilnehmen. Und ich frage mich: Sind sie schuld oder sind wir schuld, dass sie nicht hier sind?

Das Kapital und die Arbeitgeber haben versucht, diesen Tag zu einem "Tag der Blumen" zu machen. Wir haben uns dagegen gewehrt. Aber die Arbeiter, die heute nicht streiken, die Arbeiter, die heute nicht protestieren - was passiert mit denen? Wo sind sie?

Ich arbeite seit ich 10 Jahre alt bin und habe auch mein Studium mit Arbeit finanziert. Und immer denke ich darüber nach: Wo ist meine Schuld, dass nicht das verwirklicht worden ist, was verwirklicht werden muss?

Die Arbeiterklasse in Griechenland hat es geschafft, bei den Kämpfen für die Freiheit unseres Landes in erster Reihe zu stehen. Sie hat für die nationale Freiheit (gemeint: gegen die deutsche Wehrmacht) gekämpft. Sie hat gegen die Militärdiktatur gekämpft. Und sie hat gegen die soziale Ungerechtigkeit und gegen die soziale Ungleichheit gekämpft. Aber reicht das?

Kann es sein, dass wir in Griechenland, hier in Deutschland oder auch in Frankreich das Thema der sozialen Gerechtigkeit nicht richtig vorangetrieben haben?

Ich wundere mich, warum man nicht darüber spricht, dass der Mehrwert, den die Arbeiter schaffen, nicht dem gesellschaftlichen Ganzen zugutekommt. Und dass wir Arbeiter die Eigentümer des Kapitals sein müssen.

Auch wenn die Arbeiter kämpfen und einzelne Zugeständnisse erreichen, haben wir das Problem, dass die Macht des Geldes auf uns übergeht. Lasst uns diesen Gedanken vertiefen.

Überall wohin ich auf dieser Welt gereist bin, nach Belgien, Frankreich, Deutschland oder Luxemburg, frage ich die Leute immer: Was wollt ihr? Was beschäftigt Euch? Alle sagen mir: Ich will nicht, das andere über mich entscheiden können ohne mich zu fragen. Und meine Gegenfrage lautet: Was habt ihr gemacht für die Zukunft eurer Länder, Europas, der Welt? Ist das alles, was Du willst? Oder gibt es noch mehr?

Ich sage immer: das, was Du gerade sagst, ist nur die halbe Wahrheit. Was ist die andere Hälfte? Nicht nur, dass andere nicht über mich entscheiden, sondern dass ich selbst an der Macht, dort, wo die Entscheidungen getroffen werden, beteiligt bin.

Also, dass das Volk die Macht in die Hand nimmt. Wir in Griechenland haben damit angefangen. Wir fordern nicht, dass Ihr uns helft, wir fordern nicht Eure Solidarität. Wir fordern, dass Ihr das gleiche hier in Deutschland oder in Frankreich tut!

Liebe Freunde, liebe Genossen, wir fingen diese Veranstaltungen mit einer Forderung der Gewerkschaften an, dass die befristeten Verträge zerrissen werden sollten.

Ich fordere nicht einen Vertrag mit den Arbeitgebern, sondern einen Vertrag mit der Zukunft. Die Geschichte klopft an unsere Tür. Können wir sie hören oder nicht? Werden wir die Tür öffnen oder nicht? Denn die Zukunft gehört den Arbeitenden, sie gehört den Völkern und nicht den Kapitalisten!

Meine letzten Worte: Es kann sein, dass ich morgen sterbe, aber Ihr sollt sicher sein, ich werde Euch mein ganzen Leben, auch nach meinem biologischen Tod, verfolgen und Euch fragen: Was habt Ihr gemacht für die Zukunft Eurer Länder, Europas, für die Zukunft dieser Welt? Ihr werdet an diesen Moment immer denken, weil ich Euch nicht in Ruhe lassen werde!"

Manolis Glezos - er ist für immer gegangen. Die Unruhe, die er hinterlassen hat, wo immer er auftrat, bleibt. Lasst sie uns weitertragen - in Dankbarkeit.

*

Den Nachruf schrieb Rolf Becker für die Gruppe "Gegen Spardiktate und Nationalismus"

"Gegen Spardiktate und Nationalismus" - seit 2012 fahren wir, Kolleginnen und Kollegen aus verschiedenen Gewerkschaften und unterschiedlichen politischen Zusammenhängen, jährlich nach Griechenland und organisieren hierzulande Gegenbesuche und Veranstaltungen. Wir besuchen in Griechenland Betriebe, soziale Einrichtungen, Selbsthilfegruppen und Gewerkschaften, Gedenkstätten wie in Distomo und Lyngiades, verneigen uns vor den Opfern, denen die Mahnmale gewidmet sind, gemeinsam mit ihren Nachkommen, mit denen uns der Widerstand gegen Faschismus, Rassismus, Nationalismus und jegliche Art von Diskriminierung von Minderheiten innerhalb unserer Gesellschaften verbindet. Wechselseitiger Austausch als kleines Zeichen internationaler Solidarität. Zeichen der Verbundenheit im Widerstand von unten gegen die zunehmenden Angriffe von oben, die zur Ausplünderung und Verelendung ganzer Völker führen. Zeichen im Bemühen um ein politisch vereinigtes, friedliches und soziales Europa seiner arbeitenden und arbeitslosen Bevölkerungen statt eines Europas unter dem Diktat des Kapitals.

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Quelle:
© 2020 by Rolf Becker
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Juni 2020

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